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REZENSION/268: Devers, Benoît - La Voleuse de Saint-Lubin (Französ.) (SB)


Claire Devers / Jean-Louis Benoît


La Voleuse de Saint-Lubin

Scénario



Mundraub - ein Menschenrecht? oder Wehret den Anfängen!

Ursprünglich handelt es sich bei "La Voleuse de Saint-Lubain" (Die Diebin von Saint-Lubain) um einen Film, der 1999 in Frankreich erschienen ist und auf wahren Ereignissen beruht, die sich im Jahre 1996 zutrugen: Eine junge, alleinerziehende und berufstätige Frau mit zwei Kindern, die gewissenhaft jeden Centimes zweimal umdreht und ihre Familie bei knapper zusätzlicher Unterstützung mehr schlecht als recht über die Runden bringt, verliert eines Tages - vor Weihnachten - die Nerven und stiehlt in drei Supermärkten Unmengen von Fleisch. Ein Prozeß schließt sich an, der - auch trotz des Freispruchs - zunächst nicht viel Aufsehen erregt, aber dann, von einer Justizangestellten an die Presse weitergegeben, die ganze selbstgerechte, moraltriefende Maschinerie der anständigen Bürger im Namen der Verbrechensbekämpfung lostritt. Die milde Richterin wird gemobbt und diffamiert, die junge Frau zum opportunen Objekt der unterschiedlichsten Interessen und schließlich ein neuer Prozeß anberaumt.

Das vorliegende Buch enthält zum einen die Transkription (Scénario) des Films, zum anderen einen Artikel aus Le Monde über den Prozeß sowie den Text der Urteilsbegründung, ein Vorwort zum Film selbst, Anmerkungen zur Erarbeitung des Films im Unterricht und Vokabelhilfen am Fuß jeder Seite.

Es ist das Porträt einer jungen, couragierten Frau gelungen, die sich bis zum äußersten bemüht, auf dem ihr zugewiesenen gesellschaftlichen Platz ein rechtschaffenes Leben zu führen, obwohl sie - wie viele - von der Gesellschaft im Stich gelassen wird. Auch am Rande der blanken Not versucht sie noch, sich an die Regel zu halten, daß man der Gemeinschaft nicht auf der Tasche zu liegen hat, also für sich selbst zu sorgen und mit dem auszukommen, was einem damit zur Verfügung steht. Sie versucht dennoch, den Kindern ein gesundes, glückliches Leben zu bieten und macht sich große Sorgen um deren einseitige Ernährung. Bei Wohltätigkeitsorganisationen anklopfen ist für sie entwürdigendes Betteln, Schulden machen setzt sie Diebstahl gleich. Mit ihrer Arbeit - zweieinhalb Stunden täglich als Putzfrau in einer Fleischfabrik - hat sie weniger zur Verfügung als sie ohne die Arbeit staatlicherseits bekommen würde. Dennoch wirft man ihr schon in der ersten Szene, im Sozialamt, gerade diese Rechtschaffenheit vor.

L'ASSISTANTE. Ça suffit, madame Barnier!! Je suppose que vous vous moquez de moi ou qu'alors ... vous avez tellement le nez dans vos problèmes que vous ne voyez plus le monde autour de vous!! ... Ici, ce n'est pas la mairie. Je reçois des gens qui ne peuvent même plus payer leur loyer, qui ont plusieurs mois d'arrières et qui vont se faire expulser ... Ceux-là, madame Barnier, et c'est normal, passent AVANT VOUS!! C'est peut-être difficile à entendre mais ... vous avez un salaire, pas gros, mais c'est un salaire! Vous n'avez pas de dettes ...
FRANÇOISE: Parce que JE PAYE TOUT! ... C'est bien pour ça que je n'ai plus rien. Mais ça vous ne voulez pas l' entendre! C'est vrai, je fais passer le logement avant le reste, avant la nourriture, avant tout ... mais je veux pas perdre mon logement! ... J'ai deux enfants ... Si j'ai pas de dossier ... qu'est-ce qu'il faut faire? ...
L'ASSISTENTE. Non, le dossier, n'y comptez pas. Je peux vous donner deux bons alimentaires de cent francs, c'est tout ce que je peux faire. Faut comprendre ... (S. 10-11)

Die Schuldzuweisung auf den in Not Geratenen funktioniert wie seit Jahrhunderten, und es gibt keinen Ausweg. Denn es handelt sich um die Fortschreibung eines uralten gesellschaftlichen Konflikts, der den - jetzt mal einfach gesagt - Schwächeren an seinen Platz verweist und dem Starken den Raum gibt, sich zu entfalten. Ein Raubverhältnis, das seiner Natur nach immer auf Kosten des Schwachen geht, denn Ausbeutung und Unterdrückung hinterlassen - heute als Verschleierung des direkten Raubes in Form von Verzehr oder Verschleiß - in jeder Hinsicht ihre Spuren. Der in diesem Sinne Schuldige hat die Last zu tragen: die ständige Sorge um das materielle Überleben, schlechtere Ernährung, schlechtere Gesundheit, eine schlechtere Bildung und deprimierende Lebensaussichten - der klassische Überlebenskampf, der alle Energien bindet.

Doch Fançoise Barnier ist kein Mensch, der sich so schnell zur Aufgabe drängen läßt. Sie ist überzeugt davon, daß Demokratie funktioniert und daß sie durch ihren persönlichen Einsatz noch etwas bewirken kann.

PREMIÉRE FEMME. (après un silence). T'es allée voter?
SECONDE FEMME. Non. Serge y est allé très tôt ce matin. Pour que ça change!
FRANÇOISE. Pourquoi que ça changerait pas? Évidemment si vous restez toute la journée à attendre vos maris, ça risque pas de changer! Faut bouger quand il y a des problèmes! Si on balance nos députés pour en mettre d'autres, ben oui, ça peut changer! (S. 17)

Sechs Monate später wird sie bei den oben bereits erwähnten Diebstählen erwischt. Die Ware geht zurück an die Läden, zwei Supermärkte verzichten auf eine Anzeige, der dritte will es wissen. Sie kommt pünktlich zur Verhandlung. Wie ein Prozeß abläuft, weiß sie nicht, ihren Pflichtverteidiger lernt sie kurz vorher quasi im Flur kennen. Doch sie hat sich vorbereitet: Sie trägt alle Papiere mit sich, die ihre finanzielle Situation beleuchten und eine Tasche mit dem Nötigsten zum Übernachten...

In ihrer ehrlichen, offenen und arglos-zugewandten Art gelingt es ihr, sowohl den Anwalt vorbehaltlos auf ihre Seite zu ziehen, der auf Notstand plädiert, als auch die Richterin, der sie ihre finanzielle Situation, die Sorge um die Ernährung ihrer Kinder und den Ausnahmezustand eines von Werbeaktionen der Vorweihnachtszeit weichgeklopften Menschen, der sich die angebotenen Waren eben nicht leisten kann, plausibel macht.

LA PRÉSIDENTE. ... Il ressort des pièces du dossier et de celles versées au débat les éléments suivants: placée dans cette situation psychologique d'avoir à bien faire pour ses enfants, tout en enfreignant la loi du vol, madame BARNIER a obéi à un état de nécessité qui lui a paru supérieur. En effet on apprend aux mères, si ce n'est un instinct naturel, qu'elles se doivent de bien nourrir leurs enfants afin de leur assurer un bon développement physique et mental. L'état de nécessité, concept jurisprudentiel, a été élaboré au début du vingtième siècle et concernait à l'époque le vol d'un pain. Il s'agit en l'espèce de viande, mais en raison de l'évolution et de l'éducation alimentaire actuelle, le motif est identique. Il y a donc lieu de constater que l'infraction de vol reprochée à madame BARNIER n'est pas constituée, celle-si se trouvant lors des faits obéissant à un état de nécessité. (S. 54-55)

Die Richterin spricht Françoise in Worten frei, die diese erst begreift, als der Gerichtsdiener sie ihr erklärt und ihr zu verstehen gibt, daß sie einfach nach Hause gehen kann.

Nun ist es damit nicht getan. Françoise, die gehofft hatte, das Geschehen vor ihrem Arbeitgeber und sozialen Umfeld im Verborgenen zu lassen, findet sich in einer Medienkampagne wieder, bedrängt von der Presse, die Ultrarechte kocht ihr Süppchen, die Richterin gerät unter Beschuß. Ihr Urteil wird letztlich deswegen aufgehoben, weil man den Präzedenzfall befürchtet und hat damit - betrachtet man die gesellschaftliche Entwicklung - natürlich nicht unrecht. Der Verstoß gegen die herrschende Ordnung, der Mundraub in diesem Fall, muß unbedingt geahndet werden. Denn es darf auf keinen Fall ruchbar werden, daß es vielleicht - und sei es nur das moralische Rechtsempfinden - schlimmer ist, einen Menschen in Not und sich in ständiger Sorge durchschlagen zu lassen, als die Handelsware einer profitorientierten Supermarktkette zu stehlen. Der Delinquent muß unbedingt durch die offenbare Strafe und Schuld in das gesellschaftliche Gefüge zurückgebracht werden, damit es weiterhin ungebrochen funktioniert und der möglicherweise entstehende Zorn im einfachen Volk gleich den richtigen Dämpfer erhält. Françoise wird so auch folgerichtig zu einer Geldstrafe von 3000 Franc - auf Bewährung - verurteilt.

Der Fall ist deshalb so brisant, und das ist in dem Film/Scénario gut herausgearbeitet, weil hier die Wohlanständigkeit gegen die Wohlanständigkeit steht und ganz deutlich wird, daß der Schwächere, der sowieso Benachteiligte, verliert und nicht die geringste Chance hat. Und deshalb muß ein Exempel statuiert und die Justizmühle noch einmal losgetreten werden; die Strafe muß sein. Sonst sähe sich die Gesellschaft in der Rolle des Schuldigen, Gesetz hin, Gesetz her. Denn gesellschaftlicher Wohlstand ist immer von allen gemeinsam, wenn nicht sogar zum größten Teil von den Besitzlosen, die allein ihre Arbeitskraft zum Einsatz bringen können, erwirtschaftet; den Reichen gibt es ohne den Armen nicht, nur der Arme hat nichts davon.

In seiner Konsequenz führt der Film zu einer Diskussion, die sich um die Einführung oder stärkere Berücksichtigung einer Art Mundraubparagraphen drehen würde. Doch auch dies wäre immer noch Kennzeichen einer Rechtstheorie und -praxis, die den in Not Geratenen die Schuld zuweist und nicht jenen, die sie gesellschaftlich verursacht haben. Dann wären ganz andere Fragen zu stellen, als auch dieser Film sie nahelegt.

Das Thema ist, wie man eigentlich nicht immer wieder betonen muß, damals wie heute hochaktuell. Der Film bzw. das "Scénario" bietet in jeder Hinsicht ein weites Feld für die Beschäftigung mit der französischen Sprache wie mit brennenden gesellschaftlichen Fragen.

Sicher und leider wird dieser Band und Stoff nicht die gleiche Popularität erreichen, wie beispielsweise das 70er-Jahre-Muß des Französischunterrichts "Les petits enfants du siècle" von Christiane Rochefort und seine Verfilmung. Das mag zum einen daran liegen, daß die Form und Materie hier schwieriger sind: Ein Filmdrehbuch stellt sich etwas sperriger dar als ein Roman, der neben den behandelten sozialen Fragen noch einen großen Unterhaltungswert hat. Darüber hinaus könnte man durchaus in der vertieften Diskussion, wie sich oben bereits angedeutet hat, auch in der Schule auf einige möglicherweise unerwünschte, zumindest gedankliche Schlußfolgerungen kommen, die unter Umständen Formen der Notwehr wie zivilen Ungehorsam und Robin- Hood-Aktionen hinter sich lassen.

Doch muß man auch berücksichtigen, daß das Französische in den Schulen wie im gesellschaftlichen Leben heute eine eher geringe Rolle spielt und sich immer an eine kleine, privilegierte Zielgruppe wendet, die sich überhaupt in dieser Kombination mit gesellschaftlich brisanten Fragen beschäftigen kann und sie in der Regel ihren eigenen Interessen gemäß beurteilt. Mehr als Gedankenspiele sind also kaum zu erwarten. Anders wäre das mit einer deutschen Fassung dieses Films, die ein breiteres Publikum erreichen würde. Insgesamt sind Film und Buch, letzteres nicht zuletzt auch wegen der gebotenen Zusammenstellung, rundum zu empfehlen.

Anmerkung: Der Film "La Voleuse de Saint-Lubin" ist als DVD mit interaktivem Menu bei Lingua-Video, 53639 Königswinter, erhältlich.


Claire Devers, Jean-Louis Benoît
La Voleuse de Saint-Lubin
Scénario
Herausgegeben von Karl Stoppel
Reclam Verlag jun., Stuttgart
Universal-Bibliothek - Fremdsprachentexte Französisch
126 Seiten, 3,40 Euro
UB 9125, ISBN 3-15-009125-X