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REZENSION/177: Joseph Croitoru - Der Märtyrer als Waffe (SB)


Joseph Croitoru


Der Märtyrer als Waffe

Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats



Wenn Menschen wissentlich in den Tod gehen und dabei andere absichtlich mit sich reißen, ist das ein in jeder Hinsicht spektakuläres Phänomen. Selbstmordattentate sind im militärischen Sinne besonders bedrohlich, da einem Gegner, der sein Leben unwiederbringlich in die Waagschale wirft, um möglichst großen Schaden anzurichten, alles zuzutrauen ist. In menschlicher Hinsicht werfen sie Fragen an die persönlichen Beweggründe der Täter auf, die sich nicht ohne weiteres mit Psychologismen beantworten lassen, wenn man die verschiedenen Attentate und ihre Urheber genauer in Augenschein nimmt. Schließlich sind Selbstmordanschläge hinsichtlich einer politischen Bewertung ihrer Legitimität als Waffe äußerst prekär, da sie ein zentrales Mittel jener schattenhaften Kräfte darstellen, denen der Krieg gegen den Terrorismus gewidmet ist, während sie ebenso in militärischen Konflikten zwischen Staaten, zwischen Befreiungsbewegungen und Besatzungsmächten wie in Bürgerkriegen zum Einsatz gelangen.

Das Thema ist also publizistisch äußerst attraktiv, und wer sich wie der Journalist Joseph Croitoru vorgenommen hat, "die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats" aufzudecken, der hat sich keine leichte Aufgabe gestellt. Der 1960 in Israel geborene und seit 1988 in Deutschland tätige Autor widmet sich seinem Gegenstand auf quasi objektorientierte Weise, das heißt er löst das spezifische Phänomen der mit dem absehbaren Tod des Urhebers verbundenen Anschläge weitgehend aus dem Kontext der politischen, militärischen und sozialökonomischen Bedingungen des jeweiligen Konflikts, um eine ganz bestimmte Entwicklungslinie nachzuzeichnen. Croitoru belegt seine These, derzufolge es eine Verbindung zwischen der Kamikaze-Taktik der japanischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg und heutigen Selbstmordattentätern aus dem islamischen Kulturkreis gibt, zwar mit einer Fülle an Material, doch die eigentlichen Bindeglieder, mit denen er eine Art Internationale der Selbstmordattentäter konstituiert, wirken dennoch etwas willkürlich miteinander verknüpft.

Der für FAZ und NZZ schreibende Croitoru ist jedoch seriös genug, um den Bereich des Spekulativen durch die Verwendung des Konjunktivs und anderer relativierender Ausdrucksmittel eindeutig zu kennzeichnen. Die von ihm aufgezeigten Verbindungen zwischen militanten japanischen Revolutionären, nordkoreanischen Experten für militärische Selbstmordeinsätze, palästinensischen Befreiungskämpfern aus dem säkular-linken wie dem religiös- fundamentalistischen Lager, schiitischen Hizbullah-Milizen im Südlibanon, algerischen GIA-Islamisten, kurdischen PKK-Rebellen, tschetschenischen Wahhabiten, tamilischen Befreiungstigern und Al-Qaida-Attentätern mögen im einzelnen durchaus vorhanden sein. Die das Buch bestimmende These, die Technik des Selbstmordanschlags und der Wille zu derartigen Opfergängen schüfen bereits genügend Gemeinsamkeiten, um die häufig illegal operierenden oder zumindest unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden ihrer jeweiligen Staaten stehenden Organisationen in einem zwar vielfältig verästelten, aber dennoch über eine gemeinsame Wurzel verfügenden Entwicklungsstrang zusammenzufassen, erscheint jedoch gewagt.

Daß Croitorus Konstruktion einer weltweiten Gemeinschaft von Selbstmordattentätern, die ebenso voneinander lernen, wie man auf wirksamste Weise Anschläge vollzieht, als daß sie sich gegenseitig in der Grausamkeit ihrer Taten zu übertrumpfen suchen, ideal mit den gängigen Vorstellungen der staatlichen Sicherheitsbehörden und freischaffenden Terrorismusexperten harmonieren, muß keine Gewähr für ihre Stichhaltigkeit sein. So hat er die Quellen seiner Ausführungen zwar in aller Ausführlichkeit dokumentiert, doch ist deren Validität aufgrund des verdeckten Charakters des subversiven Kampfes, der zwischen religiösen Fanatikern, linksradikalen Aktivisten, ethnisch-nationalistischen Rebellen und den Geheimdiensten diverser Staaten, mit denen die irregulären Kombattanten im Kampf liegen, in deren Auftrag sie aber auch Anschläge vollziehen können, nicht selbstredend gegeben.

So schließt sich der Autor mit seiner Darstellung der Anschläge des 11. September 2001 ohne Abstriche der Version der US-Regierung an, wiewohl die vielen Widersprüche, die an dem regierungsamtlichen Tathergang bereits aufgezeigt wurden, geböten, daraus gezogene Schlußfolgerungen mit einem Fragezeichen zu versehen. Inwiefern es sich bei den einzelnen Angaben Croitorus zu Organisationen wie Al-Qaida um Desinformation interessierter Kreise handeln könnte, bleibt ebenso unklar wie seine Bewertung des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besatzungspolitik fragwürdig. So läßt seine These, die palästinensischen Islamisten hätten den vom Osloer Abkommen ausgehenden Friedensprozeß zerstört, außer Acht, daß es neben ihren Anschlägen aufgrund von Israel nichteingehaltener Vereinbarungen, der immer schlechter werdenden ökonomischen Lage in den Palästinensergebieten und der brutalen Vorgehensweise der Palästinensischen Autonomiebehörde, die es übernommen hatte, die ungünstigen Bedingungen dieses Abkommens gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen, auf palästinensischer Seite generell immer weniger Bereitschaft gab, sich den von der israelischen Regierung eingeforderten Konditionen zu beugen.

Croitoru verschweigt keineswegs, wie sehr die Palästinenser unter der israelischen Besatzung zu leiden haben und wie ungünstig die Bedingungen waren und sind, unter denen sie einem Friedensschluß mit Israel zustimmen sollen. Letztlich obsiegt jedoch eine zwar liberale, aber nichtsdestotrotz israelische Sicht der Dinge, die das individuelle Leiden der Palästinenser ebenso geringschätzt wie die politischen Implikationen einer Konfrontation, die sich nicht auf den Konflikt im Westjordanland und Gazastreifen beschränkt, sondern mehr denn je von den Hegemonialambitionen der US-Regierung im Nahen und Mittleren Osten überwölbt wird. Auch sein Versuch, den Erfolg der schiitischen Hizbullah-Miliz, den Abzug der israelischen Besatzungstruppen aus dem Südlibanon erzwungen zu haben, durch die Aussage zu mindern, daß dieser ohnehin geplant gewesen wäre, weist den Autor als Apologeten der israelischen Vorherrschaft aus. Hätte es keinerlei Widerstand gegen die Besetzung des grenznahen Teils des Libanons gegeben, dann würde die sogenannte Sicherheitszone bis heute zumindest von den libanesischen Sachwaltern Israels kontrolliert werden.

Der Versuch, eine spezifische Historie der Selbstmordattentate zu verfassen, setzt eine trennscharfe Abgrenzung zu sogenannten Himmelfahrtskommandos und militärisch riskanten Operationen, bei denen den eingesetzten Soldaten zumindest eine geringe Überlebenschance bleibt, voraus, die eine intensive Beachtung des suizidalen Charakters dieser Form der Gewaltanwendung notwendig erscheinen läßt. Croitoru schließt sich der gängigen Auffassung an, derzufolge die Motivation der Attentäter entweder aus einer massiven ideologischen Manipulation entspringt, wie sie vor allem am Beispiel der japanischen Kamikaze-Taktik sichtbar wird, oder vom Glauben an eine bessere Existenz im Jenseits gespeist wird. Im Zweifelsfalle bewirken äußerer Druck und irrationale Hoffnung gemeinsam, daß sich meist junge Menschen für eine Sache in den Tod stürzen, die nur bedingt die ihre sein kann, wenn es sich etwa um die Durchsetzung nationaler Interessen handelt.

Weitgehend abwegig scheint dem Autor die Vorstellung zu sein, daß es sich zumindest bei einigen Attentätern um Menschen handeln könnte, deren Leidensdruck so groß ist, daß sie ihr Leben ohne Vorbehalte zur Überwindung jener politischen Umstände einsetzen, die sie als Ursache ihrer Misere ausmachen. Dabei gibt es durchaus Anhaltspunkte dafür, daß die Motivation von Attentätern, die ihre Tat wissentlich und kalkuliert mit dem Leben bezahlen, sehr persönlicher Natur sein kann. So antwortete der in Deutschland lebende arabische Friedensaktivist Magdi Gohary im Gespräch mit der Wochenzeitung Freitag (Ausgabe vom 19. September 2003) auf die Frage "Was denkt ein Selbstmordattentäter?":

Ich verfüge über mein Leben und kann es einsetzen, dagegen hast du Übermächtiger keine Waffe. In den wenigen Sekunden, bevor ich auf den Knopf drücke, bin ich mächtiger als du. Vorher nicht und nachher interessiert es mich nicht mehr. Du kannst mir jeden Tag vorführen, dass ich der letzte Dreck bin, aber ein einziges Mal bin ich mächtiger als du. Das ist die Botschaft. Es gibt eine neue Qualität der asymmetrischen Auseinandersetzung in der Welt von heute.

Im Januar 2002 setzte die 27jährige Palästinenserin Wafa Idris ihrem Leben in einem blutigen Fanal, bei dem ein Mann starb und diverse Passanten verletzt wurden, auf der Jaffa Road in Jerusalem ein Ende. Es handelte sich um eine Frau, die schon als Jugendliche an der ersten Intifada teilnahm und die bei der zweiten Intifada als Mitarbeiterin des Roten Halbmonds häufig auf Demonstrationen zugegen war, bei denen sie zweimal durch gummiummantelte Metallgeschosse verletzt wurde. Der britischen Tageszeitung The Guardian zufolge war sie äußerst belesen und interessiert an Politik, gleichzeitig jedoch stark mitgenommen von dem, was sie als Notfallhelferin während der Proteste erleben mußte. So berichtete ihre Schwägerin Wissam Idris, Wafa habe sehr darunter gelitten, daß so viele Frauen, Kinder und Männer während der Intifada getötet und verstümmelt wurden. Schließlich sei die Frau, die Wissam Idris als besonders hilfreich und lebensfroh darstellt, immer zorniger geworden. Dazu soll auch beigetragen haben, daß sie von israelischen Soldaten an einem Checkpoint, an dem sie mit ihrem Krankenwagen halten mußte, geschlagen und schließlich zwei Monate vor ihrem Anschlag von einer Kugel am Bein getroffen wurde, was ihrem Bruder Khalil zufolge sehr schmerzhafte Folgen gehabt habe.

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery wies am 28. Januar 2002 im Deutschlandfunk darauf hin, daß ein solcher Einsatz keineswegs allein religiösem Fanatismus geschuldet sei, sondern der Aussichtslosigkeit einer Bevölkerung entspringe, die sich nicht mehr anders als auf diese Weise zu helfen wisse:

Man muß sich dabei fragen, gerade bei diesem Anschlag, was für eine Situation ist das, wenn Hunderte, vielleicht Tausende von Menschen, darunter Leute mit Familien, mit Kindern, jetzt auch Studentinnen, bereit sind, ihr Leben in einem Selbstmordakt aufzugeben? Was für eine Situation, was für eine Verzweiflung muß bei den Palästinensern herrschen, damit so etwas überhaupt möglich ist? Das sind keine Fanatiker mehr. Das sind einfache Leute aus allen möglichen Berufen, die eines Morgens aufstehen und sagen, es hat kein Zweck mehr, es macht keinen Sinn, so ein Leben zu führen, ich bin bereit, mein Leben zu opfern.

Beweggründe wie diese, die eher auf eine radikale Diesseitigkeit denn eine perspektivische Jenseitigkeit schließen lassen, kommen bei Croitorus ausführlicher Darstellung der Selbstmordattentate im Südlibanon, in Palästina und Israel im Verhältnis zur Schilderung ihrer organisatorischen Hintergründe und des unterstellten internationalen Zusammenspiels der damit befaßten Gruppen zu kurz. Sie lassen erkennen, daß das Problem möglicherweise weit umfassender ist, als es die Reduzierung des Phänomens der Selbstmordattentate auf ein terroristisches Vergehen erscheinen läßt. Während das Problem des Terrorismus aus zweckdienlichen Gründen gerne übertrieben wird, stellt die Verwandlung von Menschen in Waffen eine immense Herausforderung nicht nur für die Sicherheitsbehörden, sondern die internationale Politik überhaupt dar. Die Linderung existentieller Notlagen wie die Behebung ethnischer, religiöser und territorialer Konflikte wären weit wichtiger als die monolithische Logik militärischer Mittel, die, wie etwa der Fall des Iraks zeigt, geradezu das Gegenteil dessen erzeugen können, was sie angeblich zu beseitigen trachten.

Croitorus Buch ist über große Strecken spannend zu lesen und bietet eine Fülle interessanten Materials insbesondere zum Thema der japanischen Kriegsführung und ihrer ideologischen Grundlagen sowie der Wirkung, die dieses Beispiel von soldatischem Einsatz ohne Rücksicht auf die eigene Person auf das NS-Regime gehabt hat. Seine Herangehensweise ist differenzierter als die vieler sogenannter Terrorismusexperten, weist jedoch einen Hang zur opportunistischen Abstraktion auf, der der sozialen und politischen Komplexität des Phänomens nur bedingt gerecht wird. So müssen immer wieder angeführte Gemeinsamkeiten im Feindbild potentieller Attentäter wie etwa die Absicht, Angriffe auf die Stadt New York durchzuführen, nicht nur fanatischen Dispositionen geschuldet sein, sondern können auch etwas mit der besonderen Rolle der USA als sogenannter Weltpolizist zu tun haben. Das gilt auch für die von Croitoru im Fazit des Buches betonte systematische Nutzung dieses Gewaltmittels im arabisch-islamischen Kulturraum - der asymmetrische Charakter der modernen Kriegführung ist nicht nur einem schillernden Phänomen wie Al Qaida geschuldet, das wie viele militante islamistische Organisationen im Kampf gegen säkulare sozialistische Regierungen und Parteien zu einem weltpolitischen Faktor wurde, dem nach wie vor der Verdacht einer Instrumentalisierung durch nichtislamische Kräfte für deren eigene geostrategische Ziele anhaftet, sondern auch der Brutalität einer Kriegführung wie der amerikanischen, die mit Overkill-Feuerkraft und Hungerblockaden unermeßliches Leid erzeugt hat.

Für die Diskussion zum Thema des Krieges gegen den Terrorismus im allgemeinen und des Nahostkonflikts im besonderen lohnt die Lektüre jedoch allemal, da man davon ausgehen kann, daß Croitorus Analyse der Sichtweise vieler Entscheidungsträger in Staat und Gesellschaft sowie natürlich der mit Selbstmordanschlägen befaßten Sicherheitsbehörden entspricht.


Joseph Croitoru
Der Märtyrer als Waffe
Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats
Das Buch ist im September 2003
im Carl Hanser Verlag, München, 2003
304 Seiten, 20,50 Euro
ISBN 3-446-20371-0