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REZENSION/296: Georg Fülberth - G Strich (Politische Ökonomie) (SB)


Georg Fülberth


G Strich

Kleine Geschichte des Kapitalismus



Paradoxerweise scheint der Bedarf an Aufklärung über die herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung desto geringer zu sein, je umfassender und tiefgreifender ihre Wirkung ist. 15 Jahre nach dem Untergang des Großteils der sozialistischen Staatenwelt ist die hegemoniale Stellung des Kapitalismus unbestrittener denn je. Zwar war die These vom Ende der Geschichte das voreilige Ergebnis einer schon aus Gründen der eigenen Bestandssicherung verabsolutierten neokonservativen Ideologie, doch wer das Primat der die Menschheit immer drastischer in Gewinner und Verlierer scheidenden und jeden noch nicht der Verwertung erschlossenen Winkel und Stoff der Erde penetrierenden kapitalistischen Marktwirtschaft grundsätzlich bestreitet, wird schnell als utopischer Fantast diffamiert und für politisch unzurechnungsfähig erklärt.

Der Publizist und ehemalige Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg, Georg Fülberth, lehnt sich mit seinem Buch "G Strich - Kleine Geschichte des Kapitalismus" keineswegs so weit aus dem Fenster. Er legt mit seiner Analyse der theoretischen Grundlagen des Kapitalismus und ihrer Anwendung auf eine Periodisierung seiner bisherigen Entwicklung jedoch das Fundament für eine Debatte, die sich nicht wie die von Franz Müntefering angestoßene Kampagne gegen die sogenannten Heuschrecken in polemischen Ausfällen mit nationalistischem Unterton erschöpft, um den Bestand kapitalistischer Ordnung zu sichern. Fülberth enthält sich persönlicher Werturteile weitgehend und stellt in einer breit angelegten Darstellung Theorieansätze vor, deren Spektrum von Karl Marx und Immanuel Wallerstein über Max Weber und John Maynard Keynes bis zu Adam Smith und Joseph A. Schumpeter reicht, um nur einige der referierten Ökonomen zu nennen.

Dabei erschließt er dem Leser systematisch das begriffliche Handwerkzeug, ohne das sich keine ernstzunehmende Diskussion zum Thema führen läßt, und gelangt anhand der Frage nach dem Ursprung des Gewinns in einem ausschließenden Verfahren zu einer Definition des Kapitalismus, die das Spezifische dieser Wirtschaftsform in der Akkumulation des Kapitals, laut Werner Hofmann der "regelmäßigen, systematischen Rückverwandlung von Gewinn in Produktivvermögen" (S. 79), ansiedelt. Fülberths Definition erheht das Privateigentum zur Voraussetzung jeder Erzielung von Gewinn und damit aller Akkumulation, so daß die herrschende "Funktionsweise von Gesellschaften" (S. 78) soziale Ungleichheit konstitutiv festschreibt.

Dies wird insbesondere von den Verfechtern der neoliberalen Variante des Kapitalismus nicht bestritten, sie begrüßen die Überlebenskonkurrenz in ihrer räuberischen Dynamik viel mehr als zentrale Produktivkraft, die es unbedingt zu stimulieren gelte. Kapitalismus als Wirtschaft, "die permanent im Ungleichgewicht ist" (S. 68), erzeugt damit Mängel, die nicht etwa notgedrungen in Kauf zu nehmende Nachteile einer ansonsten idealen Wirtschaftsform, sondern systemische Voraussetzungen ihres Funktionierens sind. Wo sich bereits die postulierte Möglichkeit gleichen Tausches als Folge einer Verallgemeinerung im Kern unvergleichlicher Produktionsweisen im Interesse Dritter in Frage stellen läßt, gereicht die gezielte Herstellung eines möglichst steilen Gefälles zwischen arm und reich allemal zu einer menschenverachtenden Strategie, deren konkrete Folgen sich an der großen Zahl der verhungernden, verdurstenden und an vermeidbaren Erkrankungen sterbenden Menschen bemessen lassen.

Verlustbilanzen zu erstellen liegt nicht im Interesse der tonangebenden Agenten dieses Wirtschaftssystems, um so mehr ist es Aufgabe einer kritischen Wissenschaft, die Defizite der herrschenden Ordnung aufzuzeigen. Der Autor tut dies auf eher zurückhaltende Weise, doch wer die von ihm geschilderte Geschichte des Kapitalismus mitvollzieht und die Bedingungen seiner aktuellen neoliberalen Phase studiert, kommt nicht umhin, den Widerspruch zwischen den zusehends überflüssigen Verkäufern ihrer Arbeitskraft und den Kapitaleignern als nach wie vor inakzeptables und daher zu überwindendes Problem zu begreifen. Um so auffälliger ist die Abwesenheit von Bewegungen, die das System auf grundlegende und revolutionäre Weise in Frage stellen, was Fülberth als "eine in der Geschichte seiner industriellen Phase völlig neue Situation" (S. 287) herausstellt.

Angesichts der damit konstatierten Totalität kapitalistischer Hegemonie ist es von besonderem Interesse, wie der Autor den "Untergang der sozialistischen Gegenwelt" (S. 288) analysiert und die Theorien über das "Ende des Kapitalismus" (S. 293) bewertet. Hier bezieht Fülberth Position gegen die Zusammenbruchstheorien, die sich seiner Ansicht nach als irrig erwiesen haben, weil sie "den Übergang von einer Form des Kapitalismus in eine andere mit einer Endkrise" (S. 298) verwechselten. Zwar stellt der Autor keine Prognose über künftige Ergebnisse der gesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung und gibt auch keiner der vorgestellten Transformationstheorien den Zuschlag, attestiert dem Kapitalismus allerdings "eine hohe Fähigkeit (...), die Gesellschaft (einschließlich ihres Naturhaushalts) jenseits seiner Betriebsweise sich so anzuverwandeln, daß sie nicht zu einem Hindernis, sondern zu einer Voraussetzung seines Funktionierens wurde" (S. 299).

Hier ist allerdings die Frage zu stellen, ob es sich bei der Qualifizierung der herrschenden Wirtschaftsordnung angesichts der von ihr produzierten Kontrollverluste noch um eine Form der über Geld vermittelten Tauschökonomie handeln wird, die den Titel Kapitalismus verdient. Schon jetzt bilden sich Formen technokratischer und etatistischer Verfügungsgewalt aus, die die Bedeutung des Privateigentums und des Kapitaleinsatzes mit dem Argument demographischer und ressourcentechnischer Sachzwänge mindern. Angesichts der wachsenden Zahl vom Erwerbsleben völlig ausgegrenzter Menschen und der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Konflikte, der durch klimatische und agrartechnische Bedingungen gefährdeten Nahrungsmittelerzeugung und des Anwachsens durch menschlichen Raubbau und kriegerische Gewalt verödeter Territorien ist nicht auszuschließen, daß sich Formen der unmittelbaren Verwertung des menschlichen Lebens und seiner natürlichen Voraussetzungen entwickeln, die den anarchischen Charakter kapitalistischer Ökonomie, die anonyme Verfügbarkeit von Geld, ohne Anspruch auf egalitäre Vergesellschaftung im sozialistischen Sinne aufheben und das Motiv des Gewinnstrebens auf die per Belohnung und Bestrafung regulierte Gewährleistung relativer Überlebenssicherheit reduzieren.

Gemeint ist eine unmittelbare, den Menschen im ganz physischen Sinne zum Werkstoff wie Werkzeug der Produktivkraftentwicklung machende Form des Zugriffs, die sich etwa in biomedizinischen Praktiken fremdnütziger Verwertung, in an die Gewähr von Sozialleistungen gekoppelte Zwangsarbeit oder der allgegenwärtigen Kontrolle individuellen Verhaltens und daraus abgeleiteter administrativer Lenkungsfunktionen manifestiert. Die Teilhaberschaft an diesem System wird über die generalisierte Bezichtigung des einzelnen als Urheber all seiner Lebensprobleme und einer Struktur der Belohnung und Bestrafung sichergestellt, die die Gewährleistung oder den Entzug von Versorgungssicherheit zur Währung der Zukunft machen. Eine wichtige Innovation, die eine solche Entwicklung begünstigt, ist die vollständige Transparenz individuellen Eigentums und der bargeldlose Zahlungsverkehr. Was einige sozialistische Theoretiker als Voraussetzung für eine sozial gerechte Verteilungsordnung propagieren, könnte je nach Lage der Machtverhältnisse auch in das Gegenteil, in die optimierte Verfügbarkeit des einzelnen durch ein ausbeuterisches System, umschlagen.

Auch wenn ein systematisch aufgebautes und didaktisch durchstrukturiertes Werk zum Thema Kapitalismus nicht jedermanns Sache sein mag, ist die Lektüre des Buches "G Strich" unbedingt zu empfehlen. Wer nicht völlig firm in den theoretischen Grundlagen der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftordnung und ihrer historischen Entwicklung ist, was sicher nur die wenigsten behaupten können, der erarbeitet sich mit dem aufmerksamen Studium der Schrift Fülberths das Rüstzeug, dessen es bedarf, der von den Zumutungen der nicht nur ökonomisch, sondern auch sozialtechnokratisch wirksamen Machtkonzentration des Kapitalismus herausgeforderten emanzipatorischen Gegenbewegung zu neuem Mut zu verhelfen.


Georg Fülberth
G Strich
Kleine Geschichte des Kapitalismus
PapyRossa Verlag, Köln, 2005
Zweite, verbesserte und überarbeitete Auflage
314 Seiten, Euro 19,80
ISBN 3-89438-315-1

14. Dezember 2005