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REZENSION/461: nah & fern - Migration literarisch (Kulturmagazin) (SB)


nah & fern
Das Kulturmagazin für Migration und Partizipation


Migration literarisch:

Zwischen Istanbul und Wanne-Eickel


[...] ganz zu schwiegen von den halb verhungerten Boat People auf dem nördlichen Mittelmeer, die verzweifelt den Mörsern und Granaten zu entkommen versuchen, die ihre dunklen Schatten über die leidgeprüften Landstriche Euramerikas werfen. Einige schaffen es an Land, irren umher, verlieren den Mut, werfen mir nichts, dir nichts die Flinte ins Korn und warten darauf, vom Nichts dahingemäht zu werden. (Abdourahman A. Waberi, In den Vereinigten Staaten von Afrika, S. 26)

In Deutschland aber macht man sich Sorgen um den Stellenwert der deutschen Sprache. Vor allem die Türken stehen in Verdacht, nicht gut genug Deutsch zu sprechen. Zumindest sprechen sie ihre eigene Sprache öffentlich und laut in den Untergrundbahnen und auf Schulhöfen. Manchmal mischen sie auch die Sprachen, und ein außenstehender Betrachter kann nicht mehr urteilen, wohin er diese Menschen einordnen soll. (Zafer Senocak, Kleine Straßen meiner Kindheit, S. 16)

Eine Holzbank stand vor meinen Augen. [...] Aber auf der Rückenlehne stand "SLEGS BLANKES", also war die Bank nur für die "Blankes", und ich spürte einige Augen um mich herum. Ich wußte nicht, ob ich das Recht hatte, mich auf die Bank zu setzen, oder nicht. (Yoko Tawada, Übersetzungen, S. 22)

Sprachgetrieben ist dann mein Ort versöhnend. Eine Art Kontemplation. Einsamkeit, die anders war und ist. Sie pulst in diesem Landstrich entschleunigter als in der "großen Stadt". [...] Ganz auf mich zurückgeworfen. Einen Gedanken, ein Gefühl filigraner ist dann dieser Ort und unbequem. Im vertrauten Trotz ein Fetzen Heimat. Mit einem Menschenschlag, den ich verstehe, wo ich ihn nicht begreife, weil ich dazugehöre. (José F. A. Oliver, Mein andalusisches Schwarzwalddorf, S. 29)

Aber anstatt den Einreisknoten zu lösen, zieht Europa es vor, weiterhin von "noch nie da gewesenem Druck" zu sprechen und Millionen von Euro für die Militarisierung der Grenzen durch aus dem Boden gestampfte Agenturen wie Frontex auszugeben. Nach den Operationen vor den Kanarischen Inseln ist der Kanal von Sizilien das nächste Betätigungsfeld.
(Gabriele del Grande, aus der Reportage "Mamadous Fahrt in den Tod", S. 42)

Allein diese Leseprobe aus der Zeitschrift nah & fern Nr. 39, diesmal mit dem Schwerpunkt "Migration literarisch", trägt die Widersprüche, die das Thema aufwirft, schon in sich: Die unterschiedlichsten Texte der durchweg sehr bekannten Autoren reichen von höchst ambitionierter Schreibweise über Abschiebung, Flucht, Diskriminierung von Minderheiten, rechtliche Verstrickungen, Gewalt, Krieg und Heimatlosigkeit bis zu biographischer und poetischer Prosa. Im Layout hat sich die nah & fern-Redaktion mit Hochglanz für den ästhetischen Teil des Themas entschieden, was (eventuell beabsichtigt?) der Auseinandersetzung mit einer unerträglichen Realität die Spitze nehmen kann und die Assoziation hervorruft, daß Migration "eben nicht ausschließlich ein Armutsthema" sei (laut einer Rezension über diese Zeitschrift bei www.culture-counts.de). Verhelfen dem Leser die Texte vielleicht zu weniger Distanz durch freundliche Autoren-Fotos?

Eigentlich hat es sich im deutschen Literaturbetrieb schon längst herumgesprochen: Die als sogenannte "Migrantenliteratur" bezeichneten Werke von Autoren mit Migrationshintergrund, deren meist kritische Themen daran erinnern, daß die Welt weniger an zurückgezogener Innerlichkeit und Partner- oder Familienproblematik leidet als an Krieg, Vertreibung, Armut, Hunger und Gewalt, haben sich zunehmend im deutschsprachigen Raum etabliert. Die inhaltlichen Lücken in der deutschen Gegenwartsliteratur werden bei Bedarf gerne mit den ambitionierten Texten "integrierter" Autoren gefüllt - eine Erinnerung daran, daß Literatur ein Schauplatz der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sein könnte.

Dennoch wird die Frage nach der Einordnung der Werke deutschsprachiger Literaten nicht-deutscher Herkunft in den deutschen Literaturbetrieb seit Mitte der 1960er Jahre bis heute noch aufrecht erhalten. Nüchtern betrachtet erübrigt sie sich aber, denn als nahezu eigenes Genre unter sich mit der Zeit gewandelten Sonderbezeichnungen (von "Gastarbeiterliteratur" oder "Ausländerliteratur" zur "Migrantenliteratur" oder "Gastliteratur") kann von wirklicher Integration eigentlich keine Rede sein. Die zivilisatorische Überlegenheit der westlichen Moderne wird dadurch aufrechterhalten, daß allzu kritische Worte ausgegrenzt werden oder Autoren, die über biographische Berichte hinaus engagiert schreiben, mehr Schwierigkeiten haben, überhaupt gelesen zu werden (z.B. einen Verlag zu finden oder gefördert zu werden). Zudem wird gezielt eine Entwicklung der Migrantenliteratur in die ästhetische und biographische Richtung verstärkt, so daß sich langsam die Frage stellt, wie groß das offizielle Interesse an solch kritischen Themen überhaupt noch ist, wie sie die Anfänge der Mirgantenliteratur kennzeichneten. Verlegt sich der Schwerpunkt auf exotische Schilderungen des Fremden, auf die eher sprach-ästhetische, poetische Leistung der interkulturellen Schriftsteller? Die Antwort liegt beim Leser.

Diese problematischen Zuweisungen im Literaturbetrieb sind ein Spiegel der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und gleichzeitig auch ein Instrument für politische Maßnahmen gegenüber dem Fremden. Die Typisierung als "Migrantenliteratur" ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer Gesellschaft, die Ressentiments gegen eine zu klare Sprache schürt und eine Kultur des Unterschieds pflegt.

Die widersprüchliche "Handhabung" der Migranten-Problematik kann man auch in diesem neuen Septemberheft von "nah & fern", dem "Kulturmagazin für Migration und Partizipation", ablesen, das dreimal im Jahr erscheint. Das Wort "Partizipation" im Titel läßt sich allerdings kaum mit der inhaltlichen Absicht dieser Herausgabe vereinbaren, die im Editorial genannt wird: "Grenzen sind überschreibbar"

So ist in den letzten Jahren ein transnationaler Raum der Literatur entstanden, der in dem Maße größer wird, in dem Grenzüberschreitungen (und ihre Folgen) als gesellschaftliche Normalität des 21. Jahrhunderts angesehen werden.

In diesem Heft wird es darum gehen, wie solche Grenzen fortgesetzt überschritten und überwunden werden: die staatlichen, die kulturellen und auch die im eigenen Kopf. Dies geschieht unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder dem Migrationshintergrund der Autoren und unabhängig davon, ob das Geschriebene auf realen Erlebnissen beruht. Die Unterschiede zwischen Identitäten, Nationen oder Kulturen sind längst in Bewegung geraten und fließen ineinander. Ihre Grenzen sind überschreit- und überschreibbar."
(Editorial von Dankwart von Loeper, S. 3)

Ob die Lösung des Problems allerdings in der Möglichkeit einer interkulturellen Identitätsentwicklung liegt, im Geist der einen menschheitsverbindenden Multikultur ist bei einem Blick auf die gesellschaftliche und politische Realität fraglich, die davon letztlich auch nicht erträglicher wird. Der hierzulande herrschende Rassismus oder die Behördenwillkür, die den Einwanderern entgegenschlagen und ihnen das Leben in dieser Gesellschaft schwer machen, wird nicht allein mit einer möglichen Bereitschaft zur Eingliederung oder der Eingliederung selbst zu korrigieren sein. Tatsächlich sind die Grenzen alles andere als aufgehoben. Aber gerade darüber berichtet die Mehrheit der Texte in diesem Heft eindrücklich...

Auf dem dritten Integrationsgipfel der Bundesregierung reichten 17 Migrantenverbände ihre Kritik ein. Die Entwicklungen liefen den Zielen des Integrationsplanes zuwider. So sei in den vergangenen Jahren das Zuwanderungsrecht verschärft und die Einbürgerung erschwert worden. Auch der Ausbildungsmarkt und die Situation an den Schulen für Kinder mit Migrationshintergrund hätten sich nicht verbessert. "Integration bedeutet Partizipation", betonte Angela Merkel, was verdächtig an das Prinzip der Frauenquote erinnert, die einzig dem Zweck dient, ein Umdenken endgültig überflüssig zu machen und unbequeme Stimmen zur Ruhe zu bringen.

Deswegen müsse es ganz normal sein, dass Migranten in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch in der Politik, entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung vertreten seien.

Die Vertreter der Migranten zeigten sich von dem Erreichten allerdings nicht ganz so euphorisiert. Der Integrationsplan sei ein Meilenstein in der deutschen Geschichte, sagte zwar auch Mehmet Tanriverdi, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände. Er betonte aber auch: "Wir sind noch weit weg von dem Ziel, das wir uns gesetzt haben'. Der Integrationsplan sei "unten noch nicht angekommen'."
(Katharina Schuler, ZEIT ONLINE 6.11.2008)

Beim Lesen der Zeitschrift kommt man um die immer wieder diskutierte Frage nach der Funktion von Literatur in Deutschland nicht herum. Können Schriftsteller überhaupt etwas bewirken, eine Entwicklung in Denken und Handeln in Gang setzen, Kriege verhindern, Vorurteile abbauen? Intellektuelle und Schriftsteller sind nicht unbedingt selbst die Betroffenen und zerrissen zwischen den Anforderungen des Büchermarktes, den tauben Ohren vieler Leser und der eigenen Stimme. Dennoch können sie festgefahrene Deutungsmuster aufbrechen, Widersprüche aufdecken und der Realität eine neue oder andere Sichtweise geben.

In diesem Sinne legt die aktuelle Ausgabe von "nah & fern" auf im wahrsten Sinne des Wortes sprechende und einfache Weise alle Probleme offen. Das Heft regt an, informiert und macht auf beklemmende Weise betroffen. Der von Loeper Literaturverlag, von dem das Magazin erstellt wird, ist ein Profi darin, sein Anliegen zu präsentieren, denn seit über 25 Jahren sind die Themenbereiche Exil, Migration, Asyl und Menschenrechte ein wichtiger Verlagsschwerpunkt. Der Verlag hat die Zeitschrift "nah & fern" seit November 2005 (Ausgabe 31) übernommen. Die redaktionelle und gestalterische Verantwortung liegt jetzt bei ihm. Ein Redaktionsbeirat mit profilierten und sachkundigen Persönlichkeiten berät die Redaktion.

Die erste Ausgabe von nah&fern erschien noch in der "alten" DDR in den Zeiten des Umbruchs im Sommer 1989 zum Kirchentag in Leipzig. Zunächst herausgegeben vom Ökumenisch-Missionarischen Zentrum Berlin-Ost, beteiligte sich ab der zweiten Ausgabe das Evangelisch- Lutherische Missionswerk Leipzig (LMW) an der Herausgabe der Zeitschrift.

Der Ausländerbeauftragte des LMW, Dieter Braun, arbeitete im Redaktionskreis leitend mit. Von 1991 bis 2004 war nah&fern eine Gemeinschaftsproduktion von LMW und Berliner Missionswerk (BMW), mit finanzieller Unterstützung des EKD-Kirchenamtes und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK). Die Hauptverantwortung für die Herausgabe lag beim Ausländerbeauftragten des LMW.

Themenschwerpunkte waren u.a. Interkulturelle Arbeit, Abschiebehaft, Illegalität, Europa, Rassismus, Kinder, geschlechtsspezifische Verfolgung u.v.m. Viele namhafte Autorinnen und Autoren haben an dem Heft mitgewirkt.
(www.vonLoeper.de, Geschichte der Zeitschrift)

"nah & fern" hat klar definierte Zielgruppen ...

Zielgruppe sind alle LeserInnen, die sich für die Themen Migration und Partizipation interessieren. Dazu gehören beispielsweise haupt- und ehrenamtliche MitarbeiterInnen aus der Menschenrechtsarbeit oder Flüchtlingsberatung, Interessierte aus Politik, Gewerkschaft, Verwaltung, Hochschule, Kirche, Medien und Wohlfahrtsverbänden.

Die Zeitschrift soll einer breiten Öffentlichkeit - besonders auch Multiplikatoren wie z.B. LehrerInnen oder Betriebsräten - die Themen Integration und Partizipation von Flüchtlingen und MigrantInnen nahe bringen.
(www.vonLoeper.de, Zielgruppen)

... und ist damit im von Loeper Literaturverlag gut aufgehoben:

Der von Loeper Literaturverlag wurde 1978 als "Verlag Rolf Schott Archiv" von dem damals noch 19-jährigen Dankwart von Loeper (*1958) gegründet. Ziel des Verlages war es, vergessene Exilautoren, die so genannten "verbrannten Dichter" dem deutschen Publikum wieder zugänglich zu machen sowie jungen Autorinnen und Autoren eine verlegerische Heimat zu bieten. [...] Hier finden Sie die großen Standardwerke zum Thema Asyl und Menschenrechte: Das "Handbuch der Asylarbeit", seit seinem Erscheinen das Nachschlage- und Informationswerk für alle haupt- und ehrenamtlich in der Asylarbeit tätigen, das "Handbuch der Fluchtländer", herausgegeben vom Informationsverbund Asyl (ZDWF), wichtige Handbücher, die von PRO ASYL herausgegeben wurden, z.B. "Menschenwürde mit Rabatt" von Georg Classen oder "Das neue Asylrecht" von Hubert Heinhold, Bücher zum Thema Illegale, Kinder im Asyl, Kirchenasyl und vieles mehr...
(www.vonLoeper.de, Verlagsgeschichte, Der von Loeper Literaturverlag)

Es bleibt zu hoffen, daß das Magazin noch lange fortgeführt werden kann. Die nächste Ausgabe erscheint mit dem Thema "Urbane Jugendkulturen" im Dezember 2008.

10. November 2008


nah & fern
Das Kulturmagazin für Migration und Partizipation
Migration literarisch:
Zwischen Istanbul und Wanne-Eickel
19. Jahrgang - September 2008 - Nr. 39
von Loeper Literaturverlag
3 Ausgaben im Jahr, 5,- Euro
Internet: www.vonLoeper.de