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REZENSION/319: Petra Gehring - Was ist Biomacht? (Biomedizinkritik) (SB)


Petra Gehring


Was ist Biomacht?

Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens



Wer die biomedizinische Konditionierung des Menschen auf den Begriff ihrer sozialen Verträglichkeit und politischen Verfügbarkeit bringen will, kommt an der Machtfrage nicht vorbei. Die technische Zurichtung der Physis auf die Wiederverwertung fremder Organe, die mikrobiologische Herstellung menschlichen Gewebes, die extrauterine Zeugung menschlichen Lebens und die potentiell mögliche Konstruktion des Menschen durch humangenetische Manipulation erzeugen ökonomische und administrative Begehrlichkeiten, in denen sich Machbarkeit fugenlos zur Machtausübung verdichtet. Auf den Leib des Menschen fokussieren sich zahlreiche Interessen, die keineswegs immer mit dem Autonomieanspruch des Betroffenen konform gehen.

Die von der Darmstädter Philosophin Petra Gehring zum Titel des vorliegenden Buches erhobene Frage "Was ist Biomacht?" betrifft den Widerspruch zwischen persönlicher Existenz und fremden Nutzungsansprüchen. Dabei verläuft die Bruchlinie kaum mehr parallel zur Hautoberfläche, sondern das vermeintlich Eigene wird tief in den leiblichen wie sozialen Körper hinein von den Interessen anderer in Anspruch genommen. Von Gehring benannte Projekte der Biomacht wie "die Bevölkerungspolitik, die sozialhygienische Gattungsverbesserung, die genetische Qualität des Einzelnen und der Art" generieren "biologischen Mehrwert" (S. 10) keineswegs nur ökonomischer Art. Das durch die biomedizinische Entwicklung freigesetzte Potential zur Verlängerung des Lebens, zur sozial- und sicherheitspolitischen Lenkung der Gesellschaft, zur kontrollierten biologischen Reproduktion und Veränderung der Physis für Arbeit und Krieg betreffen den Menschen auf so grundlegende Weise, daß die Kategorien wirtschaftlicher Verwertbarkeit nur bedingt zur Analyse dieses historischen Umbruchs taugen.

Gehring beruft sich bei der Nutzung des Begriffs Biomacht auf Michel Foucault, der damit eine spezifische historische Kategorie beschreibt, die die gesellschaftliche Behandlung des physischen Lebens unter besonderer Berücksichtigung der Sexualität meine und eine von mehreren Machtformen sei. Die Autorin will den Begriff wörtlich verstanden wissen, denn er betreffe laut Foucault "nichts geringeres als den Eintritt des Lebens in die Geschichte [...], in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken" (S. 12). Seit dem 18. Jahrhundert habe der Einfluß der Biologie auf die Politik stetig zugenommen und im 19. Jahrhundert ein Verständnis der Moderne vom Menschen "als Lebenskontinuum, als Gesamtheit von Erbeigenschaften, als Biomasse, als Genpool" (S. 12) geschaffen, das im weiteren Verlauf eugenischen und rassistischen Konzepten Vorschub geleistet habe.

Gehring geht in Anlehnung an Foucault davon aus, daß sich die Biomacht zur Herrschaftsausübung nicht der klassischen "Verbotslogik" noch einer "bloßen Sicherungs- und Stabilisierungslogik" bedient, sondern daß sie durch eine "Lebens-Steigerungslogik" ausgezeichnet wäre, die vor allem "regulatorischer Natur" (S. 13) sei. Dieser Differenzierung zwischen staatlicher Disziplinargewalt und biologischem Optimierungsanspruch gemäß erklärt die Autorin, warum sie den Begriff der Biomacht dem der Biopolitik vorzieht:

Macht wird nicht von Menschen geschaffen, sondern tut sich als Ermöglichungsbedingung von Sinnprozessen absichtslos auf. Auch an diesem Punkt kann man den Konzeptbegriff Biomacht von der "Biopolitik" klar unterscheiden: Biomacht wird nicht eigens 'ausgeübt'. Sie kennt keine Machthaber - allenfalls Profiteure. Sie steckt nicht erst in Handlungen, sondern bereits in der Wahrnehmung, in der Kommunikation, im erfahrbaren Sinn. In letzter Instanz sollten Machtprozesse daher strikt täterlos gedacht werden, sonst verkennt man ihre Wucht und wirklichkeitsbildende Kraft.
(S. 15)

Warum die Autorin ihre Arbeit unter die Prämisse eines Verständnisses von Machtausübung stellt, das den herrschaftsförmigen Charakter biomedizinischer Zurichtung einschränkt, ist angesichts ihres kritischen Ansatzes nicht nachzuvollziehen. In den zehn Kapiteln, in denen sie wesentliche Fragen der biopolitischen Entwicklung abhandelt, wird durchaus deutlich, daß die biologische Fremdverfügung des Menschen ohne politische Ermächtigung ebensowenig möglich wäre wie seine Ausbeutung durch Arbeit ohne eine auf Privateigentum basierende Gesellschaftsordnung. Gerade der von Gehring postulierte wertbestimmende Charakter des Lebens bietet Anhaltspunkte für eine Form der Machtausübung, der die Verfügungsgewalt über den Körper des einzelnen, sei es hinsichtlich der für sein Überleben erforderlichen Ressourcen, sei es im direkten Zugriff auf seine leibliche Substanz, sei es durch die technokratische Verarbeitung seiner Daten, zugrunde liegt.

So vertritt die Autorin, daß die Zirkulation der Gewebe und Organe zwischen verschiedenen Personen nur bedingt des Mediums Geld bedarf. Es ginge "um die Gewinnung von Stoffen, die 'Leben' wert sind - biologisches, physisches Leben" (S. 18.), stellt Gehring fest und legt damit den Finger in die Wunde eines kreatürlichen Raubes, der etwa durch die Möglichkeiten der Transplantationsmedizin kannibalistischen Charakter angenommen hat. Ihrer Feststellung, daß Geld dabei nur Mittel zum Zweck sei, ist allemal zuzustimmen. Wo Leben - oder besser Überleben - zur zentralen Währung wird, da betrifft Biomacht unmittelbar die Frage danach, wer sich zu wessen Lasten bessere Lebenschancen verschafft. So geht die hierzulande früher oder später Einzug haltende Kommerzialisierung der Organspende, der durch den brutalen Organraub in den Elendsgebieten der Welt längst der Weg gebahnt ist, Hand in Hand mit der Vorverlagerung des Todeszeitpunkts zwecks vergrößerter Organernte. Wissenschaftliche Expertisen ordnen sich Nutzungsinteressen nach, so daß am Ende der naheliegende Eindruck, der warme, durchblutete und sich rudimentär bewegende Körper lebe, per Dekret für falsch erklärt wird.

Die Reproduktionsmedizin als Einfallstor der humangenetischen Optimierung des Menschen könnte eines Tages frei nach Aldous Huxley eine biologische Klassengesellschaft schaffen, in der die genetische Ausstattung die individuellen Lebenschancen und -grenzen festlegt. Heute schon wird der Kampf darüber, wer die physischen Lasten der Reproduktion trägt, in Form biologischer Dienstleistungen wie der durch Hormongaben induzierten Produktion von Eizellen für Forschung und In-vitro-Fertilisation oder das Austragen von Kindern durch sogenannte Leihmütter im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Rücken von Frauen ausgetragen. Im Verhältnis zwischen Auftraggeberin und Verkäuferin ihres Leibes manifestiert sich der Mehrwert der "Lebens-Steigerungslogik" als Verschleißminimierung für diejenige, die der anderen die physische Last des Kinderkriegens aufbürden kann. Für diesen Zugewinn der Privilegierten steht eine internationale Klasse von Lieferanten biologischer Dienstleistungen bereit, denen das Kapitalverhältnis auf eine Weise auf den Leib rückt, die an die Auswüchse dekadenter Kulturen erinnert, in denen der Hoffnung auf magische Lebensverlängerung Kinder geopfert wurden.

Petra Gehring liefert in ihrem Buch eine Fülle interessanter Beiträge zur Illustration des Potentials an physischer Verwertung wie administrativer Kontrolle des vergesellschafteten Menschen, die der Fortschritt der Biomedizin geschaffen hat. Dabei bedient sie sich der Paradigmen Substanz und Information, um die biologischen wie sozialtechnokratischen Nutzanwendungen zuerst voneinander abzugrenzen, diese jedoch in einem weiteren Schritt wieder als sich gegenseitig bedingende Parameter individueller wie gesellschaftlicher Existenz zusammenzuführen. So prognostiziert sie, daß die sicherheitstechnische Vermessung des Menschen durch die Biometrie der humangenetischen Empirie ein neues Forschungsfeld eröffnen wird, in dem "Korrelationen von Phänotyp und Genotyp" (S. 32) hergestellt werden:

Treffen in der Stammzelltechnologie Organtransfer und Reproduktionsbiologie zusammen, dann treffen sich in der Biometrie das Passbild und das humangenetische Screening. Auf nahezu perfekte Weise zeigt sich hier, wie das Körper-Schema des Bio-Zeitalters funktioniert. Es folgt einer biotechnischen und zugleich sozialtechnischen Maxime. (...) Die Übertragung der Stoffe, die Vernetzung der Daten: beides dient einem Verfügbarmachen, einer Bahnung und Optimierung des technischen Zugriffs. Damit wird produktiv und aktiv, was bisher in einem wirtschaftlichen Sinne nur als die reproduktive und passive Seite des Menschen gegolten hat: seine Stofflichkeit, seine Biologie. Eben dieser biologische Körper wird nun in Zirkulation versetzt. Er erscheint nicht nur im Medium einer Ökonomie, er ist für eine oder vielleicht mehrere neue Ökonomien selbst zum Medium geworden.
(S. 32)

Die Stärke des Buches besteht darin, das die verschiedenen biomedizinischen Nutzanwendungen stets in einen Zusammenhang zwischen technisch-medizinischer Ratio, ökonomischer Verwertung und sozialer Kontrolle gestellt werden, an dem die Einfallstore der Biomacht transparent werden. Wenn es zutrifft, daß "die neue Universalität des Genom-Paradigmas" darin besteht, "Stofflichkeit und Zeichencharakter, Substanz und 'Bedeutung' aneinander zu binden, so dass letztlich alles am Leib ineinander übersetzbar erscheint" (S. 33), dann ergeben sich daraus Möglichkeiten zur Qualifizierung der Verfügungsgewalt über den einzelnen Menschen, die es allemal angeraten erscheinen lassen, den Anfängen zu wehren.

Um sich dafür zu bemitteln, lohnt es sich, Gehrings dem wissenschaftlich nicht vorgebildeten Leser nicht immer leicht verständlichen Ausführungen aufmerksam zu folgen. So stellt sie die per Verrechtlichung vorangetriebene Kapitalisierung des Körpers als Folge eines Eigentumsanspruches dar, der historisch völlig neue Zugriffsmöglichkeiten eröffnet, die keineswegs dem nominellen Eigner zugute kommen müssen. Wenn das Massenscreening der humangenetischen Biobanken "den stofflichen und den sozialen, 'habituellen' Leib der Bevölkerung verknüpfen" (S. 71), dann ergeben sich aus der vorherrschenden sozialdarwinistischen Systemlogik Kriterien der Inwertsetzung, denen die Selektivität des biologischen Unwerts auf den Fuß folgt.

In der Debatte um die Nutzung der Stammzelltechnologie überführt die Autorin die Sichtweise der christlichen Lebensschützer eines Biologismus, der nicht nur Frauen entmündigt und ausbeutet, sondern der biomedizinischen Verwertung dessen Vorschub leistet, was angeblich geschützt werden soll. Im kausalen Anspruch humangenetischer Forschung und der angeblichen Optimierung biologischer Reproduktion durch den labortechnischen Zeugungsvorgang erkennt sie einen Determinismus, der die soziale Bedeutung der Elternschaft hinter ihre erbbiologische Funktion zurücktreten läßt. Die Bioethik, die angeblich der räuberischen und eliminatorischen Entuferung des neuen Biologismus Einhalt gebieten soll, erweist sich in ihren Ausführungen als Expertokratie, die die biomedizinische Innovation moderiert, um jeden emanzipatorischen Widerspruch verstummen zu lassen.

Die Gefahr einer Renaissance eugenischen Denkens unterstreicht Gehring, indem sie an die medizin- und sozialwissenschaftlichen Wurzeln der Menschenzüchtung erinnert und den rassistischen Biologismus des NS-Regimes als mittelbare Folge des seit dem 19. Jahrhundert virulenten biopolitischen Denkens ausweist. Die Aktualität des Züchtungsthemas in der humangenetischen und reproduktionsmedizinischen Optimierungslogik läßt es allemal geboten erscheinen, den das Feld dieses Diskurses beherrschenden völkischen Rassismus der Nazis zugunsten der Kritik am Kartell des wissenschaftlichen, sozialpolitischen und kapitalistischen Interesses an genetischer Selektion und Optimierung auf seinen angemessenen Platz zu verweisen. Ansonsten verschwindet die Zukunft der biologisch formierten Gesellschaft, in der ein utilitaristisch bestimmter Lebenswert über Lebensmöglichkeiten und Lebensdauer des einzelnen befindet, hinter dem Antagonismus von Totalitarismus und Liberalismus, der sich angesichts der konkreten Überlebensnot von Millionen Menschen längst als zweckdienliche Nebelwand erwiesen hat.

Wo, wie Gehring unter Widerlegung der präsentierten Erkenntnisse beschreibt, Hirnforscher mit ihrer These von der nichtvorhandenen Willensfreiheit des Menschen auf breite Resonanz stoßen und sich infolgedessen für einen grundlegenden Wandel der Rechtskultur zugunsten eines Präventivstrafrechts stark machen, das der Kriminalisierung unbescholtener Bürger Vorschub leistet, wo renommierte Mediziner prognostizieren, daß die natürliche Zeugung eines Kindes eines Tages aufgrund des unkalkulierbaren Risikos möglicher Erbschäden als verantwortungslos gilt, wo die Verfechter der Euthanasie Selbstbestimmung predigen, während sie - was die Autorin als "Sterbehilfe-Paradoxie" bezeichnet - Fremdtötung als probate Lösung für Menschen propagieren, die, im bioethischen Jargon gesprochen, nicht mehr über genügend "Benefit" verfügen, da eröffnet sich eine Zukunft, in der die Durchsetzung fremdnütziger Interessen hinter die Anfänge humanistischen Denkens in der griechischen Antike zurückführen könnte.

Die Frage nach der Biomacht stellt sich also mit großer Dringlichkeit, und sie betrifft nicht nur technische Machbarkeit, ökonomische Verwertung und ethische Legitimation, sondern auf ganz elementare, eben leibliche Weise die Frage nach der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Petra Gehring liefert die Einstiege und Zugänge in das komplexe Feld biomedizinischer Anwendungen und biologistischer Ideologie, die man benötigt, der positivistischen Effizienzdoktrin eine emanzipatorische Position entgegenzustellen.


Petra Gehring
Was ist Biomacht?
Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens
Campus Verlag, Frankfurt/Main, 2006
240 Seiten
ISBN-10 3-593-38007-2
ISBN-13 978-3-593-38007-0


09.04.2006