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REZENSION/246: Ismayr - Die politischen Systeme Westeuropas (Politik) (SB)


Herausgeber: Wolfgang Ismayr


Die politischen Systeme Westeuropas



Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung der alten Ordnung des Ost-West-Gegensatzes standen viele Staaten vor einer grundsätzlichen Neuorientierung. Dabei stellte sich die Frage nach dem gewünschten politischen System nicht nur den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, sondern auch den Ländern der westlichen Wertegemeinschaft, insbesondere den Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft, bzw. Europäischen Union. Unter diesen führte und führt die Harmonisierung der Staats- und Rechtsformen zu tiefen Eingriffen in die jeweiligen politischen Systeme.

Der einzig verbliebene Globalhegemon USA und seine Verbündeten haben neue Feindbilder geschaffen, um ihr siegreiches System in eine neue Weltordnung überzuführen. Dem wird mittlerweile auf zynische Weise Rechnung getragen, wie die Absage an die Werte der Genfer Konventionen durch die US-Regierung sowie die rechtstaatlichen Zerfallstendenzen in der Bundesrepublik Deutschland zeigen (Beteiligung an Angriffskriegen, Folterrelativierung, Abschiebung in Folterländer).

Diese Trends schlagen sich auch im Staatsverständnis nieder und führen zu entsprechenden Systemanpassungen. Die geplante "Reform" des Föderalismus in Deutschland, die Verlängerung der Wochenarbeitszeit in Frankreich oder auch die Regionalisierung (devolution) in Großbritannien sind nur drei Beispiele, die die prinzipielle Relevanz politischer Systeme belegen, in denen sich Leben und Wirken dieser hochdifferenzierten Gesellschaften entfalten. Wenn nun von den politisch Verantwortlichen Reformen gefordert werden, die bis in die Grundfesten der jeweiligen Systeme, den Fundamentalkonsens der Verfassung, reichen, dann ist der Preis dafür in der Regel eine größere Einschränkung vormaliger bürgerlicher Rechte.

Wolfgang Ismayr, Professor an der Technischen Universität Dresden, hat bereits in der dritten Auflage einen Sammelband herausgegeben, in dem mehr als 20 ausgewiesene Experten "die politischen Systeme Westeuropas" Staat für Staat in eigenständigen Aufsätzen, deren thematische Gliederung durchgängig aneinander angepaßt ist, vorstellen. Das Buch wendet sich an alle, die einen genaueren Blick auf die Architektur der Staatssysteme und die Intentionen ihrer Konstrukteure werfen und nähere Informationen über "Verfassungsentwicklung und Verfassungsprinzipien, Staatsoberhaupt, Parlament, Regierung und Verwaltung, Gesetzgebungsprozeß, Wahlsystem und Wählerverhalten, Parteiensystem und innerparteiliche Willensbildung, Interessensverbände und Interessensvermittlung, Massenmedien, politische Kultur/politische Partizipation, Rechtssystem (ggf. Verfassungsgerichtsbarkeit), Regional- und Kommunalpolitik, Europapolitik" und "internationale Beziehungen" (S. 7) erhalten wollen.

Dabei gelingt es den einzelnen Autoren, sich nicht in dem für die Politikwissenschaft typischen Labyrinth fachspezifischer Detailfragen zu verlieren. Die Aufsätze haben einen überschaubaren Umfang zwischen 20 (Island) und 55 Seiten (Italien) und vermitteln in prägnanter Art die politischen Systeme von 19 Nationalstaaten sowie in einem eigenen Beitrag die fünf Kleinstaaten Andorra, Liechtenstein, Monaco, San Marino und Vatikan. Abgerundet wird das Buch mit einem Kapitel über die Europäische Union. Den politischen Systemen Osteuropas hat der Herausgeber Wolfgang Ismayr einen anderen Sammelband dieses Verlags gewidmet.

Europäischen Union ist insofern besondere Bedeutung zuzumessen, als daß mit ihr in Europa etwas entstanden ist, das zwar Züge eines politischen Systems trägt, für das es allerdings kein historisches Vorbild gibt und das nach Ansicht des Autors Wolfgang Wessels eine "seltsam anmutende und schwer faßbare Konstruktion (...) der besonderen Art darstellt", die "zunehmend auf die Verfassungs- und Regierungssysteme seiner Mitgliedstaaten ausstrahlt" (S. 779). Zurecht macht Wessels auf die "Dynamik des EU-Systems" (S. 781) aufmerksam, welches allerdings keine "systematische Umsetzung eines sorgfältig geplanten, allseits akzeptierten Bauplans einer europäischen Gesamtkonstruktion" sei, sondern "vielmehr das Resultat unterschiedlicher europapolitischer Leitbilder und mehrerer parallel verlaufender historischer Entwicklungen" (S. 781).

Dieses von vielen Köchen zubereitete institutionelle und gesetzgeberische Gericht namens Europäische Union soll nun durch eine vom EU-Konvent vorgeschlagene Verfassung zu einem Eintopf zusammengekocht werden, in dem nationale Eigenheiten notgedrungen ihre Konturen verlieren müssen - eine Entwicklung, die allen europäischen Staaten abverlangt, Stellung zu beziehen. Denn sie müssen sich fragen, in welchem Verhältnis sie zur Europäischen Union stehen wollen, ob weiterhin als Beobachter wie Norwegen oder Schweiz mit dem Risiko der Marginalisierung oder ob als Mitglied, das jedoch seine Entscheidungsbefugnisse schrittweise zugunsten der Brüsseler Behörden preisgibt, sich dafür aber in einer globalisierten Welt eine größere wirtschaftliche und militärische Schlagkraft versprechen darf. Auf eine vereinfachte Formel gebracht ist festzustellen, daß die Bedeutung der politischen Systeme innerhalb der EU schwindet, je mehr Kompetenzen Brüssel dazugewinnt.

Ein besonderer Nutzen dieses mit 842 Seiten recht umfangreichen, der Komplexität des Themas aber angemessenen Lehrbuchs besteht in der Möglichkeit der vergleichende Analyse der politischen Systeme, die aus höchst unterschiedlichen Traditionen entstanden sind und doch alle gemein haben, sich demokratischer und rechtsstaatlicher Verfaßtheit verpflichtet zu fühlen. Zum Beispiel liegt in Deutschland die Gesetzgebung bei den Ländern, sofern nicht vom Grundgesetz der Bund als zuständig genannt wird (S. 459). Die föderale Idee ist somit ein Fundament dieser Republik, und im europapolitischen Diskurs wird mitunter die Befürchtung geäußert, daß das Schwergewicht Deutschland seine Vorstellung der gewünschten Staatsform gegen die der anderen durchsetzen wird.

Im Unterschied zu Deutschland wird Großbritannien weitgehend zentralstaatlich regiert. Der für die Beschreibung dieses Landes zuständige Autor Roland Sturm schreibt dazu:

Auch wenn aus deutscher Sicht der Staatsaufbau eines Flächenstaates erstaunt, der neben der nationalen Regierung als gewähltes Organ nur den Gemeinderat kennt, ist diese 'Rationalisierung' der Kommunalverwaltung aus britischer Sicht nicht ohne Logik. (S. 255)

In der Regierungszeit der Konservativen Partei seien die Gemeinden "zu einem politisch unbedeutenden Appendix der Zentralregierung" verkommen, führt Sturm weiter aus. Unter Tony Blair hingegen seien einige Kompetenzen wieder abgegeben worden. (Der Trend wird fortgesetzt. Erst vor kurzem hat die Labour- Regierung den Plan "People, Places and Prosperity" zur Erweiterung eben dieser kommunalen Befugnisse vorgestellt.) Auch sei unter Blair das Nationalparlament Schottlands, die Versammlung von Wales und die Nordirlandversammlung mit gewissen Rechten ausgestattet worden. Diese Devolutions-Politik stelle eine "grundsätzliche Herausforderung des Westminister- Regierungsmodells" (S. 227) dar, erklärt Sturm, der in diesem Zusammenhang sogar von einem "Systembruch" spricht. Und zwar "nicht nur weil der Absolutheitsanspruch der Parlamentsherrschaft als einziger Quelle der Legitimation von Machtausübung im Vereinigten Königreich in Frage gestellt wird, sondern vor allem auch, weil die Machtverlagerung zur Konzession an das Prinzip der Volkssouveränität wird" (S. 227).

An der Gegenüberstellung des deutschen Förderalismus und der britischen Parlamentssouveränität wird die Unvereinbarkeit der beiden Systeme deutlich. Das wiederum erlaubt Rückschlüsse auf die Durchsetzungsfähigkeit, die der Europäischen Union zugesprochen werden muß, wenn ihre politischen Vorgaben diesen beiden Systemen (und zur Zeit 23 weiteren) übergeordnet werden sollen. Daß diesem permanenten Prozeß in Wolfgang Ismayrs Konvolut noch nicht in dem Ausmaß Rechnung getragen wurde, wie es angesichts des Souveränitätsverlustes der Nationalstaaten aus heutiger Sicht angemessen wäre, ist sicherlich dem Umstand zuzuschreiben, daß das Buch 1997 erstmals herausgegeben wurde. Die nachträgliche Überarbeitung in der mittlerweile dritten Auflage muß bei allem Bemühen um Angleichung an die Entwicklung zwangsläufig hinter der ständig weiter voranschreitenden EU- Integration zurückbleiben.

Nicht nur wegen der inneren und äußeren Erweiterung der Europäischen Union dürften die heutigen politischen Systeme Westeuropas langfristig Auflösungserscheinungen zeigen. Seit Beginn des neuen Millenniums zeichnet sich deutlicher als zuvor ab, daß sich die Staaten der Erde zusammenschließen und Maßnahmen treffen, um Konkurrenten (andere Staaten, größere Regionen oder religiöse Glaubenssysteme) von der Nutzung der knappen Ressourcen abzuhalten. Vor diesem Hintergrund könnte sich der Irakkrieg als Auftakt zu weiteren globalen Verteilungskämpfen erweisen. Die gegenwärtigen politischen Systeme besaßen Gültigkeit in einer Welt mit vier, fünf oder sechs Milliarden Menschen - aber gilt dies auch noch auf einem Planeten mit neun oder zehn Milliarden Bewohnern und der bedrohlichen Enge des verfügbaren Lebensraums?

Es ist bezeichnend für die in dem vorliegenden Buch gewählten Systembeschreibungen, daß die Außenpolitik der Länder weitgehend unterbelichtet bleibt. Dabei wird übersehen, daß die Ausbeutung der als "Dritte Welt" diskriminierten Staaten ein wichtiger Faktor der Systemstabilität Westeuropas ist und das Schuldenregime von heute ein Garant für die Fortsetzung des früheren Kolonialismus mit anderen Mitteln. Der denkbare Widerspruch an dieser Stelle, daß die komplexen globalpolitischen Prozesse ja auch kein Bestandteil eines politischen Systems seien, ist angesichts von Hartz IV in Deutschland, das bekanntlich mit dem Zwang zur Anpassung an übergreifende Wirtschaftsentwicklungen (Globalisierung) begründet wird, hinfällig. Denn Hartz IV hat sehr wohl Einfluß auf das politische System, werden doch mit den unter diesem Begriff subsumierten Maßnahmen unter anderem die grundgesetzlich verankerte Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit (Artikel 20) und das Verbot zum Arbeitszwang (Artikel 12) in Frage gestellt.

Eine Wissenschaftsdisziplin, die mit dem Anspruch angetreten ist, das politische System einer Gesellschaft vollständig zu beschreiben, dann aber ihre Kategorisierungen so wählt, daß wesentliche Folgen politischer Entscheidungen ausgeblendet werden, bleibt selbstbezogen und hat mit dem angeblich von ihr behandelten Sujet nur wenig zu tun. Dennoch bietet Wolfgang Ismayrs Lehrbuch einen nützlichen Einblick in die politischen Systeme Westeuropas, wie sie sich aus der Sicht der Politikwissenschaft darstellen.


Herausgeber: Wolfgang Ismayr
Die politischen Systeme Westeuropas
3., aktualisierte und überarbeitete Auflage,
Lesek und Budrich, Opladen 2003
UTB-ISBN 3-8252-8099-3
ISBN 3-8100-3607-2