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REZENSION/472: Civikov, Germinal - Srebrenica. Der Kronzeuge (SB)


Germinal Civikov


Srebrenica. Der Kronzeuge



Kein Ereignis der jugoslawischen Sezessionskriege ist von derartiger Symbolkraft wie die Einnahme der UN-Enklave Srebrenica durch die Armee der bosnischen Serben und die dabei erfolgende Ermordung zahlreicher bosnischer Muslime im wehrfähigen Alter. Nicht von ungefähr wird von interessierter Seite dabei an die Ikonographie und Diktion des Holocausts angeknüpft, gilt Srebrenica doch als das schlimmste Kriegsverbrechen, das seit dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden stattgefunden hat. Als Täter identifiziert werden nicht nur die direkt an Tötungen und Massakern beteiligte serbische Soldaten, Söldner und Freischärler, sondern das Geschehen wird mit einem antiserbischen Ressentiment verknüpft, das den Regierungen der NATO-Staaten hinreichende Legitimation verschaffte, um Bombenangriffe auf Stellungen der bosnischen Serben zu fliegen und schlußendlich Jugoslawien selbst anzugreifen.

Daß im Juli 1995 in Srebrenica bis zu 8000 Jungen und Männer systematisch massakriert wurden, gilt als historisch belegte Tatsache. Dennoch sind die genauen Umstände des Todes der insgesamt rund 8000 exhumierten und der 3200 namentlich bekannten Leichen sowie ihre Zuordnung zu den spezifischen Tatvorwürfen und Akteuren nicht so weitreichend geklärt, daß die Schuld an der Tragödie zweifelsfrei der damaligen politischen Führung der Republika Srpska oder gar der Bundesrepublik Jugoslawien angelastet werden könnte. Ein großes Problem bei der Klärung der Vorgänge liegt in der starken Politisierung des Geschehens nicht nur seitens der beteiligten Konfliktparteien, sondern auch des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY).

Srebrenica ist ein zentraler Knotenpunkt in dem legitimatorischen Konstrukt, das die Vormachtstellung der westlichen Industriestaaten befestigt. So leitet die NATO aus den jugoslawischen Sezessionskriegen den Auftrag ab, bei bürgerkriegsartigen Entwicklungen in die hoheitlichen Befugnisse souveräner Staaten einzugreifen, und zwar anstelle der Vereinten Nationen, deren Ansehen durch die Einnahme der UN-Schutzzone Srebrenica schweren Schaden nahm. Die USA begründen die Aufrechterhaltung militärischer Garnisonen in Europa mit den Aktivitäten ihrer Streitkräfte während des Zerfalls Jugoslawiens, die EU treibt die Osterweiterung ihres Territoriums unter anderem mit dem Argument der Vermeidung entsprechender Entwicklungen in Gebieten schwacher Staatlichkeit voran, und den Sachwaltern des institutionalisierten internationalen Strafrechts ist die Einschränkung des klassischen Völkerrechts Voraussetzung ihrer Arbeit.

Aus allen diesen Gründen kommt den Ereignissen des Juli 1995 in der bosnisch-muslimischen Enklave Srebrenica die Wirkung eines katalysatorischen Moments zu, das dem Paradigma einer Weltordnung, als deren gouvernementale und sicherheitspolitische Garanten vor allem USA und EU fungieren, Vorschub leistet. Zu diesem Zweck ist der Nachweis zu führen, daß die politische Verantwortung für genozidale Verbrechen den Führungen jener Staaten anzulasten ist, in denen sie geschehen sind. Nur auf diese Weise lassen sich Eingriffskompetenzen erwirtschaften, die die exekutiven und staatsrechtlichen Befugnisse souveräner Regierungen einschränken.

Daher sind die offenen Fragen zum Geschehen vor 14 Jahren nach wie vor von erheblicher Brisanz. Der in Den Haag lebende Journalist Germinal Civikov hat sich bereits als Beobachter des Strafverfahrens gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic vor dem ICTY in die komplizierte Materie der dort angeblich vollzogenen Wahrheitsfindung eingearbeitet und dazu ein Buch verfaßt [siehe dazu REZENSION/403], in dem diese Justizfarce auf eine Weise dokumentiert wird, die verständlich macht, wieso das anfangs zum Jahrhundertprozeß hochgeschriebene Verfahren fast vollständig aus der laufenden Berichterstattung verschwand. Auch in dem vorliegenden Band "Srebrenica. Der Kronzeuge" spielt der unter bis heute nicht befriedigend geklärten Umständen im ICTY-Gefängnis Scheveningen verstorbene jugoslawische Staatschef eine wichtige Rolle, traf er als Angeklagter doch selbst auf den einzigen Tatbeteiligten, den das Den Haager Kriegsverbrechertribnal bisher wegen des angeblich größten der in Srebrenica begangenen Verbrechen angeklagt, verurteilt und als Kronzeuge in mehreren Strafverfahren eingesetzt hat.

Die Rede ist von dem bosnischen Kroaten Drazen Erdemovic, der nach seiner Festnahme in Jugoslawien 1996 gestand, an der Erschießung von 1200 bosnisch-muslimischen Zivilisten aus Srebrenica beteiligt gewesen zu sein. Kurz darauf wurde er von den jugoslawischen Behörden an das ICTY ausgeliefert, für dessen Ankläger Erdemovic seitdem wiederholt in den Zeugenstand trat, um führende Politiker und Militärs der Republika Srpska zu belasten, darunter den damaligen Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, und dessen obersten General, Ratko Mladic. Die über Erdemovic wegen der Ermordung von 70 bis 100 Zivilisten verhängte Strafe von fünf Jahren Haft verbüßte er in dreieinhalb Jahren, seitdem genießt er die Protektion des Tribunals und lebt in der Anonymität seines Zeugenschutzprogramms.

Civikov greift mit der Untersuchung der Aussagen dieses sich als Opfer mißlicher Umstände präsentierenden Täters einen Faden im Knäuel der vielen Ereignisse und Umstände auf, aus denen sich das komplexe Geschehen zusammensetzt, von dem die Bevölkerung Srebrenicas im Juli 1995 betroffen wurde. Indem er der Geschichte Erdemovics so weit, wie es die einsehbaren Gerichtsprotokolle, die verfügbaren Aussagen anderer Zeugen und die Medienberichte der damaligen Zeit erlauben, auf den Grund geht, eröffnet er Einblicke in eine von Justizwillkür gezeichnete und durch politische Interessen korrumpierte internationale Gerichtsbarkeit. Die vielen Widersprüche, die sich aus den Aussagen des Kronzeugen ergeben, ohne daß es die Richter für erforderlich halten, sie zugunsten einer in sich stimmigen Wahrheitsfindung aufzuklären, kulminieren im Verzicht darauf, die anderen namentlich bekannten Tatbeteiligten, die am 16. Juli 1995 auf dem Gelände der Branjevo-Farm bei dem nördlich von Srebrenica gelegenen Dorf Pilica bis zu 1200 Zivilisten umgebracht haben sollen, anzuklagen und vor Gericht zu stellen, in eine nach konventionellem Ermessen unbegreifliche Unterlassung.

Civikov rollt die Geschichte des Kronzeugen Drazen Erdemovic minutiös und detailliert auf, wobei er an die wichtigsten Ungereimtheiten in seinen Aussagen sowie die Widerlegungen, die sich aus Informationen Dritter ergeben, dankenswerterweise in den unterschiedlichen Widerspruchskonstellationen wiederholt erinnert. Dabei nimmt die für die Verurteilung der politischen und militärischen Führung der bosnischen Serben wichtige Frage nach der Kommandogewalt auf unterer und mittlerer Ebene eine zentrale Stellung ein. Auch der Nachweis, daß die Mörder auf der Branjevo-Farm während der Tatzeit keineswegs in der Lage gewesen sein können, 1200 Personen unter den von Erdemovic geschilderten Bedingungen umzubringen, belegt die Fragwürdigkeit, ein solches Geschehen allein aufgrund der Aussage einer Person für bare Münze zu nehmen. Des weiteren werden Probleme bei der Datierung des Ereignisses, des militärischen Rangs des Kronzeugens und seiner Zurechnungsfähigkeit vor Gericht besprochen. All dies wird mit einer Prozeßführung kontrastiert, die auf der Hand liegende Fragen an Erdemovic vermeidet, während sie unbequeme Einwände Milosevics bisweilen mit dem Abschalten seines Mikrofons quittiert.

So nimmt die mit zahlreichen Zitaten aus Gerichtsprotokollen dokumentierte Chronik der Auftritte Erdemovics die Kontur eines zweckdienlichen Konstrukts an, mit Hilfe dessen die Frage der politischen und militärischen Zuständigkeit für die Massaker nur verifiziert werden kann, wenn man unübersehbare Aporien in Kauf nimmt. Civikovs Analyse der Widersprüche, in die sich der Kronzeuge des ICTY verwickelt, erschüttert nicht nur dessen Glaubwürdigkeit, sondern vor allem die des Den Haager Kriegsverbrechertribunals. Gerade die im O-Ton wiedergegebenen Wortwechsel zwischen Richter, Ankläger, Zeugen und Angeklagten schüren Zweifel an der Gerechtigkeit einer Strafjustiz, der von Anfang an der Makel der einseitigen Instrumentalisierung gegen die Interessen Jugoslawiens und Serbiens anhaftete.

Gegen Ende des Buches wartet der Autor mit einem hypothetischen Verlauf der Ereignisse, an denen Erdemovic beteiligt war, auf, der die Lücken in dessen Aussagen auf plausible Weise schließt. Möglicherweise handelte es sich bei dem auf der Branjevo-Farm aktiven Hinrichtungskommando nicht um eine ordentliche Einheit der bosnisch-serbischen Armee, sondern um eine Schar außerhalb der regulären Befehlskette von Dritten gedungener Söldner. Sollte dies der Wahrheit mehr entsprechen als der gerichtsoffizielle Tathergang, dann erklärte das zumindest die Not des ICTY, einen der wichtigsten Anklagepunkte in der juristischen Aufarbeitung der jugoslawischen Sezessionskriege beweiskräftig untermauern zu können.

Des weiteren gibt Civikov anhand einer Indizienkette der Möglichkeit Raum, daß ein EU-Staat in das Massaker auf der Branjevo-Farm verstrickt sein könnte. Die Mutmaßung einer "French Connection" ist nicht neu, gewinnt jedoch anhand der akribischen Recherchen des Autors zumindest nicht weniger Glaubwürdigkeit als etwa die Verschwörungstheorie der NATO-Regierungen, laut denen der sozialistische Politiker und jugoslawische Präsident Milosevic ein großserbischer Nationalchauvinist war, dem die Hauptschuld an der kriegerischen Eskalation auf dem westlichen Balkan anzulasten wäre.

Der Autor ist sich zweifellos bewußt, daß er für sein Buch, wenn es nicht einer ideologischen Vorzensur zum Opfer fällt, die Angriffe auf die zentralen Glaubenssätze der herrschenden Konsensproduktion mit Nichtbeachtung straft, heftigen Widerspruch ernten wird. Schließlich steht hier nicht nur die Glaubwürdigkeit des ICTY in bereits erfolgten Strafverfahren auf dem Spiel. Auch der laufende Prozeß gegen Radovan Karadzic sowie die noch ausstehende Verhaftung Ratko Mladics könnten durch eine breite Debatte um die Relevanz und Kompetenz des Den Haager Kriegsverbrechertribunals beeinträchtigt werden.

Dort ist man sich des prekären Stands der Beweisführung im Falle Karadzic offensichtlich bewußt, hat ICTY-Richter Wolfgang Schomburg doch kurz nach der Verhaftung des ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska angekündigt, daß man sich auf die Beweislage in früheren Prozessen stützen werde, anstatt den ganzen Fall erneut aufzurollen. Man könne als "internationales Strafgericht nicht Historiker spielen und versuchen, alles aufzuarbeiten", so daß dieser Prozeß "auf keinen Fall so lange dauern wird wie etwa das Verfahren gegen Milosevic", so Schomburg im Interview mit dem Deutschlandfunk (26.07.2008). Dort verwies er gleich mehrmals darauf, daß man mit Karadzic zwar nicht kurzen Prozeß machen werde, ihm jedoch keinesfalls den gleichen zeitlichen Rahmen zugestehen werde, in dem der frühere jugoslawische Präsident in eigener Sache auftrat.

Dieser hatte allzu häufig vermocht, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in eine Anklage gegen die NATO-Staaten umzufunktionieren. Betrachtet man die Dauer seines vorzeitig abgebrochenen Prozesses und die dabei erfolgte Aufteilung der Zeiten zwischen Anklage und Verteidigung, dann tritt ohnehin eine strukturelle Benachteiligung Milosevics zutage. Daß der sich selbst verteidigende Anwalt und Politiker es dennoch schaffte, die gegen ihn geltend gemachten Anklagepunkte zu erschüttern, war unter anderem Ergebnis der während der jugoslawischen Sezessionskriege propagierten Motive und Taten der Belgrader Führung, die in deutlichem Kontrast zur politischen Realität dieser Kriege standen.

Um nicht zu widerlegen, was irreversibel sein soll, will man in Den Haag keine historische Forschung betreiben, sondern dem Recht der Sieger nach Maßgabe strafprozessualer Verfahrensweisen, die in vielfacher Hinsicht kritikwürdig sind, zur Gültigkeit verhelfen. Daß es sich dabei nicht um eine Übertreibung handelt, belegt schon die Tatsache, daß sich das Tribunal trotz zahlreicher Aufforderungen nicht für zuständig hält, mutmaßliche, während des Jugoslawienkriegs 1999 begangene Kriegsverbrechen der NATO zu untersuchen. Sollten Probleme bei der Durchsetzbarkeit der erwünschten Wahrheit auftreten, dann könnten immer noch gesetzliche Vorschriften von jener Art greifen, mit der die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005 versuchte, im Rahmen der Erweiterung des Volksverhetzungsparagraphen die Leugnung nicht nur des Holocausts, sondern jeglicher Form des Völkermords, der "als geschichtlich gesichert anerkannte Tatsache" gelte, zu einem strafwürdigen Vergehen zu erklären. Als Beispiel für einen solchen Fall wurde das "Leugnen des Völkermords im ehemaligen Jugoslawien" (Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums, 11.02.2005) genannt.

Die vollständige Aufklärung des Geschehens in Srebrenica ist mithin von großer Relevanz für die Bürger des früheren Jugoslawiens wie für jeden EU-Bürger, der eines Tages damit konfrontiert sein könnte, begründete Zweifel nicht aussprechen zu dürfen, da die regierungsamtliche Wahrheit strafbewehrt wäre. Keinesfalls soll bezweifelt werden, daß es bei der Einnahme von Srebrenica zu erheblichen Grausamkeiten kam. Es sollte aber auch nicht in Abrede gestellt werden, daß die umliegende serbische Bevölkerung zuvor unter den Aktivitäten bosnisch-muslimischer Soldaten zu leiden hatte, so daß Racheakte nicht notwendigerweise zu den bosnisch-serbischen Truppen gehörender Freischärler vorprogrammiert waren, und daß es eine übergeordnete Konstellation politischer Interessen gab, die von der einseitigen Beschuldigung der bosnischen Serben profitierte. Um weitere Fragen abschließend zu klären, die den umstrittenen Charakter der bosnisch-muslimischen Enklave während des Bürgerkriegs, die politischen Umstände ihrer Einnahme durch die bosnisch-serbischen Truppen und die Parteinahme der führenden NATO-Staaten für die bosnischen Muslime betreffen, bedürfte es mehr als der Kraft eines einzelnen Journalisten.

Germinal Civikov hat das heiße Eisen, daß er angefaßt hat, aus praktischen Gründen auf den Fall des ICTY-Kronzeugen Drazen Erdemovic beschränkt. Der Faden, den der Leser damit in die Hand bekommt, kann allerdings mehr offenlegen als die Umstände dieses Falls. Er kann zu Fragen führen, die durch die schnellen Antworten der internationalen Strafjustiz nicht aus der Welt zu schaffen sind. Der Autor hat die gut lesbare Dokumentation und Analyse eines veritablen Justizskandals vorgelegt, der nur deshalb nicht zu einem solchen gerät, weil jede konträr zu herrschenden Interessen stehende Aufklärung große Mühe hat, sich Gehör zu verschaffen.

20. März 2009


Germinal Civikov
Srebrenica. Der Kronzeuge
Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien, 2009
184 Seiten, 15,90 Euro
ISBN 978-3-85371-292-4