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REZENSION/543: Moshe Zuckermann - "Antisemit!" Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument (SB)


Moshe Zuckermann


"Antisemit!"

Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument



Je mehr die gesellschaftliche Entwicklung in bloßen Reproduktionszwang zurückfällt und darüberhinausgehende Wünsche, Hoffnungen und Ideale zur Disposition bloßen Überlebens zu Lasten des anderen stellt, desto weniger Empfindsamkeit und Empathie bleiben für allgemeinmenschliche Belange übrig. Demagogen sozialrassistischen Zuschnitts erhalten in Westeuropa und Nordamerika ungeahnten Zuspruch, und die zivilisatorische Suprematie scheint in dem von ihr ausgerufenen Kampf der Kulturen als jene Barbarei auf, die zu besiegen sie angeblich angetreten ist. Der gesellschaftliche Diskurs der "Ersten Welt" verlegt sich dem klaffenden Widerspruch zwischen wertnormativem Anspruch und globalkapitalistischer Realpolitik gemäß auf eine selbstreferentielle Legitimationsproduktion, der kein historisches Sujet und kein kategorisches Diktum zu wertvoll wäre, als daß man sie nicht auf konträre Weise besetzte.

Der als Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv lehrende Soziologe Moshe Zuckermann nimmt sich in seinem jüngsten Buch des in seiner Auslegung und Anwendung hart umkämpften Begriffs des Antisemitismus an und stellt schon mit dem apostrophierten Vokativ des Titels klar, daß es ihm um die Kritik seiner bezichtigenden, anprangernden und zerstörenden Instrumentalisierung geht. "ANTISEMIT!" ist natürlich immer der andere, und das muß niemand sein, der aus seinem spezifischen Haß auf Juden kein Hehl macht oder ihn in rassistisch kontaminierten Verallgemeinerungen unterbringt. Als "ANTISEMIT!" exponiert werden auch Menschen, die Kritik an der israelischen Besatzungspolitik üben, am zionistischen Charakter des Staates Israel, an der einseitigen Parteinahme der US-Regierung für ihn oder die sich einer vermeintlich verkürzten Kapitalismuskritik bedienen. In seiner anklagenden Form hat sich der Antisemitismus zu einer scharfen Waffe im politischen Kampf entwickelt und meint längst nicht mehr nur alte oder neue Nazis, bei denen ohnehin nicht immer klar ist, ob ihr Haß gegen den Islam und ihre Bewunderung für die Stärke Israels und der USA nicht dazu geführt hat, den Rassenhaß des NS zeitgemäß zu modifizieren.

Über Gewißheiten wie die Monstrosität der Judenvernichtung durch den NS-Staat und den ihn befeuernden, gegenüber dem klassischen christlich-klerikalen Antijudaismus durch den biologistischen Szientismus der kapitalistischen Moderne qualifizierten Antisemitismus verliert Zuckermann nur wenig Worte, um sich ganz dem von ihm ausgemachten Mißbrauch des "konstruierten Zusammenhangs von Zionismus, Shoah, Antisemitismus und Nahostkonflikt" (S.11) widmen zu können. Ausgehend von der unter Verweis auf Theodor W. Adorno geleisteten Kritik an der "verbalen Veralltäglichung des Monströsen, seiner bürokratischen Versprachlichung" und der damit in Frage gestellten "Wahrung der Würde der historischen Opfer im Stande ihres Opferseins" (S.10) geht es dem Autor darum, die Korrumpierung des ohnehin aus der Sicht der Überlebenden und Nachgeborenen schwierigen Umgangs mit dem Faktum der aus rassistischen Gründen erfolgten Massenvernichtung zugunsten politischer Nutzeffekte, die eher auf der Seite der Täter als der Opfer zu verorten wären, darzustellen und zu kritisieren.

Zuckermann verwahrt sich dabei gegen die ihrerseits instrumentelle Verabsolutierung eines Opferbegriffs, aus dem politisches Kapital geschlagen werden soll nicht nur zugunsten nationaler Opferkollektive, sondern etwa auch zur Schwächung der rechtlichen Stellung von Angeklagten in Strafprozessen und des Ausbaus sicherheitsstaatlicher Kompetenzen.

"Ohne die spezifische Erinnerung eines bestimmten Kollektivs an seine Opfer antasten zu wollen, könnte die paradigmatische Dimension des jüdischen Shoah-Schicksals zur Grundlage universeller Erinnerung der Opfer erhoben werden, wobei es dann freilich keiner partikular bestimmten - religiösen, ethnischen, nationalen - Identität der Opfer mehr bedürfte, sondern eben dessen, was alle auf der Rampe von Auschwitz bereits waren und erst recht schon bald nach der vermeintlich noch sortierenden Selektion wurden: Opfer. Die anonymisierende Tendenz entspräche dabei einerseits der inneren Tendenz des weltgeschichtlichen barbarischen Gewaltaktes, konterkarierte aber andererseits die eben diesem Gewaltakt zugrunde liegende Ideologie: Die zur Ausrottung bestimmten "Untermenschen" würden allgemein - enthierarchisiert! - als Menschen erinnert werden. Menschen (und keine Dämonen) haben den Holocaust an Menschen (und keinen "Untermenschen") verbrochen."
(S.56)

Damit bricht der Autor eine Lanze für ein diskriminierungsfreies Gedenken, das die Shoah in ihrer Einzigartigkeit weder negiert noch verfügbar macht für Interessen, die an der finalen Bewältigung genozidaler Gewalt kein Interesse haben. Worum sonst sollte es gehen im Angesicht der unbegreiflichen, weil dem zivilisatorischen Selbstverständnis scheinbar kontrafaktischen Auslöschung ganzer Gruppen in ihrer angeblichen Eigenart feindselig markierter Menschen durch industriell organisierten Massenmord? Diese aus humanistischem Verständnis erfolgende Annäherung an das Unaussprechliche hat den großen Vorteil, für alle Menschen aufklärerische Produktivität entfalten zu können, gerade weil es sich nicht für partikulare Zwecke wie etwa die von dem Autoren herausgearbeitete "Zionisierung des Holocaust" (S.68) vereinnahmen läßt.

Eben diese Praxis zu kritisieren ist die Absicht des vorliegenden Buches. Zuckermann vollzieht dies anhand zweier exemplarischer Beispiele, die in ihrer jeweiligen Betroffenheit nicht gegensätzlicher sein könnten, sich diesen Sachverhalt jedoch auf durchaus konvergierende Weise zunutze machen. Die Rede ist von Israel und Deutschland. In der griffigen Verabsolutierung zum Land der Opfer respektive Täter steckt Kapital beiderseitigen Nutzens sowohl materieller wie legitimatorischer Art. Im ersten, Israel gewidmeten Teil arbeitet der Autor anhand der Rede des Ministerpräsidenten Israels, Benjamin Netanjahu, vor den Vereinten Nationen im September 2009 und der Rede des Präsidenten Israels, Shimon Peres, vor dem Deutschen Bundestag im Januar 2010 die moralische Hypertrophie einer Staatsdoktrin heraus, deren Annexions- und Besatzungspolitik die in Anspruch genommenen Werte des Friedens, der Demokratie und Menschenrechte nicht krasser konterkarieren könnte.

Wie mit diesem Manko umgehen und es zu eigenen Gunsten zu wenden ist die Frage, deren Beantwortung Zuckermann mit der dialektischen Verve widerspruchsaufhebender Vervollständigung der stets verkürzten und selektiven Apologie eigener Deutungshoheit und Machtpolitik über den beabsichtigten Zweck hinaus treibt. Das liegt in Anbetracht ausgesprochen rabiat vorgehender Regierungspolitiker wie Israels Außenminister Avigdor Lieberman so sehr auf der Hand, daß der Verzicht, dies auch im Mainstream politischer und massenmedialer Repräsentation zu tun, auf die umfassendere Wirkung zu diesem Zweck geschaffener Ideologeme schließen läßt.

In diesem Zusammenhang ist auch die Rede von einem angeblich "neuen", der Schädigung des Ansehens Israels gewidmetem Antisemitismus. Zuckermann dekonstruiert diesen von Lieberman geprägten Begriff nicht nur in Hinsicht auf die unterstellte, jedes strategische Kalkül ignorierende Bedrohung Israels durch angeblich übermächtige Feinde, sondern wirft auch die Frage nach der eigenen Verantwortung des Außenministers für den Niedergang des Ansehens Israels in der Welt auf. Die durch diesen vollzogene Amalgamierung von Antizionismus und Antisemismus erweist sich anhand der Aktivitäten, die Lieberman auf dem Feld der internationalen Beziehungen Israels entfaltet, als demagogische Übersteigerung des simplen Sachverhalts, daß aggressives und demütigendes Taktieren dementsprechende Antworten provoziert.

Im zweiten, dem Umgang deutscher Politik und Publizistik mit dem Thema des Antisemitismus gewidmeten Teil des Buches kritisiert der Autor anhand signifikanter Ereignisse wie der Rede der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2008 vor der Knesset, daß es bei der in Anspruch genommenen Exklusivität dieses bilateralen Verhältnisses meist um Regierungsinteressen und nicht die Lehren geht, die in einem universalen Sinne aus dem Holocaust zu ziehen wären. Anhand der Gutheißung israelischer Aggressionsakte durch diese und vorherige Bundesregierungen zeigt sich die korrumpierende Wirkung einer Vergangenheitsbewältigung, die die eigene Schuld nicht ungeschehen machen kann und desto mehr bemüßigt ist, sie in ein legitimatorisches Guthaben etwa für die Kriegführung in Jugoslawien umzumünzen. Zuckermann spricht hier von einer Fetischisierung des Bekenntnisses zu Israel, "bei dem nicht nur israelische Realität (und Aspekte des Zionismus) geflissentlich ignoriert werden, sondern Juden und Judentum abstrahiert werden, um nur noch als Kitt für die losen Bestandteile des politisch korrekten Lippenbekenntnisses von Deutschen herzuhalten". (S.107)

Bedeutsam für den von der Bundesrepublik erhobenen Wiedergutmachungsanspruch ist die Einsicht, daß die vom NS-Staat vernichtete Judenheit niemals wieder auferstehen kann, "am allerwenigsten in Israel" (S.127), dessen Staatswerdungsprozeß von einem höchst ambivalenten Verhältnis zu den verfolgten europäischen Juden geprägt ist und der zudem zu Lasten eines anderen Kollektivs ging. Zu erinnern ist insbesondere an die vielfältige Kultur des osteuropäischen Judentums, die durch die das Hebräische vor dem Jiddischen favorisierende Sprachenpolitik des zionistischen Projekts negiert und durch die klassenspezifische Zuweisung innerhalb der Gesellschaft Israels entwertet wurde. Eine sachgerechte Differenzierung zwischen Judentum, Zionismus und Israel würde den Opfern des Holocaust weit gerechter, als die in Deutschland tonangebende Gleichsetzung zionistischer Siedler mit orthodoxen, deutschnationalen und kommunistischen Juden. Insbesondere letztere erfreuen sich kaum der gebotenen Anerkennung, da das Vorhaben der Wiedergutmachung mit dem hegemonialen Antikommunismus der BRD kompatibel sein mußte.

Die Funktionäre deutscher Juden kritisiert Zuckermann in ihrer die israelische Regierung stets verteidigenden und die israelkritische deutsche Linke unter Antisemitismusverdacht stellenden Politik ausdrücklich. Gleichzeitig nimmt der Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender, der in Israel geboren wurde, mit seinen Eltern in den 1960er-Jahren in Frankfurt lebte und Anfang der 1970er-Jahre nach Israel zurückkehrte, aus zionistischer Sicht in der Diaspora lebende Juden gegen den Vorwurf des jüdischen Selbsthasses in Schutz. Unter ihnen gäbe es genügend Menschen, die sich für das zionistische Projekt auch zum Preis der Stigmatisierung als "selbsthassende Juden" nicht vereinnahmen lassen wollten: "Was könnte mehr davon zeugen, als die lebensgeschichtliche Entscheidung von Shoah-Überlebenden, sich gerade in dem Land niederzulassen, welches sie in eliminatorischer Absicht zum vermeintlich monolithischen Kollektiv zusammengeschweißt hatte." (S.174)

Für die deutsche Linke erweist sich die Ideologisierung des Antisemitismus als besonders wirksamer Spaltpilz, hat sich die Frage, "Wie hältst Du es mit Israel?" doch zu einem politischen Bekenntnis erster Ordnung entwickelt. Zuckermann widmet der Analyse und Kritik des Phänomens der sogenannten Antideutschen denn auch einigen Raum, läßt sich doch anhand der von dieser Fraktion in Anspruch genommenen ideologiekritischen Diskurshoheit exemplarisch nachweisen, daß der Umschlag emanzipatorischer Ansprüche in ihr Gegenteil sich durch keine noch so elaborierte Theoriebildung eskamotieren läßt, wenn am Ende die begeisterte Parteinahme für Nationalstaaten steht, deren kapitalistische Vergesellschaftung sich in aggressiver Kriegführung und kolonialistischer Expansion artikuliert.

So läßt der Autor einige Begebenheiten jüngerer Zeit Revue passieren, in der die sogenannte antideutsche Ideologie das diskriminierende Ergebnis hervorbrachte, für unverhandelbar erklärte ideologische Wahrheiten gegen den offenen demokratischen Streit durchzusetzen. Was sich im Widerstand gegen großdeutsche Restauration immer noch links geriert, findet in der realpolitischen Konkordanz mit der transatlantischen Hegemonie seinen herrschaftsförmigen Niederschlag. Was sich im gleichen Atemzug als kulturelle Avantgarde westlicher Metropolengesellschaften inszeniert, verebbt am provinziellen Horizont opportunistischer Bescheidenheit, ist die internationalistische Palästinasolidarität doch unter Linken der angloamerikanischen wie sonstigen europäischen Welt die Regel. Der dagegen gerichtete, in den meisten Fällen unbegründete Vorwurf einer Assoziation mit reaktionärem Islamismus kommt dieser Tage in der neokonservativen Offensive der Sarrazin und Wilders zu sich selbst. So wurde die von dem niederländischen Politiker in Berlin angekündigte Bildung einer internationalen Dachorganisation der neuen Rechten namens "Freedom Alliance" mit einer Grußadresse der israelischen Regierungspartei Likud unterstützt.

Zuckermann weiß die antideutsche Ideologie als in der Tradition der Frankfurter Schule, auf die sich diese Strömung beruft, stehender Soziologe denn auch quasi von innen heraus auf die psychoanalytische Spitze zu nehmen:

"Es wäre an der Zeit, fundiert zu untersuchen, was andeutungsweise längst behauptet wird: Inwieweit sich gerade bei "Antideutschen" ein aus der eigenen Schuldabwehr gebildeter, vorbewusst pulsierender antijüdischer Affekt sich auf einen islamophob gespeisten Araberhass solcherart verlagert hat, dass nun beides zugleich möglich wird: unterschwellig verhasste, weil Schuld erzeugende Juden zu "lieben", zugleich aber judenfeindliche Araber, mit denen man sich uneingestandenermaßen solidarisiert zu hassen. Will man sich (wie es "antideutsche" Theoretiker besonders gern zu tun pflegen) unbedingt auf den sogenannten "sekundären Antisemitismus" berufen, böte sich doch gerade mit der islamophoben Israelsolidarität die Möglichkeit zur eigenen, narzisstisch freilich doppelt kränkenden Nabelschau, mithin zu einer alternativen Exemplifizierung des vieldeutigen, vom israelischen Psychoanalytiker Zwi Rex in die Welt gesetzten Diktums "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen"."
(S.110)

Was von den Adressaten als verstiegene Anleihe an eigener argumentativer Spitzfindigkeit verworfen werden dürfte, legt doch den Finger in die Wunde einer Rechtfertigungssucht, die sich so oder so an herrschenden Gewalten orientiert, anstatt deren Aufhebung zugunsten einer Autonomie zu betreiben, die sich jeder Subsumierung unter herrschaftliche Interessen entledigt. Die Einteilung der Menschen nach nationaler, religiöser, ethnischer und geschlechtlicher Zuordnung dient stets administrativen Zwecken, die der im Sinne ihrer Befreiung von Zwang und Not noch bevorstehenden Menschwerdung in ausschließender Weise gegenüberstehen. Moshe Zuckermann faßt das heiße Eisen der Instrumentalisierung des Antisemitismus mit gebotener Ausführlichkeit und Konsequenz, aber vor allem im Zeichen eines emanzipatorischen Anliegens an, das zu negieren den Vorwurf seines ursprünglichen Gehalts beraubt und in ein Herrschaftsinstrument verwandelt, das gerade weil es nah am Wasser der Gesinnung gräbt, die es zu treffen vorgibt, von massiv zerstörerischer Wirkung sein kann.

5. Oktober 2010


Moshe Zuckermann
"Antisemit!"
Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument
Promedia Verlag, Wien, 2010
208 Seiten, 15,90 Euro,
ISBN 978-3-85371-318-1