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REZENSION/384: Reichholf - Der Tanz um das goldene Kalb (Agrar) (SB)


Josef H. Reichholf


Der Tanz um das goldene Kalb

Der Ökokolonialismus Europas



Nicht die Menschen, sondern die Rinder sind es, die den Planeten verpesten, erklärt Josef H. Reichholf gleich zu Beginn seines Buchs "Der Tanz um das goldene Kalb". Die gegenwärtig rund 1,5 Milliarden Rinder besäßen mehr Lebendgewicht als alle Menschen zusammen, produzierten mehr Ausscheidungen - die zudem noch ungeklärt blieben -, benötigten eine riesige Landfläche, und ihre Methanausdünstungen seien ein keinesfalls zu vernachlässigender Faktor des Klimawandels. Aber natürlich seien es die Menschen, die bewirkt hätten, daß es so viele Rinder auf der Welt gebe, klärt der Autor im nächsten Schritt auf und hat zur Verdeutlichung dieser Problematik sein Buch mit zwei Vorwörtern versehen, "Planet der Rinder" und "Planet der Menschen".

Anhand zahlreicher Beispiele wird beschrieben, welcher großen Belastung die Natur aufgrund der Rinderzucht ausgesetzt ist. Um den, wie Reichholf es nennt, "Ökokolonialismus Europas" zu verdeutlichen, wählt er die ostafrikanische Serengeti mit ihrem üppigen Großviehbestand als einen von der Natur her vorgegebenen Maßstab für die Regulierung des Verhältnisses zwischen großen Pflanzenfressern und Nahrungsangebot.

Gemessen an dieser ursprünglichen Serengeti wiesen die "Serengeti II" (gemeint ist der agraische Landkreis Vechta) und "Serengeti III" (ganz Deutschland) einen vielfach dichteren Großviehbestand auf. Die Pflanzenproduktion in unseren Breiten genüge jedoch nicht, derart viele Rinder zu ernähren. Deshalb müsse Deutschland Futter und Dünger importieren. Das habe zu massiven Veränderungen der Ökosysteme sowohl hierzulande als auch in den fernen Exportregionen geführt, kritisiert der Autor die bundesdeutsche beziehungsweise europäische Landwirtschaftspolitik (wobei er ausdrücklich nicht den einzelnen Landwirten eine Schuld zuschreiben will, da sie sich lediglich nach gesetzlichen Vorgaben und ökonomischen Kriterien richteten). Der Autor liefert für seine These eine Fülle an Fakten, stützt seine Argumente immer wieder mit Tabellen und Diagrammen ab und verhilft auf diese Weise der Leserschaft auch zu einem Einblick in die typische ökologische Denkweise.

Die Bedeutung der Landwirtschaft als Verursacher von Umweltschäden (Wasser, Boden, Luft), Zerstörer erhaltenswerter Biotope und wesentlicher Faktor des Artensterbens wie des Schwunds der Wildtiere werde selbst von Naturschutzorganisationen unterschätzt, von den Politikern ganz zu schweigen, moniert das ehemalige WWF-Präsidiumsmitglied, das allerdings in dem ursprünglich 2004 geschriebenen Buch nicht auf die jüngeren agrarpolitischen Maßnahmen der Europäischen Union eingeht. Inzwischen hat der umweltschonende Umgang mit Agrarflächen sehr wohl die höchsten Ebenen der europäischen Politik erreicht.

In der 2003 verabschiedeten EU-Agrarreform wurde beschlossen, daß die Direktzahlungen an die Landwirte weniger an der Quantität als vielmehr an der Qualität orientiert werden, was unter anderem darauf hinausläuft, daß die Betriebe bestimmte Standards im Umwelt- und Tierschutz einhalten sowie ihre Flächen ökologisch sinnvoll bewirtschaften müssen, um das Maximum an Subventionsmöglichkeiten ausschöpfen zu können. Darüber hinaus werden in einer zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union Naturschutzmaßnahmen in ländlichen Regionen direkt gefördert. Daran gäbe es sicherlich einiges auszusetzen, aber Reichholf ist mit seiner Forderung nach einer anderen Landwirtschaftspolitik keineswegs der einsame Rufer in der Wüste, als den er sich anscheinend gerne sähe.

In seinem persönlichen Nachwort schreibt der Autor, daß das Buch "ganz wesentlich auf den 70 Semestern Lehrtätigkeit an der Technischen Universität München" (S. 208) beruhe. Das ist dem mit 215 Seiten sicherlich überschaubaren, wenngleich informativen Buch anzumerken. Der Autor berichtet von der großen Zahl an Vogelarten, die sich inzwischen in den Städten angesiedelt haben, von den Schmetterlingen, die weniger auf dem Land als vielmehr in urbanen Regionen anzutreffen sind, vom Abholzen des Regenwalds, um Flächen für die Landwirtschaft zu schaffen, und vielem mehr. Jedes Kapitel für sich gestattet einen Einblick sowohl in Methoden als auch Inhalte der Ökologie und des Naturschutzes.

Als "Querdenker" sei er mit seinen Ansichten eingestuft worden, deutet Reichholf an (S. 208). Diese Bezeichnung trifft zu: Er hat in dem Buch faktenreich dargelegt, daß der Landwirtschaft und hier insbesondere der Rinderhaltung viel zu geringe Aufmerksamkeit hinsichtlich ihres Beitrags zum Verlust der Biodiversität und der Förderung von Treibhausgasemissionen geschenkt wurde. Um ein Querdenker zu sein, braucht man jedoch die Konvention. Auch Reichholf kolportiert die in der Ökologie üblichen Kategorisierungen wie beispielsweise das vermeintliche Gegensatzpaar Stadt-Land. Er stellt zwar die althergebrachte Unterscheidung "Stadt = schlecht" und "Land = gut" hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Ausbreitung und den Erhalt der Arten vom Kopf auf die Füße, doch zieht er daraus nicht den naheliegenden Schluß, die Kontrastierung an sich zu hinterfragen. Ohne die Stadt existierte das Land nicht und umgekehrt. Es handelt sich mitnichten um ein Gegensatzpaar. Stadt und Land sind untrennbar verknüpft mit der rasanten Ausbreitung des Menschen über den ganzen Planeten.

Inzwischen wohnen weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Diese Entwicklung hat es zwingend erforderlich gemacht, daß die Landfläche immer stärker erschlossen und bewirtschaftet wurde. Man könnte sagen, daß in der hochmodernen, extrem ausdifferenzierten Globalgesellschaft das Land die an die Peripherie abgedrängte Anbaufläche jedes einzelnen Großstadtbewohners darstellt. Zur Peripherie zählen dann eben auch die brasilianischen Sojafelder oder westsaharischen Phosphat-Abbaugebiete. Ohne die Herausbildung komplexer Formen der Vergesellschaftung wäre der Mensch noch immer jener ursprüngliche Baum- oder Höhlenbewohner, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner Behausung erste Gräser kultiviert hat.

Dem keine angemessene Beachtung zu schenken, kann zu Scheinlösungen für fundamentale menschheitsgeschichtliche Probleme wie Klimawandel, Nahrungsmangel oder Artenschwund verleiten. Wenn Reichholf, der die Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München leitet, unter "querdenken" versteht, daß er in einem Interview des Magazins "Der Spiegel" (19/2007, S. 156) die Behauptung aufstellt, die "Menschheit als Ganzes" werde keine großen Probleme mit der globalen Erwärmung haben, dann wirkt das nicht quer, sondern nur noch verquer. Würden doch bei dem zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels in diesem Jahrhundert über 640 Millionen Bewohner flach gelegener Küstenstriche absaufen, und, da die Betroffenen das natürlich nicht wollen, in ohnehin in ihrer Tragfähigkeit weit überlastete Regionen auszuweichen versuchen. Wenn das kein Problem "der Menschheit" ist, was dann?

Reichholfs Idee einer Umstellung der Weltwirtschaft auf eine naturverträgliche Rinderhaltung ist, abgesehen davon, daß sie ohnehin erst zum Schluß des Buchs bestenfalls angerissen wird, widersprüchlich. Einerseits will er den "Importen von Massengütern aus fernen Kontinenten" den Kampf ansagen, andererseits plädiert er dafür, Importe aus Ländern zuzulassen, in denen Rindfleisch gleichsam "auf freier Weide" (S. 175) wachse, also ohne künstliche Düngung auskomme. Dafür kämen jedoch ausgerechnet wiederum nur weit entfernte Flächenländer wie Uruguay, Argentinien und Brasilien in Frage. Ob in diesem Ansatz eine Lösung zur Beendigung des Ökokolonialismus Europas liegt, darf bezweifelt werden. Die Verwirklichung des reichholfschen Vorschlags liefe auf Massentransporte von Rindern hinaus, wodurch wiederum Treibhausgase entstünden, für deren Minderung sich der Autor ausgesprochen hat. Zudem gehen die umweltzerstörenden Folgen des keineswegs überwundenen Kolonialismus weit über die der Rinderhaltung hinaus, und die Europäer sind nicht die einzigen "Kolonialherren".

Die ökologische Lehre ist eng verbunden mit der Politik, aber politische Lösungsvorschläge sollte man von dem Buch nicht erwarten. Sein Nutzen beschränkt sich auf die beispielhafte Infragestellung antiquierter Anschauungen zum Stadt-Land-Gegensatz sowie auf die ökologischen Folgen der intensiven Rinderhaltung in Europa. Hier hat das Buch seinen Platz und kann als Lektüre für ein interessiertes Fachpublikum empfohlen werden, das sich mit Kritik auch gegenüber der eigenen Wissenschaftsdisziplin nicht zurückhält.

14. Mai 2007


Josef H. Reichholf
Der Tanz um das goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas
Wagenbachs Taschenbuch 532
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006
Erstausgabe im Allgemeinen Programm des Verlags Klaus Wagenbach: 2004
ISBN 13: 978-3-8031-2532-3
215 Seiten, 12,90 Euro