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REZENSION/217: Xinran - Verborgene Stimmen (Chinas Frauen heute) (SB)


Xinran


Verborgene Stimmen

Chinesische Frauen erzählen ihr Leben



Als sich Anfang der 70er Jahre in der BRD aus der Studentenbewegung eine Frauenbewegung abspaltete und entwickelte, erschienen Berichte über chinesische Frauen besonders den deutschen Studentinnen vorbildlich und ermutigend. Hatten diese sich doch von den alten repressiven Traditionen losgesagt und standen ihre Frau in einem Land, das auf dem Weg zum Kommunismus war. Durch das Anstreben eines kollektiven Zusammenlebens, begleitet von der Überwindung feudaler, bürgerlicher, bürokratischer und patriarchalischer Denkweisen, schien sich, so die Darstellungen in übersetzten chinesischen Zeitschriften, Berichten und Romanen aus den linken Buchläden, in China der Ruf nach Gleichberechtigung zu erübrigen. Die chinesischen Frauen befanden sich auf dem Weg.

Nach wenigen Jahren war China dann kein Thema mehr. Ein politisch eingeschränkter Nachrichten- und Informationsfluß sorgte für eine Distanziertheit auch in den europäischen Medien. Erst in den 90er Jahren verstärkte sich die Nachrichtenfrequenz wieder, hauptsächlich über Chinas Wirtschafts- und Außenpolitik. Aber seit Mitte der 70er Jahre hatte man nichts mehr von den chinesischen Frauen gehört.

Dieses Jahr ist nun ein Buch mit dem Titel "Verborgene Stimmen" erschienen, im Untertitel: "Chinesische Frauen erzählen ihr Leben". Durch die umfassende und gründliche Recherchearbeit der Autorin Xinran wird ein Blick auf die Situation der Frauen im gegenwärtigen China und auf ihre Geschichte seit den 50er Jahren bis ins heutige nachrevolutionäre China ermöglicht, auf ihre Denkweisen, Traditionen, gesellschaftlichen Verhältnisse. In nüchterner Sprache, trotzdem unmittelbar betroffen, parteiisch und engagiert informiert Xinran genau über den Zeitraum, der bisher - nicht zuletzt von den Frauen selbst - mit Schweigen belegt war.

Was sich dadurch eröffnet, ist die bisher verborgene Lebenswirklichkeit der "Hälfte des Himmels"; unter diesem Titel (von Claudie Broyelle, 1973 bei Wagenbach erschienen) - den auch die Frauen im Westen begeistert übernahmen - wird die bis dahin stimm- und rechtlose weibliche Hälfte der chinesischen Bevölkerung zusammengefaßt, der gleichermaßen ihre Auflehnung gegen überkommene bürgerliche Herrschaftsstrukturen beinhaltet. Xinran verleiht den Frauen in vielen Fallgeschichten, Tagebuchauszügen, Interviews oder auch Berichten über Bildung, Religion und Wirtschaft eine Stimme. Zu Wort kommen vom Vater mißbrauchte Mädchen, entführte oder gekaufte junge Ehefrauen, Müllfrauen, lesbische Frauen, von der Partei verheiratete Frauen, Mütter vergewaltigter Mädchen in Katastrophengebieten, Studentinnen als "Privatsekretärinnen" reicher Unternehmer, Frauen im Gefängnis, durch Folter und langjährige Vergewaltigung geistig gestörte Frauen und Frauen, die in den Wüsten in Chinas Westen leben.

Xinran läßt die Betroffenen selbst erzählen. Sie hört hauptsächlich zu, schreibt mit, faßt zusammen, zitiert oder erzählt auf Wunsch stellvertretend. Die Probleme können zeitgeschichtlich gesehen jeweils als repräsentativ gelten für die Lage vieler Frauen, so daß auf 319 Seiten ein komprimiertes Geschichtsbild der neueren Entwicklung Chinas aus weiblicher Sicht entsteht. Die Fragestellung ist immer die gleiche, "Wieviel ist das Leben einer Frau in China eigentlich wert?" (S. 14), die Erzählungen sind aber so unterschiedlich, daß keine Gleichförmigkeit aufkommt. Das Buch ist atemberaubend spannend und informativ, und hauptsächlich erzeugt es Anteilnahme, wenn Xinran auch weiß, daß sie nicht mehr damit erreichen wird, als ein öffentliches Problembewußtsein zu schaffen und Diskussionen zu entfachen. Ein Freund formuliert dies so:

"Selbst wenn es dir gelingen sollte, dir Zugang zu ihren Wohnungen und ihren Erinnerungen zu verschaffen, wärst du in der Lage, die Gesetze, nach denen sie ihr Leben leben, zu beurteilen oder zu ändern?". (S. 17)

Die Idee, den Nöten der Frauen Ausdruck zu verleihen, entstand, nachdem die Journalistin Xinran im Jahr 1989 Moderatorin der Abendsendung "Words on the Night Breeze" im Rundfunk geworden war, ursprünglich konzipiert, um den Hörern Ratschläge zu geben, wie man die Schwierigkeiten des täglichen Lebens meistern kann. Auf den dort eingegangenen Geschichten beruht hauptsächlich dieses Buch.

"Ich versuchte, etwas zu machen, was im Rundfunk noch nie gemacht worden war. Seit 1949 waren die Medien das Sprachrohr der Partei gewesen. Das staatliche Radio, die staatlichen Zeitungen und später das staatliche Fernsehen stellten die einzigen Informationsquellen dar, die dem chinesischen Volk zur Verfügung standen, und sie alle sprachen mit einer einzigen Stimme. Kommunikation mit irgend jemandem im Ausland war so unerreichbar wie ein Märchentraum. Als Deng Xiaoping 1983 den langsamen Prozess der "Öffnung" Chinas in Gang setzte, konnten Journalisten, wenn sie den Mut dazu hatten, versuchen, die Art und Weise, in der sie die Nachrichten präsentierten, ganz behutsam ein wenig zu verändern. Es war nun auch möglich, in den Medien über persönliche Dinge zu sprechen, auch wenn dies vielleicht noch gefährlicher war. Mit meinen "Words on the Night Breeze" versuchte ich, ein kleines Fenster zu öffnen, ein winziges Luftloch, damit die Menschen nach der mit Schießpulver angefüllten Atmosphäre der letzten vierzig Jahre eine Möglichkeit erhielten, aufzuschreien und frei zu atmen." (S. 11f.)

Xinrans Sendung wurde in ganz China bekannt und berühmt. Aber die Bedingungen, unter denen sie arbeitete, verurteilten sie zur Tatenlosigkeit:

Wenn ich Frauen interviewte, die in politischen Ehen ohne jedes Gefühl lebten, wenn ich sah, wie Frauen mit Armut und Entbehrungen kämpften und nicht einmal nach einer Entbindung eine Schale Suppe oder ein Ei erhielten, oder wenn ich auf meinem automatischen Anrufbeantworter die Geschichten von Frauen hörte, die es nicht wagten, mit irgend jemandem darüber zu reden, dass ihre Ehemänner sie schlugen, machten es mir die Vorschriften der Rundfunkstation fast immer unmöglich, ihnen zu helfen. Ich konnte nichts tun, als im Stillen Tränen über ihr Schicksal zu vergießen. Als China sich langsam zu öffnen begann, war es wie ein ausgehungertes Kind, das wahllos alles verschlang, was in seine Reichweite kam. Als dann die Welt nichts als ein erregtes, glückliches Land in neuen Kleidern sah, das nicht mehr vor Hunger schrie, sahen die Journalisten einen Körper mit gestörter Verdauung, der sich vor Schmerzen wand. Aber das Gehirn, das zu diesem Körper gehörte, war unbrauchbar, denn dem chinesischen Gehirn fehlten noch die Zellen, die für die Verarbeitung von Wahrheit und Freiheit zuständig sind. Durch den Zwiespalt zwischen dem, was die Journalisten wußten und was sie sagen durften, entstand eine Atmosphäre, unter der ihre geistige und physische Gesundheit litt. Ein solcher Zwiespalt veranlaßte mich schließlich dazu, meine Karriere als Journalistin aufzugeben. (S. 298)

1997 verließ Xinran China, lebt seither mit ihrem Sohn in England und arbeitet an der School of Oriental and African Studies an der Londoner Universität. Dort hat sie auch dieses Buch verfaßt, das ihr erstes ist. Ihr Anliegen ist es, den Menschen im Westen das Leben der chinesischen Frauen zu beschreiben, da sie immer wieder danach gefragt wird, denn hier scheinen die chinesischen Frauen "immer noch unter einem uralten Schleier verborgen zu sein" (S. 316) Mitte der 90er Jahre hätte Xinran in China noch eine Gefängnisstrafe riskiert, wenn sie ein solches Buch geschrieben hätte. Jetzt kann es auch in China erscheinen, mit Ausnahme der Falun Gong-Passage (S. 125).

Xinran ist 1958 in Beijing geboren worden. Zu dieser Zeit "galten für die Frauen die 'Drei Unterwerfungen und Vier Tugenden': die Unterwerfung unter den Vater, dann den Ehemann und nach dessen Tod unter den eigenen Sohn. Die Tugenden waren Treue, physische Anziehungskraft, angemessenes Verhalten in Wort und Tat und Fleiß bei der Hausarbeit." (S. 156) Die wenigsten Frauen studierten zu dieser Zeit in China - es galt als Ketzerei -, viele durften nicht einmal das Haus verlassen, zur Schule gehen und lesen und schreiben lernen. Noch heute im sogenannten "modernen" China, verstehen zum Beispiel Studentinnen unter einer "guten Frau" diejenige, die "zu Sanftheit und Nachgiebigkeit erzogen" wird. Heute wünschen sich die Männer ...

... eine tugendhafte Ehefrau und gute Mutter, die alle Hausarbeit erledigt wie ein Dienstbote. Außerhalb des Hauses muß sie attraktiv und kultiviert sein und ihm Ehre machen, und im Bett muss sie eine Nymphomanin sein. Hinzu kommt, dass die chinesischen Männer ihre Frauen auch noch dazu brauchen, ihre Finanzen in Ordnung zu halten und eine Menge Geld zu verdienen, damit sie es den Reichen und Mächtigen gleichtun können. Moderne chinesische Männer stöhnen über die Abschaffung der Polygamie. Der alte Gu Hongming sagte am Ende der Qing-Dynastie, dass 'ein Mann am besten für vier Frauen geeignet ist, so wie eine Teekanne für vier Tassen bemessen ist'. Und die heutigen chinesischen Männer wollen auch noch eine fünfte Tasse haben, die mit Geld gefüllt ist. (S. 62)

Viele chinesische Intellektuelle glauben, daß China "endlich mit dem Rest der Welt gleichzieht" (S. 71):

"Seit wir uns keine Sorgen mehr machen müssen, woher wir unser Essen und unsere Kleidung nehmen sollen, diskutieren wir über die Beziehung zwischen Mann und Frau. Aber ich glaube, dass dieses Thema in China sehr viel komplexer ist. Wir müssen uns mit mehr als fünfzig ethnischen Gruppen und unzähligen politischen Veränderungen und Vorschriften über Betragen, Geisteshaltung und Kleidung der Frauen auseinandersetzen. Wir haben sogar mehr als zehn verschiedene Begriffe für Ehefrau." (Zitat einer Studentin, S. 71)

So sieht die neuere Entwicklung aus: China hat ab der Jahrhundertwende eine große Bedeutung für die Weltökonomie erlangt, Kapitalisten nutzen profitabel die neuen Möglichkeiten im Reich der Mitte und das Land feiert unter der Führung einer kommunistischen Partei wirtschaftliche Wachstumserfolge.


Was die letzten fünfzig Jahre für das Leben der chinesischen Frauen bedeuteten, die in "Verborgene Stimmen" beschrieben werden, kann am besten nachvollzogen werden, wenn der sich schnell und kontrastreich verändernde zeitgeschichtliche Hintergrund mitberücksichtigt wird:

Am 1.10.1949 proklamierte Mao Zedong am Tian-an-men-Platz die "Volksrepublik China", nachdem er eine riesige Bauernschaft zur "Roten Armee" organisiert hatte, die nach dem langen Marsch nach Shaanxi dort eine Räterepublik als revolutionäre Festung gegründet hatte. Nach der Revolution von 1949, dem Sieg der Roten Armee über die Guo-Min-Dang, sollten die feudalen Besitzverhältnisse auf dem Land sowie die ausländische Herrschaft überwunden werden. Es folgte eine Landreform, in den Städten wurden Banken und Großunternehmen verstaatlicht (was auch Xinrans Großvater mütterlicherseits betraf, S. 166f.).

1953 wird die "Generallinie für den Übergang zum Sozialismus" verkündet, die für 15 Jahre geplant war. Da die Entwicklung in der Landwirtschaft aber stagnierte, wurde mit der "Politik des großen Sprungs" das Bauerntum neu geordnet, d.h. in 25.000 Volkskommunen organisiert, was dazu führte, daß 40 Mio. Menschen an Hunger starben.

Die chinesische Regierung reagierte auf diese Katastrophe 1960 mit einem "Kurswechsel". Sie führte die private Landbewirtschaftung und leistungsbezogene Löhne wieder ein, was wachsende soziale Ungleichheiten zur Folge hatte und einen bürokratischen Apparat entstehen ließ, der streng hierarchisch geordnet war. 1966 kam es zu offenen Beschuldigungen gegen hohe Parteimitglieder und Funktionäre, sie seien konterrevolutionär und revisionistisch.

Mao proklamierte daraufhin die "Kulturrevolution" (1966), getragen von Partei und Armee: Sie sollte reaktionäre, bourgoise Autoritäten bekämpfen, alte Sitten und Gewohnheiten überwinden und diejenigen Funktionäre der KPChina stürzen, die den kapitalistischen Weg eingeschlagen hätten. Millionen von Rotgardisten überzogen daraufhin die Städte Chinas mit agitatorischen und physischen Angriffen auf "rechte Abweichler" und feudale Kultur, was damit endete, daß 12 Millionen Jugendliche zur Umerziehung aufs Land geschickt wurden (Kapitel 11: Die Tochter des Guomindang-Generals, S. 203ff.).

Bis in die 70er Jahre gab es immer neue Massenkampagnen und Versuche einer sprunghaften Entwicklung. Der Staat holte sich vom Bauerntum durch Getreideabnahme bei festgesetzten Preisen das bäuerliche Mehrprodukt und verwendete es zum Aufbau der Industrie. Mitte der 70er Jahre produzierte China Lastwagen und schwere Traktoren, Hochseeschiffe und Jet-Flugzeuge. Der Anteil der Industrie am materiellen Nettoprodukt Chinas betrug bereits 50%, der der Landwirtschaft nur noch 34%. 78% der Industrieunternehmen waren staatlich, 22% waren Kollektiv- bzw. Kommunalunternehmen. Seit 1957 gab es keine Erhöhung der Getreideproduktion mehr.

Außenpolitisch war China bis 1970 weitgehend isoliert, was zur Folge hatte, daß es frei von Auslandsschulden war. Nach dem Tod Maos im September 1976 war die neue Leitlinie nun nicht mehr die Erziehung des Menschen nach einem Ideal kollektiven, bäuerlichen Lebens, sondern die kontinuierliche Entwicklung der nationalen Produktivkräfte. Neue Führungsfigur wurde Den Xiao Ping: Er propagierte die Politik der vier Modernisierungen (Privatisierung der Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik und der Armee). Ab 1984 wurden private Unternehmen zugelassen, ab 1988 konnten die Landnutzungsrechte verkauft und vererbt werden, ausländisches Kapital und führende Standards in Wissenschaft und Technik wurden ins Land geholt. China wurde zum größten Darlehensnehmer der Weltbank.

In den 80er Jahren modernisierten sich die Kleinstädte an der Küste, Hunderttausende von Studenten gingen in die USA, nach Japan und in die westlichen Länder, um als Betriebswirte oder Ingenieure zurückzukehren. Die sozialen Widersprüche zum Land waren sehr krass: Dort herrschte hohe Arbeitslosigkeit, die noch staatlichen Unternehmen litten unter Wettbewerbsnachteilen und eine neue Klasse von Emporkömmlingen entstand. Unter den Beschäftigten der Staatsbetriebe und den Studenten kam Unruhe auf: Obwohl der nationale Volkskongreß bereits 1980 die in der Verfassung von 1978 gewährten vier Freiheiten - Redefreiheit, Pressefreiheit, Demonstrations- und Streikrecht - wieder aufgehoben hatte, demonstrierten am 17. Mai 1989 eine Million Menschen am Platz des Himmlischen Friedens. Viele durch die Modernisierung ausgebeutete Arbeiter der Staatsunternehmen solidarisierten sich mit den Studenten und als die 27. Armee den Platz des Himmlischen Friedens von den Protestanten räumen sollte, blockierte die Pekinger Bevölkerung die Zufahrtsstraßen. Die Armee bahnte sich gewaltsam und blutig einen Weg zum Platz des Himmlischen Friedens, wobei sie selbst erhebliche Verluste erlitt. Die Ereignisse auf dem Platz, das heißt die Niederschlagung des Protestes, gingen weltweit als das "Tiananmen- Massaker" in die Geschichte ein, obwohl die eigentlichen Kämpfe schon außerhalb des Platzes stattgefunden hatten und es dort mehr Tote gegeben hatte.

Es folgten einige Jahre der außenpolitischen Isolierung, bis zur Zusammenarbeit mit der ASIAN 1991. Jetzt wurde die Entwicklung der Produktivkräfte zum alles dominierenden Maßstab.

Heute ist Jiang Zemin nicht nur Staatspräsident und Vorsitzender der Kommunistischen Partei, sondern auch Vorsitzender der Zentralen Militärkommission. Die wirtschaftlichen Umwälzungen der letzten Jahre bis hin zum Beitritt in die Welthandelsorganisation (WTO) und die ersten Folgen der Globalisierung haben eine kapitalistische Gesellschaft in Abhängigkeit von den Weltmärkten geformt. China ist sozialistischen Prinzipien und Idealen kaum noch verpflichtet, hat eine bestenfalls rudimentär zu nennende Rechtsstaatlichkeit und die den Staat führende Kommunistische Partei ist vom Kommunismus weit entfernt. Politische und kulturelle Wertmaßstäbe fehlen. Die 1,5-Milliarden-Bevölkerung ist ethnisch stark zergliedert. Die mehr als 50 chinesischen Sprachen unterscheiden sich teilweise noch mehr voneinander als das Holländische vom Schwyzerischen. Chinesisch als Einheitshochsprache gibt es nicht, nur das Peking-Chinesisch als Amtssprache.


Vor diesem Hintergrund beleuchtet "Verborgene Stimmen" die gegenwärtige Situation der chinesischen Bevölkerung, speziell der Frauen, hautnah. Xinrans eigene Betroffenheit (auch sie ist eine der "verborgenen Stimmen") macht ihre Berichte unvergeßlich. Was beim Lesen des Buches besonders deutlich zum Ausdruck kommt, ist, daß die chinesischen Frauen meist unter einer doppelten Unterdrückung zu leiden haben. Zwar lehnten sich viele Frauen, von der Aufbruchstimmung angesteckt, gegen die repressiven Strukturen des alten Systems auf, aber sie übersahen dabei, daß sie sich weiterhin einer anderen Unterdrückung aussetzten - einer streng patriarchalisch geordneten traditionsreichen Gesellschaft mit frauenfeindlichen Wertvorstellungen. So konnten sie, obwohl sie sich mit ihrem Leben für die Revolution einsetzten, von ihren "Genossen" weiterhin ausgebeutet werden (Kapitel 8: Die Frau, deren Ehe von der Revolution arrangiert wurde, S. 151ff).

In Interviews mit Studentinnen zeigt sich, daß sich inzwischen unter den jungen Frauen eher eine nüchterne und realistische Einstellung zu ihrer Situation durchgesetzt hat. Die chinesische Studentin, die einen Amerikaner heiratet und in die USA übersiedelt, schreibt ihrer Freundin ...

... glaube niemals, dass ein Mann ein Baum sei, in dessen Schatten du dich ausruhen könntest. Die Frauen sind der Dünger, der verrotten muss, um den Baum stark zu machen. ... Es gibt keine wahre Liebe. Die Paare, die nach außen hin liebevoll zusammenleben, bleiben nur wegen eines persönlichen Vorteils zusammen, sei es Geld, Macht oder Einfluss. (S. 68)

Die geschilderten Lebensläufe sind unbeschreiblich leidvoll. Aber es würde wenig nützen, Leiden nur zu beschreiben, wenn man es nicht verändern wollte. Vielleicht unbeabsichtigt wird dazu ein Ansatzpunkt geliefert, indem in den Geschichten die Beteiligung der Frauen selbst angesprochen wird: Wenn es um Besitz und Vorteile geht - die auch in patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen für Frauen durchaus enthalten sind -, besteht die starke Bereitschaft, zu kalkulieren und Leid in Kauf zu nehmen, um den Besitz nicht zu verlieren oder aufzugeben. Geht es aber um die Abschaffung der Herrschaftsverhältnisse, zeigt es sich, daß die Herangehensweise grundsätzlicher ist und über frauenspezifische Probleme hinausweist. Denn jedes Streben nach Eigentum - sei es an Nahrung, Menschen oder Dingen - bedeutet Zerstörung, Raub und hierarchische Strukturen, ob von Männern oder Frauen angestrebt.

Es ist nicht zu übersehen, daß das Problem umfassender ist, als es sich die oben erwähnten deutschen Studentinnen Anfang der 70er Jahre ausgemalt hatten. Damit, sich eine Aufbruchstimmung zunutze zu machen, Überzeugungsarbeit zu leisten, Umschulungen und Enteignung einzuleiten, ist - wie am Beispiel China gut nachzuvollziehen ist - eine Revolution nicht einmal begonnen.


Literatur zur neueren Geschichte Chinas: * "China - gestern und heute" von Stefan Brandhuber, aus: Arbeiterstimme, Zeitschrift für marxistische Theorie und Praxis, Nr. 141, 32. Jahrgang, Seite 33


Xinran
Verborgene Stimmen
Chinesische Frauen erzählen ihr Leben
Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser
Droemer Verlag, München 2003 (2002 by Xinran)
319 Seiten, Euro 18,90
ISBN 3-462-27300-4