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REZENSION/410: S. Wied, A. Warmbrunn - Pflege Pschyrembel (SB)


Susanne Wied, Angelika Warmbrunn


Pflege Pschyrembel



Noch vor dreißig Jahren gab es für den Pflegebereich kaum Literatur. Wer eine Ausbildung zum Krankenpfleger/zur Krankenschwester absolvierte, tat dies zum großen Teil ohne spezielles Lehrbuch. Mit dem "Pschyrembel Klinisches Wörterbuch" befand sich allerdings schon damals ein nützliches Nachschlagewerk in den Regalen von Auszubildenden und medizinischen Fachkräften. Als relative Neuheit auf dem Markt liegt nun in der erst zweiten Auflage der "Pflege Pschyrembel" vor.

Im Gegensatz zu anderen medizinischen Nachschlagewerken beinhaltet er keine Krankheiten betreffenden Ausdrücke wie z.B. Gastritis, Infarkt o.ä., umfaßt dafür aber alle für die Pflege relevanten Begriffe. In diesem Bereich hat sich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten ein vollkommen neues Vokabular herausgebildet, das weit über die nur für die praktische Pflege notwendigen Fachworte hinausreicht.

Neben all den neuen Fachworten erläutert der Pflege Pschyrembel jedoch auch andere in der Medizin bzw. der Pflege gebräuchliche Worte, z.B. Exsudat, ventral, Applikation oder Erläuterungen zu Neurotransmitter, Nagel, Zahnpflege oder Podologie. Es werden die wichtigsten Arzneimittel definiert, Wirkung, Anwendung und Wirkstoff beschrieben. Pflegetechniken und Pflegehilfsmittel finden allein aufgrund des fachlichen Bezugs besondere Beachtung. In einer Zeit, in der sich die Pflegekraft im Zuge der Umstrukturierungen vollkommen neuen Anforderungen gegenübersieht, wurden auch zahlreiche Begriffe aus den Sozialwissenschaften wie etwa Beziehungswahn, Bewußtseinsverschiebung, Interaktion oder religiöse Bedeutungen (z.B. Gebet, Glaube oder Islam) und juristische Fachausdrücke wie Organisationsverschulden, freiheitsberaubende Maßnahme, Haftung oder Hausrecht in das Werk aufgenommen. Es haben aber auch Begriffe wie Gewerkschaft für Beschäftigte im Gesundheitswesen, Malteser Hilfsdienst, Pflegegutachten oder Phlegmatiker Eingang in den Pflege Pschyrembel gefunden.

Alle als Kernbegriffe in das Lexikon eingeflossenen Fachworte, seien es die Begriffe Divertikel, Infektion, Zahn, Einsamkeit, Ethik, oder Verwaltungsbegriffe wie DRG oder Pflegemanagement werden beispielhaft ausführlich erläutert. Neben den deutschen Worten findet sich der englische Begriff; englische, bereits ins Deutsche übernommene Worte sind übersetzt bzw. erklärt.

Aufgrund seiner Vielseitigkeit eignet sich der Pflege Pschyrembel für alle Personen, die mit medizinischen bzw. pflegerischen Fragen konfrontiert sind. Er wendet sich an erfahrene Pflegekräfte, Auszubildende, Laienpfleger, Hebammen, Entbindungspfleger wie an Studierende der verschiedenen Pflegeberufe, Pflegewissenschaftler, Manager und Lehrende in der Pflege. Er eignet sich aber auch für Betroffene, pflegende Angehörige und Entscheidungsträger.

Vor dem Hintergrund etlicher Berichte um die katastrophalen Zustände in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und der häuslichen Pflege bietet der Pflege Pschyrembel bei Analyse des im Pflegebereich mittlerweile unumgänglich gewordenen neuen Vokabulars eine Möglichkeit, Zusammenhänge zu verstehen. So erschließt sich, wieso "Forderungen einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit an eine humane pflegerische Versorgung gerade auch des älteren Teils unserer Bevölkerung" sich entgegen der Darstellung im Vorwort nicht "mit den Forderungen, die Pflegeexperten seit langem stellen" (Pflegewissenschaftler, Qualitätsmanager etc.) decken.

Unter das neue Vokabular, das in die Pflege Einzug gehalten hat, fallen beispielsweise die so zahlreich vertretenen Managementbegriffe wie etwa Medizinmanagement, Pflegemanagement, Qualitätsmanagement, Fallmanagement, Beschwerdemanagement, Care Management, Change Management, Disease Management - um nur einige zu nennen.

Die Übernahme englischer Begriffe in die deutsche Sprache ist zwar inzwischen allgemein üblich. Hier ist es zugleich ein Hinweis auf eine Entwicklung im pflegerischen Bereich, die in den USA längst stattgefunden hat und von Deutschland aufgegriffen wurde. Zu den englischsprachigen Begriffen, die sich in den vergangenen Jahren auch hier etabliert haben, gehören beispielsweise Worte wie Taxonomie (engl.: taxonomy), die gebräuchlichen Abkürzungen NANDA (North American Nursing Diagnosis Association = nordamerikanische Pflegediagnosenvereinigung), ICNP (International Classification for Nursing Practise = vom Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger entwickeltes Klassifikationssystem zur Erstellung von Pflegediagnosen), aber auch Abkürzungen wie ADL (Activities of Daily Living) = ATL (Aktivitäten des täglichen Lebens), AEDL (activities and existential experiences of living = Aktivitäten und existenzielle Erfahrungen des täglichen Lebens). Letztere sind Begriffe, die der Systematisierung von Pflege dienen, ebenso wie die unterschiedlichen Bewertungsskalen, beispielsweise der "Barthel-Index" oder die Braden Skala. Selbstverständlich finden sich auch etliche deutsche Begriffe, die in der Pflege von heute neu sind, wie zum Beispiel die der "modernen" Pflegeformen: Bezugspflege, Tages- oder Nachtpflege, Nachtcafé u.ä.

Neben dem eindeutig aus der Wirtschaft stammenden Managementbegriff stößt man im Pflege Pschyrembel auf viele weitere Begriffe wie Qualität, Qualitätssicherung, Fallpauschale, Leistungserfassung, die ebenfalls einen wirtschaftlichen Zusammenhang erkennen lassen. Besonders sei hier auch auf den Begriff DRG = Diagnosis Related Groups verwiesen. Es handelt sich hierbei um ein internationales Klassifikationssystem, das zwischen 1964 und 1977 in den USA entwickelt wurde. Die Einführung dieses Systems hat den Krankenhausleitungen enge Grenzen gesetzt. Ihnen wurde die Möglichkeit, in einem gewissen Rahmen finanziell eigenständig zu kalkulieren, komplett genommen.

In Deutschland wurde die Übernahme des DRG-Systems im Zuge der Gesundheitsreform des Jahres 2000 beschlossen. Ab dem 01.01.2003 konnten in Deutschland Krankenhäuser freiwillig daran teilnehmen, jedoch nahmen nur 27% diese Option in Anspruch. Am 01.01.2004 wurde die Teilnahme für alle Kliniken verpflichtend, die nicht durch gesetzliche Vorgaben ausgenommen waren. Ziel ist - wie es heißt - eine realistische Marktkalkulation. Seitdem findet die Leistungsberechnung anhand von diagnoseorientierten Fallpauschalen statt. Dieses sind festgelegte Vergütungsbeträge "für die Behandlung eines nach Diagnose und Art des Eingriffs definierten medizinischen Falls".

Feststellbar ist, daß viele der neuen Begriffe, die den Inhalt des Lexikons bestimmen, es tatsächlich ermöglichen, die durch die Gesundheitsreformen vollzogenen gravierenden Veränderungen, die im deutschen Gesundheitssystem innerhalb der letzten Jahre durchgesetzt wurden, nachzuvollziehen. Angeblich sollen die Reformen bei einer stetig anwachsenden Zahl alter und pflegebedürftiger Menschen - wie es heißt - den Erhalt bzw. die Sicherung von Qualität in der Pflege gewährleisten.

Erwiesenermaßen haben die Reformen jedoch nicht, wie es das Wort suggeriert, eine Verbesserung der Verhältnisse bewirkt. Der gerade jüngst veröffentlichte Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen beispielsweise bestätigt dies. Nach seinen Angaben, einen Zeitraum von zwei Jahren abdeckend (2004 - 2006) und erhoben an 40.000 Pflegebedürftigen, sind die Zustände in Pflegeheimen und in der häuslichen Pflege als "gesundheitsgefährdend" bezeichnet worden. Fundamentale Grundpflege wie Essen und Trinken beispielsweise sind nicht gewährleistet. Es verhungern und verdursten Menschen, die sich Pflegekräften anvertraut haben oder die ihnen anvertraut wurden.

Eine deutliche Sprache sprechen auch die Zahlen einer Umfrage an ca. 1000 Pflegekräften des größten deutschen kommunalen Klinikkonzerns, dem "Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH", die an 58 Standorten 100 Kliniken betreiben und 14 Pflegeeinrichtungen und die verantwortlich sind für 4969 Krankenhausbetten und 13500 Beschäftigte. Drastischer Personalabbau im Pflegebereich, verkürzte Verweildauer von Patienten und ein immenser Verwaltungsaufwand haben zu einer unverantwortlichen Mehrarbeit der Angestellten und zu unverantwortlichen Zuständen in der Pflege geführt. Nach eigener Einschätzung verbringen Pflegekräfte noch 30 Prozent ihrer Arbeitszeit mit den Patienten, 44 Prozent mit Dokumentations- und Verwaltungsaufgaben. 81 Prozent der Befragten gaben an, daß mit der vom Management vorgesehenen Mindestbesetzung ihrer Stationen gar keine "sichere Pflege" mehr praktizierbar ist. Unter diesen Umständen bleibt verständlicherweise keine Zeit mehr, Auszubildende anzuleiten. Der Vivantes Konzern hat in den vergangenen drei Jahren seinen Gewinn um 2,2 Millionen Euro steigern können.

Diese Zahlen belegen eindeutig den Trend in der Pflege. Das Wohlergehen des Menschen scheint nachrangig zu sein. Ein Klassifikationssystem wie das der DRGs steht nur für eine von zahlreichen Maßnahmen, die im medizinischen Bereich getroffen wurden und die ausschließlich auf dem Prinzip der Kostensenkung basieren.

Um diese wirtschaftlichen Zielvorgaben vollständig in die Pflege zu integrieren, mußte auch die Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung neuen Vorschriften unterworfen werden. Seit dem 01.01.2004 gilt ein neues Krankenpflegegesetz, das nochmals am 31.12.2006 geändert wurde. Die Inhalte haben sich von der reinen Pflegepraxis verlagert. Sie basieren nun im wesentlichen auf "dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse...", wobei inzwischen eindeutig geklärt sein dürfte, daß die Pflegewissenschaft bzw. Pflegeforschung dem Primat der wirtschaftlichen Effizienz unterliegt.

Am Beispiel der Pflege am Patienten heißt das folgendes: Anders als früher wurde beispielsweise die professionelle Pflegehandlung einer Systematik unterworfen, dem "Pflegeprozeß". Ziel dieser Systematik ist es, Pflege berechenbar zu machen. Die Bemessung von Pflegezeit ist im Pflege-Versicherungsgesetz festgelegt und zwingt den Pflegenden, sich wirtschaftlichen Zielen unterzuordnen. Dieser kann nicht mehr frei über den notwendigen Aufwand und Bedarf entscheiden.

Abgesehen von den Erläuterungen zum Pflegeprozeß läßt sich in dieser zweiten Auflage des Pflege Pschyrembel unter dem Begriff noch der folgende 'Hinweis' finden:

Der rein administrative, ausschließlich auf Leistungsnachweis und rechtliche Absicherung gerichtete Umgang mit dem Instrument Pflegeprozess erschwert die Einführung und Umsetzung in die pflegerische Praxis.

Tatsächlich wurde im Zuge der veränderten Vorgaben zu pflegen dem Enthusiasmus so mancher Pflegekraft, dem Engagement um das Wohlergehen des einzelnen und dem ethischen Anspruch in einem schleichenden Prozeß jeder Raum entzogen.

Es ist abzusehen, daß der auferzwungene administrative Umgang mit Pflege, der das Denken und Handeln bereits in der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenschwester zu bestimmen beginnt, sich zu einer solchen Selbstverständlichkeit verkehrt, daß nicht nur dieser Hinweis im Pflege Pschyrembel der Zukunft entfallen wird, sondern daß die Maßstäbe für eine qualitativ gute und nicht zuletzt menschliche Pflege schwinden.

28. September 2007


Susanne Wied, Angelika Warmbrunn
Pflege Pschyrembel
Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin
2. Auflage 2007
842 Seiten, 24,95 Euro
ISBN 978-3-11-019021-2