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REZENSION/333: Anna Geis (Hrsg.) - Den Krieg überdenken (Politik) (SB)


Anna Geis (Hrsg.)


Den Krieg überdenken

Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse



Den heiligen Schwur der Väter, daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe, interpretieren die Nachgeborenen auf die eigentümliche Weise, den Verteidigungsauftrag in fernen Ländern zu exekutieren. Diese von langer Hand geplante Eskalation ist eingebettet in die strategische Phase globaler Herrschaftssicherung im Gefolge der Führungsmacht USA, die in einem unumstößlichen Ordnungsgefüge ihre Vollendung finden soll, das das Überleben der Eliten zu Lasten millionenfacher Opfer sichert. Weltweit sterben derzeit jedes Jahr etwa 10 Millionen Säuglinge und Kleinkinder unter fünf Jahren an Mangelernährung, schlechter Hygiene und vor allem fehlendem sauberen Wasser. Insgesamt erliegen jährlich 24 Millionen Menschen chronischen Krankheiten, 17 Millionen sterben an Infektionskrankheiten. Wer könnte da noch von einem Frieden sprechen, der sich grundsätzlich von den Schrecken des Krieges unterscheide! Wollte man tatsächlich etwas gegen das Todesrisiko auf dieser Welt unternehmen, stünde der Kampf gegen schlechtes Trinkwasser und mangelnde Hygiene in der Dritten Welt unangefochten an erster Stelle.

Dessen ungeachtet hat der "Kampf gegen den Terror" alle anderen Erwägungen in einem Maße verzerrt und verdrängt, daß man weit über Propaganda hinaus von einer Denkkontrolle sprechen kann. Mit dem Konstrukt des "Terroristen" entmenschlicht man das personifizierte Potential des Widerstands gegen die weltherrschaftliche Durchdringung aller Gesellschaften und rottet präemptiv aus, was immer sich dem Streben nach vollendeter Verfügungsgewalt entgegenstemmen könnte. Schätzungen zufolge sind seit Beginn des Angriffskriegs der Alliierten weit über 100.000 Iraker getötet worden, ohne daß ein Sturm der Entrüstung den vorgeblichen "Anti- Terror-Kampf", der dieses Blutbad angerichtet hat, samt seinen Protagonisten hinweggefegt hätte.

Es bedarf folglich ohne Zweifel neben überlegener Waffengewalt eines nicht minder hochgerüsteten Arsenals an Legitimationen bellizistischen Machtausbaus, die als Verschlußbegriffe kaum noch hinterfragte Begründungszusammenhänge konstruieren. Da müssen angebliche "Terroristen" oder nicht vorhandene Massenvernichtungswaffen herhalten, erklärt man Humanität, Menschenrechte oder Stabilität für bedroht, stehen Handel und Versorgungssicherheit auf dem Spiel, schreitet man gar säbelrasselnd zur Friedenssicherung. Und obgleich diese Vorwände jeden kritischen Geist beleidigen, scheint der Verfall von Denk- und Lernfähigkeit so weit fortgeschritten zu sein, daß selbst die Aufdeckung solcher Lügen nur dazu führt, sich ihrem Urheber in Anbetung seiner Stärke um so unterwürfiger anzudienen.

Der von Anna Geis herausgegebene Sammelband "Den Krieg überdenken" ist als sechster Beitrag der Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft erschienen. Er geht aus einer Tagung hervor, die von der DVPW vom 25.-27. März 2004 in Kooperation mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main veranstaltet wurde. Diese Konferenz unter dem Titel "Neuere Kriegstheorien - eine Zwischenbilanz" führte Vertreterinnen und Vertreter aus den internationalen Beziehungen, der Politischen Theorie und Ideengeschichte, der Politischen Philosophie und der Soziologie zusammen, um eine gemeinsame Reflexion über das Thema "Krieg" anzustoßen.

Dabei gilt es zur Eröffnung der Diskussion darzulegen, wieso der Begriff des Krieges im akademischen wie politischen Diskurs außerordentlich umstritten ist und worin die Schwierigkeiten einer konzeptuellen Bestimmung liegen. Wissenschaftliche Arbeit und politische Praxis sind dabei nicht nur eng verzahnt, sondern fortgesetzt innovativen Phänomenen ausgesetzt, die zu heftigen Kontroversen über Selbstmandatierung, sogenannte humanitäre Interventionen oder mit "Terrorgefahr" gerechtfertigten Angriffskriegen geführt haben, die ein großes Echo in der Publizistik, aber auch beträchtliches Unbehagen unter Wissenschaftlern auslösen. Bedrohung wird neu definiert und wahrgenommen, Ordnungsbedarf weitreichend reklamiert, Intervention und Prävention gefordert und praktiziert. Der Idealtypus des klassischen zwischenstaatlichen Krieges ist auf die jüngere Entwicklung allenfalls bedingt anzuwenden, zumal privatisierte, unterschwellige und eng abgegrenzte Gewaltstrategien von den herkömmlichen Konzepten nicht erfaßt werden.

Zur Komplizierung trägt maßgeblich bei, daß einerseits Anschläge zu Kriegshandlungen erklärt und andererseits Kampfeinsätze begrifflich verschleiert und im Sinne einer Weltinnenpolitik als Polizeiaktionen, die man als Vollzug einer kosmopolitischen Rechtsdurchsetzung handhabt, ausgewiesen werden. Konzepte wie "Sicherheit" oder "Verteidigung" sind längst nicht mehr auf das eigene Territorium bezogen, sondern global und präemptiv definiert. Vom alten bundesrepublikanischen "Pazifismus" ist nicht nur keine Rede mehr, vielmehr wird heute militärisch gestützte "Global Gouvernance" als friedensstiftend und entwicklungsfördernd verkauft.

Die Frage, ob in einer Konfliktzone schon bzw. noch Krieg herrsche, ist schwerer denn je überzeugend zu klären, da die Antwort je nach Interessenlage und konzeptionellem Ansatz unterschiedlich ausfällt. Damit geht eine manchmal inflationäre, dann wieder leugnende Verwendung des Kriegsbegriffs einher. Wohl ist man sich weitgehend einig in der Abkehr von zeitlos gültigen Modellen, doch bietet die als Alternative aufgefaßte Zuflucht zu einer Klassifizierung in Begriffspaaren wie Staaten- und Bürgerkrieg, Angriff und Verteidigung, gerecht und ungerecht, symmetrisch und asymmetrisch oder kleiner und großer Krieg allenfalls eine vorläufige Strukturierungshilfe, um deren Handhabung es im konkreten Einzelfall zwangsläufig einander widersprechende Auffassungen gibt.

Auch im völkerrechtlichen Sinn ist der Konsens über Konventionen und Regeln einem rasanten Wandel unterworfen, was indessen beiläufig dazu führt, auch idealisierende Annahmen über die Vergangenheit zu revidieren. Dabei kann es nicht ausbleiben, zu kontroversen Ansichten zu gelangen, ob sich eher der Charakter des Krieges oder womöglich vor allem dessen Wahrnehmung verändert hat. Vielleicht reicht der gegenwärtige Wissensstand nicht aus, doch mehr und systematischere Forschungsarbeit machte eine Erhebung valider Daten und deren kulturelle Dechiffrierung zu einem durchaus riskanten Unterfangen.

Es lassen sich indessen Kontroversen zusammenfassen, die sich um die Begriffe und Theorien der behandelten "neuen", "kleinen", "gerechten" und "demokratischen" Kriege entspinnen. So gilt es beispielsweise zu klären, wie hoch der Anteil von Kriegen "neuen" Typs am gesamten Kriegsgeschehen sein mag, um die in der einschlägigen Literatur oftmals unbefriedigend belegten, aber dennoch behaupteten Tendenzen zu verifizieren oder zu verwerfen. Da jeder Erhebung von Datensätzen Zuordnungskriterien vorangehen müssen, die ihrerseits strittig sein können, herrscht an Diskussionsstoff zweifellos kein Mangel. Man denke nur an den traditionellen Begriff des "Bürgerkriegs", der sich auf politisch- ideologisch motivierte Konfliktparteien eines existierenden Staats bezieht. Diese Voraussetzungen sind jedoch bei innerstaatlichen Konfikten seit den neunziger Jahren angesichts mitunter kaum noch regierter Territorien, vorwiegend ökonomisch orientierter Akteure und nicht zuletzt massiver ausländischer Interessen weniger denn je gegeben. Was dabei als Entwicklung interpretiert wird, definiert sich häufig an der Unterscheidung zu robuster Staatlichkeit und wird in Begriffe wie Entstaatlichung, Entpolitisierung, Entterritorialisierung, Entgrenzung, etc. gefaßt.

Hinsichtlich der Gewaltakteure zeichnet sich eine Diversifizierung mit wachsendem Anteil nichtstaatlicher Kräfte wie Kriegsherrn, private Sicherheitsfirmen, Söldnergruppen, Banden oder Kindersoldaten ab. Gewaltmotiv kann dabei durchaus die Perpetuierung des Kriegsgeschehens in wechselnder Intensität sein. Die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten ist vielfach kaum noch möglich, während ungezügelte Grausamkeit herrscht, die sich in barbarischen Greueln austobt. Zu den unmittelbaren Kriegsfolgen zählen auch Vertreibung, Hunger und Elend so großen Ausmaßes, daß Schätzungen zufolge inzwischen bis zu 90 Prozent aller Kriegsopfer Zivilisten sind.

Da die Konfliktstruktur zunehmend asymmetrische Züge annimmt und ungleich vergesellschaftete Akteure aufeinandertreffen, gewinnen sogenannte kleine Kriege an Bedeutung, worunter verschiedene Erscheinungsformen wie begrenzte Militärschläge, Kämpfe unter einem Besatzungsregime, aber auch Anschläge subsumiert werden können. Offen normativ gestaltet sich die Klassifizierung, wo vom "gerechten" Krieg die Rede ist, dessen Lehre wohl auf eine mehr als 1500 Jahre alte Tradition zurückblicken kann, die in jüngerer Zeit eine Renaissance, wenn nicht gar ihre Vollendung erfährt. Somalia, Jugoslawien, Afghanistan und Irak stehen für Fälle, in denen das Nichtinterventionsgebot unter dem Vorwand massiv verletzter Menschenrechte offen ausgehebelt wurde. Natürlich sind die Kriterien eines "gerechten" Krieges seit langem ausformuliert und zugleich so beliebig, daß ihre Auslegung als Teil des ausgetragenen Konflikts aufgefaßt werden muß. Ob ein bestimmter Krieg aus gerechtem Grund, in rechter Absicht, von legitimer Autorität angeordnet sowie als letztes und verhältnismäßiges Mittel geführt wird, beurteilen die Konfliktparteien naturgemäß kontrovers.

Das gilt nicht weniger für "demokratische" Kriege, wobei die These, daß Demokratien selten oder nie Kriege gegeneinander führen, unterschiedlich bewertet werden kann. Denn während eine relative Friedensneigung aus institutionellen, ökonomischen und kulturellen Gründen konstatiert werden könnte, ist zugleich die Beteiligung an Kriegen unterschiedlicher Intensität gegen Nichtdemokratien unübersehbar, von den Elendsfolgen ökonomischer Abhängigkeiten des zur Peripherie degradierten Teils der Welt ganz zu schweigen. Unter Führung der USA wird heute der gewaltsame Regierungswechsel in anderen Ländern nicht nur offen exekutiert, sondern zu einem Kreuzzug gegen das Böse in der Welt verklärt.

Angesichts einer weltweit um sich greifenden Kriegführung staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure und einer dramatisch zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft samt eines ideologischen Netzwerks vielfältiger Begründungen liegt der Bedarf an einem ebenso fundierten wie kontrovers geführten Diskurs über Kriegsbegriffe und Kriegstheorien auf der Hand. Mit dem von Anna Geis herausgegebenen Sammelband "Den Krieg überdenken" stellt der Nomos Verlag eine von namhaften Experten getragene Zusammenschau der relevanten Phänomene, Theorien und Kontroversen vor und beflügelt mit diesem qualifizierten Beitrag eine an Stärke gewinnende Debatte. Wissenschaftlich eingebettet in die klassische Theoriebildung ist die geführte Diskussion doch keinesfalls nur akademischer Natur, da sie ihre Werkzeuge fortgesetzt an einer bellizistisch forcierten Weltentwicklung schärft und aus der existentiell zu nennenden Tragweite der Schlußfolgerungen keinen Hehl macht.


Anna Geis (Hrsg.)
Den Krieg überdenken
Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse
Nomos Verlag, Baden-Baden, 2006
271 Seiten
ISBN 3-8329-323-8