Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/152: T. Reinhart - Operation Dornenfeld (Israel-Palästina) (SB)


Tanya Reinhart


Operation Dornenfeld

Der Israel-Palästina-Konflikt: Gerechter Frieden oder endloser Krieg



Der Titel des im Dezember 2002 erschienenen Buches "Operation Dornenfeld" von Tanya Reinhart geht auf eine Planung der israelischen Militärführung zurück, die die noch wirksamere Unterdrückung des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besatzungspolitik zum Ziel hat. Angesichts der im wortwörtlichen Sinne atemberaubenden Härte des in den Palästinensergebieten herrschenden Okkupationsregimes handelt es sich dabei nicht um ein bloßes Strategiespiel, das die Schreibtischschublade nie verlassen sollte, sondern ein langfristig geplantes Szenario der schrittweisen Einengung des Handlungs- und Bewegungsraums der Palästinenser.

Der Plan wurde durch den US-Militärexperten Anthony H. Cordesman vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) an die Öffentlichkeit gebracht und im deutschsprachigen Raum durch den Schweizer Analytiker Shraga Elam bekannt gemacht. Die an der Universität Tel Aviv lehrende israelische Linguistin Reinhart beruft sich bei der Darstellung dieses Konzepts hauptsächlich auf die Publikationen Elams, demzufolge die israelische Armee schon kurz nach Abschluß des Oslo-Abkommens "Pläne für den Fall einer Wiederbesetzung der Gebiete, die bereits an die PA übergeben worden waren", ausgearbeitet hatte:

"Der Plan 'Dornenfeld' wurde 1996 anhand von Simulationen und Probemanövern entwickelt und getestet. Während der Verhandlungen in Camp David im Juli 2000 änderte die israelische Armee ihre Übungspläne. Diese sahen nun statt einer Sicherheitsoperation mit Polizeicharakter einen großangelegten Militäreinsatz vor, für den sämtliche Einheiten ein spezielles Kampftraining zur Aufstandsbekämpfung erhalten. Der Codename dieser Operation, die vom Szenario eines Konflikts niederer Intensität ausging, war 'Zaubermelodie'. Die Vorbereitungen auf den schlimmsten anzunehmenden Fall erhielten den Codenamen 'Ferne Welt'. 'Dieser Plan sieht die gewaltsame Einnahme palästinensischen Territoriums durch israelische Streitkräfte und die Schaffung einer Militärverwaltung vor, falls die Situation ein derartiges Vorgehen erfordern sollte'".

Während der angebliche worst case dem israelischen Offizier David Eshel, der für den letzten Satz des Zitates Elams verantwortlich zeichnet, zufolge in einer Wiederbesetzung der autonom verwalteten Palästinensergebiete besteht und Reinhart eine Vielzahl von Belegen für die Absicht hochrangiger israelischer Militärs aufbietet, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zu zerschlagen und ihre Polizeikräfte sowie die paramilitärischen Palästinensermilizen zu entwaffnen, verweist sie auch auf die in der israelischen Generalität kursierenden Formel "die zweite Hälfte von 1948", um eine noch bedrohlichere Variante der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern anzudeuten:

Der Subtext dieser Formulierung besagt, daß die Lösung der Krise vielleicht auch diesmal so ähnlich aussehen sollte wie 1948. Wie bereits erwähnt, hat die israelische Armee 1948 Hunderttausende von Palästinensern aus ihren Ortschaften vertrieben und den verbliebenen Rest in geschlossene Sperrbezirke gesteckt, die jahrelang unter Militärverwaltung standen. Angesichts dessen drängt sich der Schluß auf, daß die führenden militärischen und politischen Kreise in Israel, die diese Parallele in Umlauf gebracht haben, immer noch glauben, daß 'die zweite Hälfte' - die Vervollständigung der 1948 begonnenen ethnischen Säuberung - sowohl notwendig aus auch möglich ist.

Reinhart entwirft im weiteren Verlauf des Buches, das auf ihrem Manuskript "The Second Half of 1948" beruht und für die deutsche Ausgabe bis zum Stand August 2002 erweitert und aktualisiert wurde, das Bild einer israelischen Führung, die in zwei Lager zerfallen sei. Während die um die letzten Vertreter der Gründergeneration des Staates Israel und dabei vor allem Ministerpräsident Ariel Sharon gescharten Hardliner eine kompromißlose Annexionspolitik favorisieren, in deren Rahmen auch umfassende Vertreibungen vorstellbar wären, vertreten die eher aus der Arbeitspartei stammenden Befürworter einer Friedenspolitik nach dem Modell der Oslo-Verträge eine Koexistenz mit den Palästinensern im Sinne einer Apartheid-Lösung. Die Autorin selbst gibt sich als Vertreterin jener für israelische Verhältnisse radikal zu nennenden Friedensaktivisten zu erkennen, die für den sofortigen Rückzug der israelischen Truppen und Siedler aus dem gesamten Gazastreifen und dem allergrößten Teil des Westjordanlands zugunsten einer Koexistenz eintreten, bei der den Palästinensern ein tatsächlicher Staat und nicht bloß eine als solcher bezeichnete Fassade zugestanden werden sollte.

Auch wenn man den optimistischen Ausblick der Autorin, die dem Kreis israelischer und palästinensischer Aktivisten, die für eine grundlegende Aussöhnung mit der jeweils anderen Seite streiten, einiges Gewicht zuweist, gerne teilen möchte, so liefern gerade die ihrem Buch zu entnehmenden Belege für die Eroberungsabsichten und Unterdrückungsmethoden zionistischer Generäle und Politiker wenig Anhaltspunkte für eine Verwirklichung dieser Hoffnung. So ist "Operation Dornenfeld" nur ein Beispiel für die programmatische Selbstherrlichkeit einer kolonialistischen Politik, die ihre Opfer zu einem Leben voller Entbehrungen und Gefahren verurteilt.

Reinhart führt unter Bezugnahme auf Cordesman und Elam "die 'selektive Zerstörung hochwertiger palästinensischer Einrichtungen' und den 'Einsatz der israelischen Kontrolle über Wasser, Elektrizität, Kommunikation und den Zugang zu den Straßen, um den Umfang und die Dauer der Aktionen der Palästinenser zu beschränken'" als bereits umgesetzte Vorgaben dieses Plans an, der wohl auch bei der berüchtigten "Operation Schutzschild" Pate gestanden hat. Die Autorin beschreibt die unter diesem Namen den gesamten April 2002 durch erfolgenden Angriffe auf die palästinensischen Autonomiegebiete, die zu einer weitreichenden Zerstörung der Einrichtungen der PA führten und ihren Höhepunkt an menschenfeindlicher Aggressivität im völligen Niederreißen eines Teils des Flüchtlingslagers Jenin im Westjordanland fanden, als ein Verbrechen, dessen ganzes Ausmaß bis heute kaum bekannt gemacht wurde.

Die konkreten Folgen der israelischen Besatzungspolitik dokumentiert Reinhart mit einer Chronik der zentralen Wegmarken der Intifada, einer besonders aufschlußreichen, da die meist unterschlagene Zahl der palästinensischen Verletzten und die sie bedingende Taktik der israelischen Aufstandsbekämpfung enthaltenden Darstellung des palästinensischen Blutzolls sowie einer Analyse des Gaza-Jericho-Abkommens aus dem Jahre 1994, die einen erschreckenden Einblick in die ghettoartigen Verhältnisse im Gazastreifen gewährt. Es sind jedoch vor allem die Geschichte der israelisch-palästinensischen Verhandlungen und die Analyse der Strategie, die die maßgeblichen Akteure auf israelischer Seite zur Durchsetzung ihrer Absichten verfolgen, die den besonderen Wert des Buches für den an diesem komplexen Thema interessierten Leser ausmachen.

So vermittelt Reinhart einen ernüchternden Blick auf die Denkungsart der ehemaligen Generäle Ehud Barak und Ariel Sharon, die die israelische Politik gegenüber den Palästinensern nicht erst seit ihrer Amtszeit als Ministerpräsidenten dominieren. Die Autorin belegt den hochgradigen Einfluß, den das Militär auf die Entscheidungen der israelischen Regierung nimmt, und erklärt, auf welchen historischen Voraussetzungen eine Annexionspolitik beruht, die sich allen Verhandlungsinitativen und Vermittlungskonzepten gegenüber als wesentliche Konstante im Umgang mit dem palästinensischen Anspruch auf einen eigenen Staat in den Grenzen von 1967, wie durch UN-Resolution 242 verfügt, erweist.

Von besonderem Belang für die moralische Legitimation der israelischen Besatzungspolitik ist der Mythos um die angebliche Kompromißbereitschaft ihrer Protagonisten und die palästinensische Verweigerungshaltung, der die Verhandlungen von Camp David im Juli 2000 nach wie vor umweht. Da Reinhart mit dieser Propaganda gründlich aufräumt, wäre das Buch all jenen Journalisten dringend zur Lektüre anempfohlen, die heute noch behaupten, bei diesem von US-Präsident Clinton als krönender Schlußstein seiner außenpolitischen Erfolgsbilanz eingeplanten Treffen habe der damalige israelische Ministerpräsident Barak Palästinenserpräsident Arafat ein überaus großzügiges Angebot gemacht, das dieser leichtfertig ausschlug, um kurz darauf die Intifada zu entfachen und Israel praktisch in die Position eines belagerten Staates zu manövrieren. Die Autorin weist umfassend und im Detail nach, daß dieser Mythos keinesfalls der Realität entspricht, sondern das Baraksche Angebot, sofern es überhaupt explizit unterbreitet wurde, in einer Mogelpackung bestand, die den Palästinensern nur einen Bruchteil des Gebietes überlassen hätte, auf das sie historischen wie völkerrechtlichen Anspruch haben.

Nicht minder lesenswert ist Reinharts Analyse über die Friedensverhandlungen zwischen Israel und Syrien, die im Dezember 1999 ebenfalls auf Betreiben Clintons aufgenommen wurden und im März 2000 für gescheitert erklärt wurden. Es darf wohl als Beleg für die Weitsicht der Autorin bezeichnet werden, daß sie der offensiven israelischen Politik gegenüber Syrien viel Raum gibt, ist dieses Thema doch gerade jetzt von besonderer Aktualität.

Mit Reinharts Darstellung der verschiedenen diplomatischen Initativen und der so akkurat belegten wie transparent gemachten Daten der dabei zur Debatte stehenden Verhandlungsmasse lassen sich auch künftige Entwicklungen wie etwa die jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehende Road Map des Nahost- Quartetts hinsichtlich des tatsächlichen Ausmaßes erfolgter Zugeständnisse beurteilen. Ohne den größeren Kontext der hegemonialen Ambitionen der USA in der Region und der mit dem angloamerikanischen Sieg über den Irak kräftig zugunsten Israels verschobenen Gewichte im Nahen Osten sind die machtpolitischen Bedingungen des speziellen Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis jedoch weniger denn je zu begreifen. Die Falken in Washington wie Tel Aviv wittern eine historische Chance zur Etablierung unumkehrbarer Gewaltverhältnisse gegenüber der arabischen Welt, und auch wenn die für den Irakkrieg vermutete Vertreibung der Palästinenser aus ihren Gebieten nicht stattgefunden hat, ist die Gefahr, daß dies etwa im Rahmen eines Feldzugs gegen Syrien und den Libanon erfolgt, nicht gebannt.

Tanya Reinhart gehört zu der kleinen Zahl israelischer Intellektueller, die nach wie vor im Einklang mit dem Völkerrecht attestieren, daß "die Legitimität des palästinensischen bewaffneten Kampfes außer Zweifel" steht. Die von ihr aufgeworfene Frage, "ob die Entscheidung [der Palästinenser], auf Waffengewalt zurückzugreifen, klug war", beantwortet sie mit der ungünstigen Prognose eines Kampfes gegen einen übermächtigen Gegner negativ:

Meiner Ansicht nach grenzt der Einsatz von Waffen durch die palästinensische Seite unter den gegenwärtigen Bedingungen eines derart ungleichen Kräfteverhältnisses an Selbstmord. Eine schwache Nation in einen hoffnungslosen Krieg hineinzuziehen, war schon immer der leichteste Weg zu ihrer Vernichtung. Eine ganze Generation junger Palästinenser geht in einer verzweifelten Schlacht hinter Gefängnismauern zugrunde, während der größte Teil der palästinensischen Bevölkerung - Frauen, Studierende und gewöhnliche Zivilbevölkerung - mehr und mehr vom Kampf ausgeschlossen wird. Sie können jetzt nur noch in ihren belagerten Häusern auf die nächste Kollektivbestrafung durch die israelische Armee warten.

Die von der Autorin so profunde geschilderte Zwangslage der Palästinenser wirft allerdings die Frage auf, wie man sich ihr mit anderen Mitteln als einem aus der Aussichtslosigkeit geborenen Widerstand erwehren könnte. Eine Kapitulation im Vorwege zementierte den Status eines Lebens in Entbehrung und Unterdrückung, scheinen Aggressoren und Okkupanten doch nur eine Sprache, nämlich die der Gewalt, zu sprechen und zu verstehen. Sie im Erfolg ihrer Strategie durch das jeder ernsthaften Auseinandersetzung vorauseilende Eingeständnis eigener Ohnmacht zu bestätigen könnte bedeuten, auf jede Möglichkeit emanzipatorischer Entwicklung zugunsten der Akzeptanz eines Lebens als Manövriermasse des kapitalistischen Verwertungsbetriebs und Almosenempfänger des globalen Krisenmanagements zu verzichten.


Tanya Reinhart
Operation Dornenfeld
Der Israel-Palästina-Konflikt
Gerechter Frieden oder endloser Krieg
Atlantik-Verlag, Bremen, 2002