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REZENSION/451: Detlef Hartmann, Gerald Geppert - Cluster (SB)


Detlef Hartmann, Gerald Geppert


Cluster

Die neue Etappe des Kapitalismus



Wie ist Herrschaft in einer durch die Folgen der neoliberalen Ökonomisierung zusehends fragmentierten Gesellschaft zu organisieren? Wie läßt sich soziale Kohäsion unter den Bedingungen forcierter Konkurrenz und Atomisierung schaffen? Wie läßt sich die Intensität der Ausbeutung durch Arbeit steigern, wenn die in Aussicht gestellte Gratifikation nach der Aufkündigung des Klassenkompromisses immer bescheidener ausfällt? Wie läßt sich weiterhin Zustimmung zu einem politischen System generieren, das durch die es nutzenden wie bestimmenden Kräfte des Kapitals selbst delegitimiert und demontiert wird?

Fragen dieser Art sollte man sich nicht nur in den Zentralen der administrativen und ökonomischen Verfügungsgewalt und den ihr zuarbeitenden Agenturen der Politik- und Unternehmensberatung wie der akademischen Legitimationsproduzenten stellen. Sie sind vor allem für diejenigen von Interesse, deren Leben am anderen Ende sozialtechnokratischer Herrschaft immer umfassender und tiefgreifender reguliert und kontrolliert wird. Schon an dieser Stelle befindet man sich mitten in der Thematik des vorliegenden Buchs, in dem es im Kern um die Qualifikation des die kapitalistische Gesellschaft bestimmenden Gewaltverhältnisses geht. Im fortgeschrittenen Stadium einer nicht mehr nur postfordistischen Gesellschaft, das sich in der systemstabilisierenden Moderation neoliberaler Deregulationen zu einer neuen Handlungseinheit von Staat und Wirtschaft synthetisiert, nicht ohne die postdemokratische Sicherheits- und Interventionsstaatlichkeit zur denkbar möglichen Perfektion ausgebaut zu haben, lassen sich von den betroffenen Bevölkerungen immer weniger die sie vereinnahmenden und ausrichtenden Kräfte überhaupt noch in ihrer fremdnützigen Absicht ausmachen. Indem sich die Interessensträger jener Entwicklung auf diesem Wege des Zugriffs die erfolgreiche Elimination des Wissens um die dominanten Faktoren der kapitalistischen Vergesellschaftung und die Ablösung des Gesellschaftsbegriffs durch eine Ideologie der Eigenverantwortung zunutze machen, packen sie den einzelnen praktisch dort, wo er aufgrund der nach wie vor gültigen Faktoren kapitalistischer Fremdbestimmung vergeblich versucht, sich als autonomes Subjekt zu konstituieren, und bieten ihm Anerkennung und Lebenssinn im Austausch gegen die Bereitschaft, offensichtlich fremdnützige Motivationsimpulse und Bewältigungsprozesse als ureigene Triebkraft und Identität zu begreifen.

Die Autoren Detlef Hartmann und Gerald Geppert bedienen sich bei ihrem Versuch, die unter dem Einfluß innovativer mikroelektronischer Produktionsweisen rasant vonstattengehende Qualifikation kapitalistischer Herrschaft auf den Begriff zu bringen, der unter dem Begriff "Cluster" zusammengefaßten und am Beispiel der um das Wolfsburger Volkswagenwerk zentrierten Industrieregion Südostniedersachsen dargestellten Ausbildung regionaler Zentren ökonomischer und gesellschaftlicher Produktivität.

VW ist insofern prototypisch für diese Entwicklung, als das Unternehmen bereits unter dem NS-Regime der räumlichen und sozialen Integration industrieller Produktivität diente, es in der alten BRD als Schaufenster des korporatistischen Staats fungierte und in der neuen BRD an vorderster Front produktionstechnischer wie gesellschaftspolitischer Innovation steht. Daß die Schaffung eines entrechteten Subproletariats eng mit dem Namen des ehemaligen VW-Personalchefs Peter Hartz verbunden ist, der seinerseits die gebrochene Moralität der Arbeitsgesellschaft repräsentiert, ist eine nur bedingt unterhaltsame, da den Zusammenhang von industrieller Rationalisierung und sozialer Verelendung auf den Punkt bringende Pointe.

Was Hartmann und Geppert an diesem Beispiel ausführen, greift allerdings weit über neue Formen der Raumplanung, Industriepolitik und Arbeitsorganisation hinaus. Ihr Anspruch, eine "neue Etappe des Kapitalismus" zu beschreiben, betrifft alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens, ökonomischer Verwertung und staatlicher Machtentfaltung. Die Weiterentwicklung des Kapitalverhältnisses nach Maßgabe von Verwertungszwängen, die der internationalen Arbeitsteilung und der finanzmarktgenerierten Kapitalakkumulation Grenzen der Ausbeutung und Expansion aufzeigen, die sich nicht mehr allein durch gesteigerten Gewalteinsatz überschreiten lassen, verlangt nach neuen Techniken der Exploitation. Wo konträre Faktoren des sozialen Widerstands, der ökologischen Eskalation und der Ressourcenerschöpfung die Funktion des Gesamtsystems gefährden, nehmen traditionelle Formen des Raubes zusehends die Gestalt eines "sozialen Kriegs" (S. 21) an, in dem der Mensch selbst auf den Prüfstand seiner Tauglichkeit für die Sicherung herrschender Verfügungsverhältnisse gestellt wird.

Die beiden Mitglieder des Redaktionskollektivs "Materialien für einen neuen Imperialismus" analysieren diesen Krieg anhand eines Subjektbegriffs, der keiner ontologischen Debatte bedarf, um im Feld des Widerspruchs zwischen Autonomie und Fremdbestimmung operabel zu werden. Hartmann erklärt dazu in den Anmerkungen, daß er die Begriffe des "Selbst" und der "Seele" "nicht im Sinne eines überhistorischen Seinsbestandes" verwendet, sondern als "Formen und Inhalte, die sich in der Auseinandersetzung hervorbringen und darum auch das Licht auf ihr Gegenüber werfen" (S. 194). Dies vorausgesetzt lesen sich die Erkenntnisse der beiden Autoren zur Zurichtung des einzelnen für das Verwertungsinteresse der Gesellschaftsmaschine mit großem Gewinn, beleuchten Hartmann und Geppert doch die fortgeschrittensten Techniken und Methoden des sozialstrategischen Zugriffs.

Dabei ist das Verständnis des Kriegs als "soziales Transformationsprojekt" nicht bloß metaphorisch gemeint:

"Stehen soziale Zerstörungen und Tote durch Hartz IV und Tote im Kosovo, Afghanistan, Irak auf einem Blatt? Sozialer Transformationskrieg nach innen und außen? Nicht auf einem Blatt, sondern verschiedenen Blättern desselben Transformationsprojekts. Sozialer Krieg nach innen und außen als Ausdruck einer kohärenten Transformationsoffensive im globalen Maßstab. Wir nennen sie etwas unglücklich plakativ 'neoliberale Globalisierung' und verstehen darunter zumeist Raub durch Verelendung, Prekarisierung, Ausplünderung. Die Offensive ist jedoch umfassender. Sie ist komplex und reicht in alle Dimensionen des ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens. (...) 'Cluster' ist das Kürzel für eine Etappe dieser Offensive. (...) 'Cluster' bedeutet die organisatorische Bündelung und Intensivierung innovativer Energien, gepaart mit den aggressiven Sozialstrategien des postfordistischen Kapitalismus in der Region. Sozialstrategien, die innerhalb und außerhalb des Unternehmens den Griff in die 'Ressource' Mensch vertiefen und die produktive Zurichtung seiner Subjektivität intensivieren und in neue Dimensionen treiben. Der Zugriff ist total und gewaltsam. Die Gängelung, die Qualen des Maßreglungsterrors und der Partizipationszwänge, an die die staatlichen Leistungen geknüpft sind, sind keine bloße Schikane oder Vehikel rein finanzieller Kürzung. Sie sind Teil dieses komplexen, umfassenden Zugriffs. Die Drohung mit Existenzvernichtung, ja mit dem Hungertod, mit Prekarisierung, Deklassierung und dem Ausschluss in die Überflüssigkeit sind der äußerste Pol der Zwangsmittel, um Subjektivität zuzurichten."
(S. 22 f.)

Die Niederringung und Rekrutierung menschlichen Eigenwillens zur optimierten Vergesellschaftung und Verwertung des einzelnen wird von den Autoren im Detail anhand der hegemonialen Gesellschaftstheorien, Managementtechniken und Motivationsstrategien beschrieben. Einen zentralen Platz nimmt dabei der Begriff der "Wissensgesellschaft" als Synonym für den Anspruch auf selbsttätige Adaption der Fähigkeiten und Schnittstellen ein, mit denen der einzelne den Anforderungen der von den Algorithmen der Informationstechnik beherrschten Arbeitsgesellschaft gerecht zu werden hat. Es geht mitnichten um Wissen, das den Menschen in den Stand einer Emanzipation von den ihn bedingenden Kräften und Wirkungen versetzte, er soll ganz im Gegenteil die jeder irregulären Abstraktionsfähigkeit abholde Funktionalität eines optimal integrierten Moduls entwickeln, das einen reibungslosen Ablauf aller Belange der Produktion und Reproduktion garantiert.

Diese Anforderung erstreckt sich weit über unmittelbar bei der Lohnarbeit einzubringende Fertigkeiten auf ein ganzes Ensemble von Anforderungen körperlicher und geistiger Art. Die sogenannten Soft Skills eines affirmativen Sozialverhaltens gehören ebenso dazu wie der Erhalt der körperlichen Leistungsfähigkeit durch das Regime medizinaladministrativer Regulation des Konsums und der Gesundheitspflege. Die Durchsetzung physischer Normwerte im Rahmen der biopolitischen Bewirtschaftung der Bevölkerung etabliert neue Ein- und Ausschlußkriterien, mit Hilfe derer sich die Bezichtigung des einzelnen bis zum lebensbedrohlichen Entzug essentieller Versorgungsleistungen treiben läßt. Hier liegt der Übertrag zur konkreten Kriegführung auf der Hand - vom Präventionsgebot der Fitnesskultur, dessen disziplinatorischer Impetus zum Identitätsmerkmal der Funktionseliten ausgebaut wird, über die Glorifizierung sportlicher Höchstleistungen, deren biomechanische Konditionierung und industrielle Uniformität neue Horizonte der technischen Erschließung physischer Leistungsressourcen eröffnen, bis zur Optimierung militärischer Einsatzfähigkeit durch die Abrufbarkeit körperlicher und kognitiver Potentiale führt eine direkte Linie zur Okkupation des Leibes durch ihn verbrauchende Interessen.

Der physischen Aktivierung des einzelnen entspricht seine medizinische und biometrische Vermessung. Die administrative Steuerung der Gesellschaft verlangt nicht nur nach maximaler sicherheitspolitischer und wissensökonomischer Transparenz, sondern erfordert eine an Nutzen und Verbrauch orientierte Evaluation, mit Hilfe derer der Androhung des Ausschlusses materielle Relevanz verliehen werden kann. Die "Ressource Mensch" in ihrer Totalität zu erschließen, bedarf des ständigen Abgleichs seiner Existenzberechtigung mit dem von ihm erbrachten Output. Fällt dieser vor dem Hintergrund eines positivistischen, an vernutzbarer Produktivität orientierten Wertbegriffs ins Negative ab, dann ist die insinuierte Schuld eigenen Versagens das geringste Problem des Betroffenen.

Die von Hartmann und Geppert geschilderte Technologie der Subjekteinspeisung im Rahmen einer Gesellschaftsformation des HighTech-Kapitalismus kann allerdings nur auf der Basis der kapitalistischen Mangelproduktion wirksam werden. Der elaborierte und komplexe Charakter der vorgestellten Methoden und Theorien weist den Weg in eine höhere Ordnung sozialtechnokratischer Verfügungsgewalt, die ihre Dynamik in der Rückbindung an die konstitutiven Faktoren des Lebens entfaltet. Sollte der mit diesen Mitteln neutralisierte Widerstand allen Versuchen, ihn mit Androhungen und Verheißungen zu befrieden, trotzen, was angesichts der rasanten Verteuerung essentieller Lebensmittel und eines sich nach dem finanzmarkttechnisch bedingten Verlust der Bodenhaftung seiner materiellen Basis vergewissernden "Rohstoffkapitalismus" nicht unwahrscheinlich ist, dann wird auf die gröberen Mittel der Herrschaftssicherung zurückgegriffen. Dann werden die Blätter sozialer und militärischer Unterdrückung in ein Passepartout zehrenden Mangels und harscher Selektion gelegt, um jeden Widerstand, der sich unkontrollierbarer Ressourcen und Territorien bediente, zu eliminieren.

Die Autoren beschreiben eine neue Phase des Kapitalismus, die insbesondere für die Bundesrepublik und mit ihr vergleichbare hochgradig organisierte Metropolengesellschaften Gültigkeit besitzt. Indem sie tief ins terminologische und theoretische Räderwerk sozialtechnokratischer Bemittelung greifen, ermöglichen sie dem Leser, die Anmaßungen und Zumutungen einer Arbeits- und Wissensgesellschaft zu durchschauen, der es in beiden Fällen um die Maximierung der Vernutzung des einzelnen Menschen geht. Wie Hartmann anhand der Kritik des Begriffs "Gouvernementalität" deutlich macht, steht, zugespitzt ausgedrückt, die "konzeptionelle Vernichtung des sich diesen aggressiven Sozialtechniken entgegensetzenden 'Anderen' in seinem Eigenwillen, in seiner Subjektivität, in seiner Wirklichkeit" (S. 104) auf der Agenda systemischer Regulation.

Daß der andere ebenso wie man selbst hungert und durstet, daß er die gleichen Schmerzen erleidet und den gleichen Hoffnungen erliegt, ist der Kerngedanke widerständiger Solidarität. Der Negation des anderen als zu vernichtendes Fremdes kann nur mit einem Denken entgegengetreten werden, das sich seiner Haltlosigkeit bedient und in ein Instrument der Befreiung von den positivistischen Einschreibungen gesellschaftlicher Zugehörigkeit verwandelt. Zur Überprüfung steht nicht weniger an als das Humanum, dessen unhinterfragte Ontologie den Konsens der Raubgemeinschaft speist und das Primat notgeborener Zwangslagen zementiert. Zu diesem Schluß kann man als Leser dieses Buches durchaus gelangen, um eine Debatte zu führen, die grundstürzender ist als alle Umwälzungen, mit denen die Agenten der "schöpferischen Zerstörung" sich die Welt aneignen wollen. Den Autoren scheint dieser Gedanke nicht fremd zu sein, erklären sie doch einleitend:

"Die Herrschaft durch die Ökonomisierung des Sozialen, die den Zwang zur Selbstpflege und neue Subjektkonstitutionen hervorbringt, hat noch keine begriffliche Form gefunden, und zwar aus dem Grunde, dass diese Begriffe sich erst aus konkreten Widerstandslinien heraus erfinden lassen werden. Bis dahin sind all die klugen Debatten über Biopolitik und Gouvernementalität Ausdruck einer theoretischen Stagnation und einer Politik der Wissensschließungen. Das sich ausbreitende Einheitsdenken (pensee unique) betrifft im Kern ja auch unsere Reflexionsbemühungen. Es wirft die Frage nach den Orten kritischer Erkenntnis und 'Wissenschaft' auf."
(S. 8)

22. August 2008

Detlef Hartmann, Gerald Geppert
Cluster - Die neue Etappe des Kapitalismus
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2008
224 Seiten, 14,00 Euro
ISBN: 978-3-935936-62-0