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REZENSION/115: Molière - Le Tartuffe ou l'Imposteur (Französisch) (SB)


Molière


Le Tartuffe ou l'Imposteur



Da es die Aufgabe der Komödie ist, die Menschen zu bessern, indem sie dieselben belustigt, so habe ich geglaubt, in meiner Lebensstellung nichts Besseres tun zu können, als die Laster und Torheiten meines Jahrhunderts durch komische Spiegelbilder desselben anzugreifen. (Molière)

Im Gegensatz zu dem schon sprichwörtlichen eingebildeten Kranken, der hierzulande mindestens ein Begriff ist, wenn nicht sogleich an Molière denken läßt, bedarf die Komödie um den religiösen Heuchler Tartuffe in heutiger Zeit schon weiterer Erklärung.

Religiöser Eifer oder auch nur ein als ungewöhnlich intensiv empfundenes Engagement in dieser Richtung stößt heute in weiten Bereichen der westlichen Gesellschaft eher auf Mißtrauen als auf Bewunderung. Tartuffe war zwar seinerzeit das umstrittenste Stück Molières, jedoch nicht das einzige, daß aufgrund seiner gesellschafts- und religionskritischen Züge Anstoß erregte. In seinen hauptsächlichen Werken, zu denen man auch den in Versform verfaßten Fünfakter Tartuffe zählt, mischt Molière Situationskomik, Satire und Wortwitz mit belehrenden Aspekten und folgt damit nur zum Teil der zeitgenössischen Strömung seit Richelieus Theaterreform von 1630, die dem Theater eine moralisch-sittliche und gesellschaftliche Bildungsaufgabe zumißt. Er verbindet diese jedoch mit älteren komödiantischen Traditionen und spart hier, vermittelt über Witz und dramatische Elemente, nicht mit Kritik, die durchaus dem damaligen gesellschaftlichen Bildungsauftrag, wie man es heute nennen würde, widersprach.

Auch, wenn seine Anknüpfungspunkte uns heute ein wenig fremd erscheinen, wie die damalige Ständegesellschaft, trifft Molière nach wie vor den Punkt, der zum Lachen reizt. Man wird stutzig, erkennt dann wieder, sieht die grobe Überspitzung und kann lachen, weil die menschliche Problematik, die Molière in diesem Stück abhandelt, auch heute noch für uns verständlich ist. Es geht um Täuschung und Getäuschte, den Dummen und den Klugen, der auch nicht immer weiter weiß, also bekannte Konstellationen. Der Zuschauer oder in diesem Falle Leser kann sich darüber hinaus als der Überlegene, der Wissende fühlen und vermag sich so zum einen entlastet dem Thema zuzuwenden und kann zum anderen, weil es ihn ja nicht direkt betrifft und doch nur ein Schauspiel ist, befreit lachen.

In Konstellation und Aufbau ist Tartuffe als klassisches Moralstück recht überschaubar. Die handelnden Personen stehen nicht als Person für sich, sondern als Parabel im Dienste der Aussage. Mit ihrer Hilfe werden Täuschung und Heuchelei als umfassende Strategie in Ausdruck und Wirkung sowie ihrer Korrespondenz auf der anderen Seite herausgearbeitet. Tartuffe dient als Mittel, menschliche Schwächen zu demonstrieren und zur Erkenntnis zu führen, letztlich nimmt niemand wirklich Schaden. In die Form der Komödie gekleidet wird eigentlich Wahres erträglich und zugänglich. So kann Tartuffe zu der von Molière entwickelten neuen Form der Charakterkomödie gezählt werden, in der der Dichter überkommene und einer humanen Gesellschaft unangemessene Verhaltensweisen und Tendenzen thematisiert und ihnen das Konzept des gesunden Menschenverstandes - hier personifiziert in der Zofe Dorine - wie einer standesübergreifenden humanistischen Vernunft - hier als Schwager Cléante - entgegenstellt.

Der Zuschauer tritt in einem Moment in die Handlung ein, in dem sich der Heuchler Tartuffe schon fest in der Familie Orgons installiert hat. Orgon und seine Mutter befinden sich in seinem Bann, während der Rest der Familie und die gewitzte Zofe Dorine den Betrüger durchschauen. Diesen erleben wir zunächst nur in den Gesprächen und Äußerungen der übrigen Personen und erhalten darüber eine vollständige Charakterisierung, er selbst tritt erst im dritten Akt auf.

Mme Pernelle, die Mutter Orgons, die sich kritisch gibt, läßt an niemandem ein gutes Haar, außer an Tartuffe. Orgon seinerseits kehrt nach zweitägiger Abwesenheit ins Haus zurück, und auch sein Verhältnis zu dem Heuchler wird sogleich deutlich und bis ins Lächerliche karikiert. Während seine Frau Elmire die vergangenen Tage von einer Krankheit geplagt wurde, die ihn nicht im geringsten interessiert, findet er im Dialog mit Dorine, der Zofe seiner Tochter, für den sich völlenden und im Gegensatz zu der Kranken von nicht geringster Schlaflosigkeit getroffenen Schmarotzer Worte des Verständnisses und des Mitleids.

DORINE: Madame eut avant-hier la fièvre jusq'au soir Avec un mal de tête étrange à concevoir. ORGON. Et Tartuffe? DORINE. Tartuffe? Il se porte à merveille, Gros et gras, le teint frais, et la bouche vermeille. ORGON. Le pauvre homme!
[...]
DORINE. La nuit se passa tout entière Sans qu'elle pût fermer un moment la paupière; Des chaleurs l'empêchaient de pouvoir sommeiller, Et jusqu'au jour près d'elle il nous fallut veiller. ORGON. Et Tartuffe? DORINE. Pressé d'un sommeil agréable, Il passa dans sa chambre au sortir de la table, Et dans son lit bien chaud il se mit tout soudain, Où sans trouble il dormit jusques au lendemain. ORGON. Le pauvre homme!

So muß man sich nicht über den weiteren Verlauf wundern, in dem der verblendete Orgon völlig gegen die eigenen Interessen und vor allem die der übrigen Familie verstößt, verspricht er doch dem Betrüger die Hand der Tochter und vermacht ihm noch dazu sein gesamtes Vermögen. Keine noch so ausgefeilten Worte können ihn davon überzeugen, daß Tartuffe ihn hintergeht. Gleich, was man ihm zu Ohren bringt, er legt es zugunsten des Heuchlers aus und vermutet unehrliche Motive auf der anderen Seite. Als sein Sohn ihm aufgebracht von den lüsternen Annäherungsversuchen Tartuffes an Orgons zweite Frau Elmire berichtet, vermag ihn dieser mit zur Schau gestellter demütigster Reue über seine Sünde und Schwäche so zu rühren, daß der Hausherr den eigenen Sohn verstößt.

ORGON. Ce que je viens d'entendre, ô Ciel! est-il croyable? TARTUFFE. Oui, mon frère, je suis un méchant, un coupable, Un malheureux pécheur, tout plein d'iniquité, [...] Et comme un criminel chassez-moi de chez vous: Je ne saurais avoir tant de honte en partage, Que je n'en aie encor mérité davantage. ORGON. (à son fils). Ah! traître, oses-tu bien par cette fausseté Vouloir de sa vertu ternir la pureté? [...] ORGON. [...] Je te prive, pendard, de ma succession, Et te donne de plus ma malédiction.

Erst als seine Frau Elmire den Lüstling zu einem Stelldichein bittet, das ihr Mann unter dem Tisch belauschen soll, erkennt er seinen Fehler, als Tartuffe, der sich am Ziel seines Verlangens wähnt, die Maske fallen läßt.

TARTUFFE. Enfin votre scrupule est facile à détruire: Vous êtes assurée ici d'un plein secret, Et le mal n'est jamais que dans l'éclat qu'on fait; Le scandale du monde est ce qui fait l'offense, Et ce n'est pas pécher que pécher en silence.

Orgon stellt den Übeltäter, doch scheint der Ruin der Familie nun unabwendbar. Tartuffe hält es nun nicht länger für nötig, sich zu verstellen und droht Orgon, als er ihn des Hauses verweist. Denn dieser hat ihm in der Zwischenzeit in der Tat sein ganzes Vermögen vermacht. Darüber hinaus besitzt er eine Kassette des Hausherrn mit ihn inkriminierenden Papieren. So schickt er ihm nicht nur den Gerichtsvollzieher ins Haus, sondern kurz darauf wird auch noch ein Vertreter der Staatsgewalt angekündigt, der Orgon aufgrund der Papiere in Gewahrsam nehmen soll. Doch hat der Betrüger nicht mit der Weisheit des Königs gerechnet, und statt Orgons wird Tartuffe, der gekommen ist, um sich am Anblick der Unglücklichen zu weiden, verhaftet.

TARTUFFE. Quoi? moi, Monsieur? L'EXEMPT. Oui, vous. TARTUFFE. Pourquoi donc la prison? L'EXEMPT. Ce n'est pas vous à qui j'en veux rendre raison. Remettez-vous, Monsieur, d'une alarme si chaude. Nous vivons sous un Prince ennemi de la fraude, Un Prince dont les yeux se font jour dans les coeurs, Et que ne peut tromper tout l'art des imposteurs. [...]

Im Verlauf des Schauspiels stellen sich die von Orgon in seiner Verkennung vor den Kopf Gestoßenen und auch der aus dem Haus gejagte Sohn als treue Verbündete heraus. Während der eine ihm den Kopf zurechtrückt, als er sich vornimmt, künftig allen guten Menschen zu mißtrauen, der nächste ihn warnt und ihm mit Geld und Kalesche zur Flucht verhelfen will, sucht der Sohn, den Gerichtsvollzieher aus dem Haus zu werfen. So klären sich die Verhältnisse, und alles wendet sich zum Guten. Die Tochter kann nun ihren eigentlichen Verlobten heiraten und auch die Mutter, die bis zur Ankunft des Gerichtsvollziehers an eine Intrige gegen Tartuffe glaubte, wird schließlich überzeugt. Das Schlußwort hat Cléante, als Stimme der humanen Vernunft, der trotz allem zur Versöhnlichkeit aufruft und dem König Reverenz erweist.

ORGON (à Tartuffe). Hé bien! te voilà, traître ... CLÉANTE. Ah! mon frère, arrêtez, Et ne descendez point à des indignités; A son mauvais destin laissez un misérable, Et ne vous joignez point au remords qui l'accable: Souhaitez bien plutôt que son coeur en ce jour Au sein de la vertu fasse un heureux retour, Qu'il corrige sa vie en détestant son vice Et puisse du grand Prince adoucir la justice, Tandis qu'a sa bonté vous irez à genoux Rendre ce que demande un traitement si doux.

Daß dieses Schauspiel die Gemüter zum Zeitpunkt seiner Uraufführung so sehr erregte, daß es verboten wurde, scheint uns schwer verständlich. Heute sieht man den einzelnen Menschen mehr als den Einzelnen, der für seine eigenen Taten steht. Doch zu jener Zeit wurde die Darstellung des Tartuffe ganz richtig, also von Molière auch so gemeint, als Kritik an jenen Teilen der religiösen Kaste gesehen, die es wohl verstanden, ihren Gewinn aus dem Glauben anderer zu ziehen. Nicht gegen den Glauben richtete sich Molières Satire und Kritik, sondern gegen seinen Mißbrauch. So gesehen haben sich jene, die Autor wie Werk verfolgt haben, als Vertreter höchst fraglicher Interessen erwiesen. Auch wenn der Tartuffe der ersten Fassung - es gab ihrer drei und nur die letzte schließlich akzeptierte blieb erhalten - eine Soutane und der Übeltäter den Sieg davontrug, wie wohl auch in der zweiten, beweist Molière damit nur seinen Realismus. Und sicher gefährdete er damit in den Augen weiter Teile der Gesellschaft schon die öffentliche Ordnung, die neben staatlicher Gewalt auch auf einem festen Glauben an die Gottgegebenheit der Verhältnisse basierte. So verwundert der Erfolg der dritten Fassung, die der Staatsgewalt und der Weisheit des Königs huldigt, auch nicht weiter.

Zum weiteren Verständnis des Schauspiels empfiehlt es sich, auf jeden Fall das ausführliche Nachwort zu lesen, am besten sogar vor der Lektüre des eigentlichen Stückes, um ein Grundverständnis zu schaffen, denn leicht ist diese, trotz der für die Reclam-Ausgabe üblichen Vokabelhilfen, nicht. Weite Teile des Witzes können dem heutigen Leser entgehen, Partien unter Umständen einfach nur skurril wirken. Denkt man etwa daran, es in der Schule zu studieren, bedarf es schon eines erheblichen Engagements - nicht Zugeständnisses an moderne Unterrichtskultur - des Lehrers, um Schülern den Stoff, den Zeitgeist, die enthaltene Komik und die Kritik nahezubringen.

In Frankreich ist Molière nach wie vor der populärste und meistgespielte französische Klassiker, so kommt man an ihm, wenn man sich für die Sprache und Literatur des Landes interessiert, kaum vorbei.

Über Molières Leben bevor er zu größerer Bekanntheit gelangte, weiß man wenig. Mit bürgerlichem Namen Jean-Baptiste Poquelin, wurde er im Januar 1622 als ältester Sohn in eine wohlhabende und angesehene Pariser Kunsthandwerksfamilie geboren, Molière nannte er sich - zunächst ohne den Akzent - erst ab 1644. Nach dem Besuch eines Jesuitenkollegs soll er Philosophie und Jura studiert haben. Er war ein Freund des Dichters Cyrano de Bergerac und begegnete im Alter von 18 Jahren dem berühmten Komödianten Scaramouche, der ihn entscheidend prägen sollte und ihn, neben seiner späteren Lebensgefährtin, der Schauspielerin Madeleine Béjart, in seinem Entschluß, zum Theater zu gehen, bestärkte. Nachdem er sich endgültig vom Gewerbe seines Vaters ab und dem Theater zunächst als Schauspieler zugewendet hatte, ließ er sich 1643 das mütterliche Erbe auszahlen und wurde gemeinsam mit Madeleine und ihren Geschwistern zum Begründer des "Illustre Théatre", einer Schauspielertruppe, die jedoch vergeblich versuchte, sich in Paris zu etablieren. 1645, nach vollständigem Scheitern in Paris, schloß man sich für viele Jahre einer fahrenden Truppe an. Schon damals scheint Molière die ersten Bourlesken und Possen selbst geschrieben zu haben, im wesentlichen spielte man jedoch andere zeitgenössische Stücke, z.B. Corneille. Seit 1652 deren Leiter kehrte Molière 1658 mit der Truppe nach Paris zurück. Dort verschaffte ihnen seine Farce "Der verliebte Doktor" einen ersten nachhaltigen Erfolg vor König Ludwig XIV.

Mit der Hilfe des Königs gelang es ihm nun endlich, in der Hauptstadt Fuß zu fassen, und er machte als Schauspieler wie als Theaterautor und -direktor Karriere. 1959 erlebte er mit seinem Stück "Die lächerlichen Preziösen", das eine ethisch-ästhetische Bewegung seiner Zeit in ihren Ausuferungen karikiert, seinen ersten handfesten Theaterskandal. Das satirische Stück wurde kurzzeitig abgesetzt, dann aber mit durchschlagendem Erfolg wieder zur Vorstellung gebracht. Molière hatte sich etabliert. "Die Schule der Frauen" hingegen bescherte Paris einen Skandal, der sich in Form eines Streits und Wettstreits zwischen Autoren, Schauspielern und Zuschauern über zwei Jahre erstreckte. Der König war von dem Stück begeistert. Ab 1663 setzte Ludwig XIV Molière eine jährliche Gratifikation für seine literarischen Verdienste aus, wurde 1664 gar der Pate von Molières Sohn mit Armande Béjart, die dieser 1662 geheiratet hatte, und stellte die Truppe ab 1665 als "Troupe du Roi" offiziell in seine Dienste. Aus dieser ging 1680 die berühmte Comédie Française hervor.

Die erste Fassung des Tartuffe erlebte am 12.5.1664 in Versailles ihre Uraufführung; weitere Präsentationen wurden, wie bereits erwähnt, zunächst verboten. Kirchliche Kreise und mit ihnen die Königinmutter beschuldigten den Dichter der Gotteslästerung und der libertären Geisteshaltung - eine für Autoren nicht gerade ungefährliche Anschuldigung, war doch gerade einer von ihnen aus dem Grunde verurteilt und gehenkt worden. König Ludwig sah sich gezwungen, das Stück zu verbieten, half Molière jedoch weiterhin. Nach dem entscheidenden Skandal erschienen gemäßigtere Stücke wie "Der Geizige" oder "Der Menschenfeind", die kaum Schaden anrichten konnten. 1669 wurde dem Publikum dann die endgültige Fassung des Tartuffe vorgestellt, die mit Unterstützung des Königs nun auf dem Spielplan bleiben konnte und sich wachsender Beliebtheit erfreute.

Für Hoffeste verfaßte Molière einige Ballettkomödien gemeinsam mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully, der sich jedoch später mit ihm so entzweite, daß er sogar sein Ansehen vor dem König hintertrieb. Im Februar 1673 fand die Uraufführung von "Der eingebildete Kranke" statt. In der Rolle des "Kranken" erlitt Molière während der vierten Aufführung der Komödie auf der Bühne einen Blutsturz und starb noch in derselben Nacht (17.2.1673). Zunächst wurde ihm sogar ein ordentliches Begräbnis verweigert, er erhielt es auf Betreiben des Königs aber schließlich dennoch, wenn auch in der Stille der Nacht, ohne das Läuten der Glocken.

Die schönsten Moralpredigten haben sehr oft weniger Kraft als eine Satire. Nichts nimmt Menschen mehr mit als eine leibhaftige Beschreibung ihrer Fehler. Laster haben es gar nicht gern, vor aller Welt schallendem Gelächter preisgegeben zu werden. Man läßt sich lieber tadeln als verspotten. (Molière)


Molière
Le Tartuffe ou l'Imposteur
Comédie en cinq actes
Herausgegeben von Helga Zimmermann
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2001
Universal-Bibliothek - Fremdsprachentexte Französisch
131 Seiten, 3,10 Euro
UB 9087, ISBN 3-15-009087-3