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REZENSION/180: Girschner - Die Dienstleistungsgesellschaft (Marx) (SB)


Christian Girschner


Die Dienstleistungsgesellschaft

Zur Kritik einer fixen Idee



Seit einiger Zeit regiert in Deutschland faktisch eine Große Koalition, deren Vertreter im sogenannten Vermittlungsausschuß eine sozialstaatliche Errungenschaft nach der anderen dem nimmersatten Reißmaul der Globalisierung opfern. Im Zuge dessen wird dann auch die kleine Schar an "Rest-Genossen", welche die Feigenblattfunktion der Sozialdemokratie übernommen haben, zurechtgestutzt. Unverdrossen verkünden Politiker, in der modernen Gesellschaft könne jeder seines Glückes Schmied sein, was in typisch neusprachlich akronymisierter Form als "Ich-AG" propagiert wird. In diesem nur als zynisch zu bezeichnenden politischen Konzept zur maßlosen Selbstausbeutung soll der sogenannte Tertiäre Sektor, die Dienstleistungsarbeit, zu einem innovativen Wirtschaftsfaktor werden, ja, einer Pauschallösung für die hohe Arbeitslosigkeit.

Wolf-Michael Catenhusen, Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), sprach sicherlich für die Mehrheit der Mitglieder von Regierung und Opposition, als er am 10. Dezember 2003 zur Eröffnung der 5. Dienstleistungstagung des BMBF in Berlin erklärte:

Dienstleistungen sind der Motor für wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung. Mit der Dienstleistungsforschung leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. (...) Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft erfolgt keineswegs automatisch. Die systematische Entwicklung von Service und Dienstleistungen ist unabdingbar.

Angesichts des hier beispielhaft zitierten breiten gesellschaftspolitischen Konsenses, wonach die gegenwärtige wirtschaftliche Schwäche Deutschlands vor allem durch die Förderung des Dienstleistungssektors zu beheben sei, muß von vornherein jeder Beitrag begrüßt werden, der sich um Aufklärung darüber bemüht, daß die Lösung der Krise vor allem auf eine umfassendere Überantwortung der Bevölkerung an die Zwänge der Produktion hinausläuft. Unter dem Vorwand, Deutschland müsse die nächste Stufe der wirtschaftlichen Weiterentwicklung hin zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft offensiver in Angriff nehmen, um sich im globalen Vergleich zu behaupten, wird lediglich der Niedriglohnbereich gefördert, bei gleichzeitig massivem Sozialabbau.

Der Politik- und Sozialwissenschaftler Christian Girschner setzt sich mit der Absicht dieser von ihm "neoliberalen Politikoffensive" (S. 134) genannten Strategie auseinander, indem er die grundlegende Haltlosigkeit jenes (Er-)Lösungsdenkens in Frage stellt. So kritisiert er, daß die meisten politischen Theoretiker es versäumt hätten, eine bündige Definition dafür abzugeben, was Dienstleistung eigentlich sei, aber daß sie dessen ungeachtet leichtfertig Ausbau und Stärkung des sogenannten Dienstleistungssektors forderten. Das definitorische Versäumnis werde in der Regel, so Girschner, sogar von den gesellschaftskritischen Autoren ignoriert. Auch ihnen sei bislang nicht der Nachweis gelungen, "mehr zu sein als eine politisch brauchbare Ideologie zur Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Herrschafts- und Machtverhältnisse" (S. 53).

Diese Kernaussage versucht Girschner auf den ersten 80 Seiten textkritisch-detailliert zu belegen. Er schreibt, daß die meisten Arbeiten zum Thema Dienstleistungsgesellschaft, angefangen von der "klassischen" Theorie Bells über die "funktionelle Dienstleistungsbestimmung" nach Berger und Offe bis zur vermeintlich kritischen "systemfunktionalistischen Dienstleistungstheorie" Häußermanns und Siebels wissenschaftlich unsauber bleiben, da sie keine abklopfbare Definition der Dienstleistung liefern und folglich auch keine Grundlage für konkrete politische Konzepte böten. Autoren dieser Richtung erzeugten "ungelöste Abgrenzungs-, Erfassungs- und Klassifikationsprobleme" (S. 102), lautet ein zentraler Kritikpunkt Girschners.

Anders hingegen beurteilt er die Arbeiten von Karl Marx. Sie lieferten ein präzises Beschreibungsmodell, da Marx darin nicht "Dienstleistungsarbeit durch stofflich-technische Arbeitsbedingungen bzw. -kriterien zu bestimmen" versuche (S. 103). Die laut Marx "ökonomisch formbestimmte Dienstleistungsarbeit" habe mit kapitalistischer Warenproduktion nichts zu tun, sondern falle vielmehr "unter die ökonomische Form der 'einfachen Zirkulation'" (S. 117), "wo die gegen Einkommen getauschte Arbeitsleistung nur formell bzw. verschwindend die Wertform bzw. Preisbestimmung annimmt" (S. 117), erklärt der Autor.

Unter "einfacher Zirkulation" verstand Marx, daß der Tauschwert von Ware (zu der auch Dienstleistungen gerechnet werden) im Vorgang des Tauschens bereits wieder verschwindet. Beispielsweise verrichtet ein Dienstleister eine Arbeit, die sofort ge-, bzw. verbraucht wird, und bekommt dafür ein bestimmtes Einkommen. Das bedeutet, daß kein Mehrwert produziert wird und folglich auch kein Abschöpfen des Mehrwerts durch die Kapitaleigner stattfinden kann. Im Gegenteil, wie Girschner unter Berufung auf die "Grundrisse der Politischen Ökonomie" erklärt: "Für Marx ist Dienstleistungsarbeit 'kein Reichtum produzierender, sondern umgekehrt ein Reichtum konsumierender Akt', d.h., dieser ist 'kein Akt der Wertschöpfung, sondern der Entwertung vorhandener'. Für den Käufer sind Dienstleistungen 'kein Mittel der Bereicherung', sondern 'Ausgabe(n) für' seine 'Consumtion'" (S. 117).

Für den Wirtschaftswissenschaftler mit marxistischer Ausrichtung ist diese Aussage wesentlich, denn: Dadurch "erweist sich aus Marxscher Sicht die Tertiarisierungsthese samt den damit aufgeworfenen und unlösbaren (Schein-)Problemen der Klassifizierung und Bestimmung der Arbeiten als Dienstleistungen als eine wirtschaftswissenschaftliche Schimäre, welche allein daraus entspringt, den kapitalistischen Außenhandel und die kapitalistische Produktion sowie deren Entwicklung und Ausdifferenzierung in verschiedene Arbeitszweige prä- gesellschaftlich zu bestimmen und zu entwickeln" (S. 123). Kurzum, der Autor macht auf die "Reorganisation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse seit Mitte der 70er Jahre zwecks ökonomischer Wachstumsvergrößerung und -sicherung unter historisch neuen Akkumulationsbedingungen" (S. 123) aufmerksam.

Laut Girschner ist Dienstleistungsarbeit jedoch gar nicht gewachsen, sondern geschrumpft, nämlich entgegengesetzt zur Schaffung neuer Kapitalstrategien und zur Reorganisation der Kapital-, Arbeits- und Lohnverhältnisse und Konstituierung neuer Märkte bzw. Produktionssphären, wodurch vor allem für das "transnationale Kapital" bislang "relativ abgeschottete nationale Absatzmärkte, Rohstoffvorkommen, Naturpotentiale und Arbeitskräfte zur Ausbeutung" (S. 124) erschlossen würden. Ganz nach Marx erklärt der Autor im Anschluß, daß "diese eingeleiteten politik-ökonomischen Strategien zur Wachstumssicherung die Probleme der Kapitalvermehrung weiter verstärken werden" (S. 124). Mit anderen Worten, die kapitalistische Entwicklungsdynamik treibt alle Beteiligten auf eine Krise zu, die allenfalls unter Erzeugung vermehrter Not unter dem zur Ausbeutung freigegebenen Humankapital aufgeschoben, aber nicht aufgehoben werden kann.

Der Abstraktheit des Themas ist es geschuldet, daß der Stil des vorliegenden Buchs etwas trocken ausfällt. Da es jedoch als Band 46 der Reihe "Hochschulschriften" des PapyRossa-Verlags von vornherein an einen wissenschaftlichen Diskurs zum Thema Dienstleistungsgesellschaft adressiert ist, dürfte der nicht vorgebildete Leser ahnen, was ihn zukommt. Es handelt sich um kein konsumfreudiges, für die Allgemeinheit bestimmtes Buch, sondern es bedient einen kleinen Kreis von Fachleuten und überdurchschnittlich an den Grundlagen der Globalisierung interessierten Lesern.

Wem deshalb die in fünf Kapiteln abgefaßten Darlegungen zum politischen Nutzen der Dienstleistungstheorie, zur definitorischen Problematik, Empirie, funktionalistischen Theorie und schlußendlich zur Marxschen Bestimmung von Dienstleistungsarbeit zu mühsam erscheinen, sollte sich zumindest die Einleitung und die Schlußbetrachtung nicht ersparen, denn darin tritt Girschners politischer Standpunkt in zugespitzter Form hervor. Darüber hinaus schließt der Autor die Kapitel meist mit einem Fazit ab, in dem er seine jeweils vorangehende Analyse bündig zusammenfaßt und somit einen trefflichen Eindruck seiner Intentionen vermittelt, ohne daß sich der Leser notwendigerweise mit den Details auseinandersetzen müßte.

Einige Fragen, die sich im Zusammenhang mit der kritisierten Stärkung des Dienstleistungssektors stellen, werden in diesem Buch leider nur sehr knapp behandelt. Girschner geht in seinen häufig abstrakt gehaltenen Analysen beispielsweise nicht darauf ein, daß die Apologeten des Ausbaus des Dienstleistungssektors die Frage vermeiden, wer in einer Gesellschaft überhaupt noch produziert, wenn doch der Dienstleistungsbereich immer weiter ausgebaut wird, und unter welchen gesellschaftspolitischen Bedingungen dies geschieht. Verkürzt gefragt: Woher kommt das Essen auf dem Tisch, woher die Kleidung, usw.?

Wenn eine sogenannte Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr selbst die Güter produziert, die sie zu ihrem Fortbestand benötigt, so müssen entweder andere Gesellschaften einspringen oder es muß ein hoher Grad der Automatisierung erreicht werden. Beides trifft auf Deutschland und andere Industriestaaten zu. Vereinfacht gesagt, werden Entwicklungs- und Schwellenländer unter anderem über supranationale Mechanismen (vom Cotonou- Abkommen der EU mit den AKP-Staaten über die NAFTA sowie die AGOA- Initiative der USA bis hin zum HIPC-Entschuldungsprogramm von IWF und Weltbank und zahlreichen bilateralen Handelsabkommen) dazu genötigt, daß sie für die Erste Welt produzieren. In den hier genannten Beispielen liegen die Vorteile der Abkommen hauptsächlich auf Seiten der Ersten Welt, während die Länder der Dritten und Vierten Welt zu reinen Produktionsstandorten ausgebaut werden, ohne sie aus Schuldregime, dem wichtigsten Garanten für die Aufrechterhaltung der vorherrschenden Ordnung, zu entlassen.

Auch wenn eine Gesellschaft einen hohen Grad an Automatisierung erreicht hat, der es theoretisch erlaubte, Arbeitskräfte für Dienstleistungen innerhalb der Gesellschaft abzustellen, so wird diese ideale Form nicht nur nirgends erreicht, sie wird auch gar nicht angestrebt. Globalisierter Handel lautet statt dessen das Zauberwort, mit dem Wohlstand und Entwicklung versprochen und Herrschaftssicherung und Ausbeutung auf qualitativ höherer Ebene betrieben wird.

Die Anhänger der von Girschner kritisierten Drei- Sektorentheorie (Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektor) ziehen zwar durchaus eine Korrelation zwischen dem hohen Grad an Automatisierung in den Industriestaaten und dem Ausbau des Tertiären Sektors, aber sie übersehen dabei, daß für die freigesetzten Arbeitskräfte gar nicht genügend Dienstleistungsjobs geschaffen werden können und daß die Entscheidungsträger in der Ersten Welt auch gar nicht wollen, daß das aus der Produktion herausgefallene "überschüssige" Humankapital auf gleiche Weise Nutzen aus der Verwertungsgesellschaft zieht wie jene, von denen die neoliberale Politikoffensive vorgetragen wird, man kann auch sagen, die den Klassenkampf von oben betreiben. Akkumulation des Kapitals bedeutet im Kern einen Ausschluß aller anderen von der möglichen Nutzung.

Selbst die fortschrittlichste "Dienstleistungsgesellschaft" der Welt, die USA, hat sich n i c h t dahingehend entwickelt, daß sie sich von den Ressourcenstaaten, die mineralische, pflanzliche, tierische und auch menschliche "Rohware" zur Verfügung stellen, gelöst hätte. Das wäre ja eigentlich zu erwarten, wenn in einer Gesellschaft der sogenannte Primäre und der Sekundäre Sektor abgebaut und Arbeitskräfte "freigesetzt" werden, die dann den Tertiären Sektor stärken könnten. Doch das Gegenteil ist der Fall, die Vereinigten Staaten von Amerika betreiben einen unvergleichlichen globalen Raubzug - quantifiziert in der volkswirtschaftlichen Kenngröße des Leistungsbilanzdefizits, das gegenwärtig exorbitant anschwillt -, sie lassen breite Bevölkerungsschichten innerhalb der eigenen Gesellschaft verarmen und versuchen gegenwärtig, die von Girschner und anderen Marxisten prognostizierte wirtschaftliche Krisensituation mittels präemptiv geführter Kriege zu kompensieren.

Die vorherrschende globale Ordnung von der Ersten bis zur Vierten Welt wird auf diese Weise unumstößlicher denn je etabliert und geht mit einem Globalisierungsprozeß einher, der die Produktionsregionen (arme Länder) von den Nutzungsregionen (reiche Länder) scheidet, und innerhalb dieser beiden Gruppen wiederum gesellschaftliche Klassen bzw. Kasten installiert, deren soziale Grenzen von unten nach oben ebenso wenig zu durchdringen sein werden wie die nationalen Grenzen der Ersten Welt für Flüchtlinge aus Armutsregionen des Südens.

Der Begriff "Dienstleistungsgesellschaft" arbeitet dieser Ordnung zu, und es ist sicherlich ein Verdienst Girschners, wenn er bei seiner "Kritik einer fixen Idee", wie es im Untertitel des Buches heißt, auch und gerade die vermeintlichen Kritiker der Dienstleistungstheorie nicht ausspart, indem er deren Beteiligung an den Denkvoraussetzungen für und damit den Interessen hinter dem Ruf nach Förderung des Dienstleistungssektors offenlegt. Da sich der Autor mit den sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen befaßt, hinterläßt er allerdings an manchen Stellen den Eindruck eines Mangels an konkreten Beispielen. Es wäre hilfreicher gewesen, hätte Girschner sowohl seine eigene, an Marx angelehnte Begriffsbestimmung als auch die der von ihm kritisierten Autoren nicht so spärlich mit Beispielen belegt. Da bleibt trotz der konkreten politischen Stellungnahme gegen die neoliberale Ideologie ein leichtfüßiger Zugang zu diesem hochaktuellen Thema zumindest für jene Leser verschlossen, die über nur geringe Vorkenntnisse verfügen und die unter Marxisten bereits seit langem geführte Debatte über den Tertiären Sektor nicht kennen. Dennoch lohnt sich auch für sie der Griff zu diesem Buch, denn es rührt ganz gehörig an einem Tabuthema und trägt vor dem Hintergrund der aktuellen rigiden Umstrukturierung der Produktionsbedingungen zulasten der Arbeiter mit dazu bei, daß der Begriff "Wirtschaftswachstum" prinzipiell infragegestellt werden könnte.

Bei aller wissenschaftlichen Akribie, die eine gewisse sprachliche Spröde in Aufbau und Inhalt mit sich bringt, schimmert in einigen Teilen des Buchs subtextual die persönliche Sorge des Autors durch, die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie sei in Gefahr, ausgerechnet von ihren eigenen Vertretern mittels der Dienstleistungstheorie der Historie überantwortet zu werden. Denn träfe die Drei-Sektorentheorie zu und expandierte der Dienstleistungssektor, befürchtet Girschner, bezöge sich die Marxsche Kritik nur noch auf den im Verschwinden begriffenen Teil der Produktionsweisen, der nicht zum Dienstleistungssektor gehört, da dieser, wie weiter oben ausgeführt, dem einfachen Zirkular zugerechnet wird und somit keine Akkumulation des Kapitals zuließe. Selbst Marxisten müßten dann zugeben, daß die Akkumulation des Kapitals eben nicht eine fast natürliche Entwicklung der Gesellschaft ist. Damit hätte Marx unrecht.

Girschner scheint um diese Gefahr zu wissen, wenn er die Argumentation auf den Kopf stellt und sich mit seiner These, daß die Dienstleistungsarbeit in der heutigen Gesellschaft immer mehr abnimmt, gegen den Trend richtet. Somit entpuppt er sich als Bewahrer einer Wirtschaftslehre, die immerhin noch den Widerspruch der Klassengesellschaft aufgreift und beschreibt, daß der Ausbau des vermeintlichen Tertiären Sektors nur den Kapitaleignern zum Vorteil gereicht, nicht aber der Mehrheit der zur Vernutzung im Produktionsprozeß unterworfenen Menschen.


Christian Girschner
Die Dienstleistungsgesellschaft
Zur Kritik einer fixen Idee
PapyRossa Verlag, Köln 2003
140 Seiten, 14,- Euro
ISBN 3-89438-273-2