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REZENSION/562: Stiftung Warentest (Hrsg.) - Handbuch Medikamente 2011 (SB)


Stiftung Warentest (Hrsg.)


Handbuch Medikamente 8. Auflage

Vom Arzt verordnet. Für Sie bewertet



Die bunte Welt der Pillen, Salben und Tinkturen war seit jeher für den Laien schwer zu durchschauen. Das ist durch den ständig wachsenden Arzneimittelmarkt in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. In den Zuständigkeitsbereich des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) fallen allein mindestens 59.215 Präparate (Stand 15. Juni 2010). Zeitmangel und Überangebot an medizinischen Informationen machen es selbst für das medizinische Fachpersonal schwer, hier immer auf dem neuesten Stand des Wissens zu sein und für jeden Patienten die optimale Medikamentierung zu finden, was jedoch selbstverständlich erwartet wird. Darüber hinaus stammen die übersichtlichsten und demzufolge leichter zugänglichen Informationen zu Medikamenten und neuerer Forschung meist aus den Marketingabteilungen der Pharmaindustrie, deren wissenschaftliche Relevanz eher fraglich ist, da ihre Darstellungen die eigenen Produkte verständlich eher positiv plazieren als neutral bewerten. "Unabhängige" Forschungsberichte in zumeist englischsprachigen Fachmagazinen werden vergleichsweise viel weniger genutzt.

Ob der Patient eine wirklich optimale Verschreibung sowie ausreichende Informationen und Beratung erhält und der Arzt in seinem budjetierten Zuwendungsfenster (oder auch der Apotheker) die Zeit findet, über Wirkung und Nebenwirkung aufzuklären, ist somit reine Glücksache und überdies davon abhängig, ob der Arzt über die notwendige Information verfügt (bei Allgemeinmedizinern wird von etwa 30 Minuten "Fortbildung" pro Woche ausgegangen - um aber auf dem neuesten Wissenstand zu bleiben, müßten mindestens 19 Fachartikel pro "Tag" gelesen werden) oder ob der Patient selbst in der Lage ist, die "entscheidenden" Fragen zu stellen.

"Selbst ist der Patient" heißt mehr denn je die Devise, zumal bekanntlich im gegenseitigen Einvernehmen von Krankenkassen, Gesetzgeber und Gesundheitssystem heute vorrangig ökonomische Gesichtspunkte die medizinische Versorgung bestimmen, so daß spätestens seit dem neuen, am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Arzneimittelneuordnungsgesetz (kurz: AMNOG) zwischen optimierter, rationalisierter Therapie und der für die eigenen Bedürfnisse "optimalen" genau zu unterscheiden ist. Letztere gibt es oft nur noch auf ausdrücklichen Wunsch der Patienten.

Nach diesem neuen, speziell zur Kostendämpfung konzipierten Gesetz muß jeder Arzneimittel-Hersteller beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), ein Dossier vorlegen, auf dessen Grundlage eine Nutzenbewertung seines Mittels erstellt wird. Wird ein Zusatznutzen innerhalb von 3 Monaten im Vergleich zu bereits auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln nachgewiesen, treten die Krankenkassen in Preisverhandlungen mit dem jeweiligen Hersteller und die betroffenen Medikamente können wie gehabt verschrieben werden. Darüber hinaus wurde seit 2004 einem weiteren Institut, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (kurz: IQWiG), das laut Stiftung Warentest "auf einer ähnlichen Basis wie sie selbst Arzneimittel bewertet", vom G-BA der Generalauftrag erteilt, eigene Untersuchungen über die Wirksamkeit von Arzneimittelgruppen für bestimmte Indikationen vorzunehmen.

Das kann dazu führen, daß Arzneimittel, für die kein Zusatznutzen nachgewiesen werden kann, nicht mehr im vollen Umfang von der Krankenkasse erstattet, aber u.U. auch gar nicht mehr verschrieben werden, weil der höhere Preis offiziell nicht durch einen verbesserten Nutzen gerechtfertigt werden konnte. Diese Regelung schafft jedoch noch mehr Verwirrung bei der Medikamentenversorgung, denn so ist nicht ausgeschlossen, daß beispielsweise ein Patient mit erhöhtem Blutdruck statt seines üblichen jetzt ein wirkstoffgleiches Mittel erhalten soll, das bisher nur bei gutartigen Prostatavergrößerungen verschrieben wurde. Entsprechend findet er in der Packungsbeilage keinen Hinweis auf seine eigene Indikation (Anwendungsgebiet, hier z.B. Bluthochdruck). All das kann sehr zur Verunsicherung beitragen und die von Ärzten vielbesungene "Compliance" (engl. Befolgung hier: des ärztlichen Rates) in Frage stellen.

Laut einer Datenbankrecherche ist diese Regelung inzwischen schon bei mindestens 101 von 143 Wirkstoffen, für die derzeit ein AOK-Rabattvertrag besteht, üblich. Selbst wenn der Arzt das ursprüngliche Medikament aus eigener Überzeugung weiter verschreibt, sind Apothekerinnen und Apotheker in der Regel dazu angehalten, nur die Arzneien abzugeben, für die die jeweilige Krankenkasse einen Rabattvertrag mit dem Arzneimittelhersteller abgeschlossen hat, es sei denn, der Patient selbst besteht auf der Abgabe des verschriebenen Medikaments.

Denn auch das wird seit dem 1. Januar durch das AMNOG erstmals jedem Versicherten zugestanden. Er darf ein anderes als das Rabatt-Präparat seiner Krankenkasse wählen, muß dann aber die höheren Kosten selbst tragen.

Das heißt, der von dem oben beschriebenen Interessenkonglomerat als "mündig" erklärte Patient bestimmt zunehmend seine Behandlung selbst, unter eigener Verantwortung und mit persönlichem Aufwand an Geld, sprich: Selbstkostenbeteiligung, aber auch Zeit (um sich ausreichend zu informieren). Denn wenn auch leicht der Eindruck erweckt wird, Patienten könnten nun gegen Aufpreis eine bessere medizinische Versorgung wählen, ist das möglicherweise nur in manchen Beispielen der Fall. Mit der "Wahl" wird auf den Patienten auch die Qual der richtigen Entscheidung gewissermaßen abgewälzt. Das alles macht ein fachlich kompetentes, unabhängiges und für Laien verständliches medizinischen Nachschlagewerk geradezu unabdingbar.

Die Herausgeber des Handbuchs Medikamente haben sich schon seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, den Leser und Patienten mit dem nötigen Hintergrundwissen in die Lage zu versetzen, den Vertretern der Medizin in Augenhöhe zu begegnen. Die neueste Auflage [1] faßt daher die gesundheitsreformkonforme Grundhaltung des Buches auch in den einleitenden, ersten Sätzen so trendgerecht wie nüchtern zusammen:

Als informierter Patient sollen Sie über die Belange Ihrer Gesundheit mit entscheiden. So sieht es der Gesetzgeber vor. [...] Bevor Sie jedoch Ihr Einverständnis zu einer medikamentösen Therapie geben, sollen Sie wissen, wie wirksam die eingesetzten Mittel sind und welche Nebenwirkungen sie haben können. Das setzt voraus, dass Ihnen verlässliche Informationsquellen zur Verfügung stehen.
(Seite 7)

Ist auch die per Dekret aufgezwungene Notwendigkeit solcher Eigenständigkeit vielleicht durchaus zu beklagen, eines läßt sich nicht bestreiten: "Das Handbuch Medikamente" verspricht eine zuverlässige Entscheidungshilfe mit den nötigen Informationen - "verständlich, umfassend, unabhängig von Herstellerinteressen und in regelmäßigen Abständen aktualisiert", wie es in der Einleitung heißt. So soll die neue Auflage im Vergleich zur vorigen laut Pressetext folgendes bieten:

- Bewertung von 1.100 neuen Medikamente, insgesamt 7.000 Medikamente
- Symptome und Ursachen zahlreicher Krankheitsbilder
- Neue Krankheitsbilder Makuladegeneration und Zwangsstörungen
- Beschreibungen der Wirkstoffe und Hinweise zur Einnahme
- Bewertungen und Preise in übersichtlichen Tabellen
- Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und Lebensmitteln
- Besonderheiten der Arzneimittelbehandlung bei Kindern, Schwangeren und Stillenden. [2]

Das Buch stellt in dem bereits bewährten Ratgeberkonzept jeden gängigen Wirkstoff mit seinen Stärken und Schwächen vor, führt bei unerwünschten Wirkungen Handlungsanweisungen an und macht auch deutlich, wann auf die Einnahme eines bestimmten Medikamentes verzichtet werden sollte. Die Gefährlichkeit der Nebenwirkungen wird gewichtet und bei besonders gefährlichen darauf hingewiesen, wann sofort ein Arzt aufgesucht oder geholt werden muß.

Fraglich scheint nur, ob die von den Autoren des Buches herangezogenen "unabhängigen Studien" tatsächlich einen noch ungetrübten Blick beim Abwägen von Für und Wider von Arzneimitteln ermöglichen oder das am Verbraucher, aber vor allem auch an Wirtschaftlichkeit orientierte Grundkonzept von Stiftung Warentest und der jüngste Spartrend der Gesundheitspolitik hier nicht auch - wenn auch vielleicht unbeabsichtigt - geradezu paßgerecht konform laufen. Zumal der Herausgeber und die Autoren der Arbeit und den ökonomisch orientierten Kriterien des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) offensichtlich positiv gegenüber stehen.

Zwar scheint Stiftung Warentest die vom Gesetzgeber verlangten 3-Monats-Nachweise für eine Zusatzwirkung zunächst zu kritisieren:

Das Gesetz bewirkt, dass jedes neue Medikament drei Monate lang beobachtet und getestet wird, welchen Nutzen es hat. Die Stiftung Warentest bezweifelt jedoch, dass in einem derart kurzen Zeitraum eine qualifizierte Aussage zum Nutzen und den Nebenwirkungen eines Medikamentes getroffen werden kann. [3]

Doch fehlt z.B. im Fall der kurz wirksamen Analog-Insuline wie "Humalog" von Lilly vollkommen die eigene Stellungnahme. Die Möglichkeit wird im Ratgeber zwar erwähnt, aber im Hinblick auf die noch ungenügende Datenerfassung im Langzeitgebrauch als "auch geeignet" mit nur geringen Vorteilen gegenüber schon länger gebräuchlichen Humaninsulinen eingeschätzt. Damit unterstützt das Handbuch Medikamente vielleicht ungewollt durch das Vermeiden einer Bewertung (was den Patienten möglicherweise ebenfalls in der Ablehnung des teureren Insulins bestärkt) das Bestreben des IQWiGs, das in seiner Meta-Analyse, welche die Zusatzwirkung der Analog-Insuline - eine Verringerung des Spritz-Eß-Abstandes und damit ein Zugewinn an Lebensqualität und Normalität für den Betroffenen - schlicht bestreitet, obgleich auch diese Einschätzung auf nur sehr kurzfristigen Grundlagen getroffen wurde. Da sich in diesem Fall das Bundesgesundheitsministerium für den Nutzen des Analog-Insulins stark machte, müssen derzeit noch die Gerichte klären, ob diese Insuline in Zukunft von Krankenkassen weitergezahlt werden oder die Kosten im Zuge der "Wirtschaftlichkeit" vom betroffenen Diabetiker selbst aufgebracht werden müssen.

Auch die Stiftung Warentest-Bewertung "wenig geeignet" für Memantin (Axura, Ebixa), einem Cholinesterasehemmer, der als einziger für die späte Phase der Alzheimer-Demenz zugelassen ist und das Lernen und Erinnern, sowie die Fähigkeit zu Alltagsaktivitäten nachweislich leicht verbessern konnte, entspricht der vom IQWiG und damit auch vom G-BA präferierten Einschätzung, die erst im August letzten Jahres kurzfristig auf sich aufmerksam machte. Damals wurden die Schlußfolgerungen des IQWiG-Gutachtens in mehreren Punkten von zahlreichen Einrichtungen, darunter der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V., dem Bundesverband für Gesundheitsinformation und Verbraucherschutz e.V., der Hirnliga e.V., dem Institut für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie, dem Karolinska Institut uvam. sachlich in Frage gestellt.

Hier würde man dem Ratgeber manchmal eine - wie von Stiftung Warentest erwartet - mehr verbraucherorientierte und -informierende Einschätzung wünschen, da er über seinen nicht unerheblichen Einfluß auf das Konsumverhalten seiner Leser durch Zurück- oder Vorenthalten von Informationen oder gezielter Meinungsbildung geradezu zum indirekten Gesundheits-Politikum werden kann.

Auf den ersten oberflächlichen Blick des Rezensenten sind jedoch die Informationen über die meisten in die Diskussion geratenen Medikamente wie "Tamiflu" trotz negativer Einschätzung ("zur Vorbeugung und Behandlung einer Infektion mit Influenzaviren ist Oseltamivir 'mit Einschränkung geeignet'") im Ratgeber selbst, umfassend und hilfreich genug, daß dem Leser auch noch Argumente, sich für das Medikament zu entscheiden, an die Hand gegeben werden.

Stiftung Warentest erinnert in diesem Zusammenhang an einige Medikamente, bei denen erst Monate oder Jahre nach der Einführung Nebenwirkungen bekannt wurden. So z.B. das Medikament Tamiflu, das zur Behandlung der Grippe eingesetzt wird. Dieses Medikament lindert die Grippesymptome, kann jedoch Komplikationserkrankungen wie eine Lungenentzündung nicht beeinflussen. [3]

Im Ratgeber heißt es:

Oseltamivir kann eine Grippeschutzimpfung nicht ersetzen und ist allenfalls angezeigt, wenn eine Impfung nicht möglich oder nicht effektiv ist (z.B. bei überraschendem Auftreten einer Grippeepidemie).
(Handbuch Medikamente, Seite 212)

Auch ein relativ neues Kombinationspräparat Inegy aus dem CSE-Hemmer Simvastatin und Ezetimib zur Senkung des Cholesterinspiegels im Blut konnte den gesetzten Erwartungen wie auch den Wirksamkeitsvergleich (und somit den Wirtschaftlichkeitsvergleich) zu anderen Kombinationen nicht standhalten, was der Ratgeber in aller Kürze aber eindrücklich und nachvollziehbar für den Leser wiedergibt.

Zur Erleichterung des Rezensenten konnte das Handbuch Medikamente allerdings auch an zahlreichen Stellen davon überzeugen, daß es sich in bewährter, rebellischer Stiftung Warentest-Manier immer noch eine gewisse Eigenständigkeit in der Nutzen-Schadensabwägung auch gegenüber dem Gesetzgeber und seinen zur Wirtschaftlichkeit mahnenden "Institutionen" erhalten hat. Das zeigt sich beispielhaft im Fall des ebenfalls in Verruf geratenen "Avandia". Die inzwischen vielen Typ-2-Diabetikern verordneten Glitazone, um die Empfindlichkeit der Körperzellen gegenüber Insulin zu erhöhen, werden vom Handbuch aufgrund einer erwiesenen Häufung von Herzinfarkten bei Patienten, die Rosiglitazon (Avandia) längere Zeit einnahmen, als "wenig geeignet" eingestuft, obwohl das vom G-BA beauftragte IQWiG Belege und Hinweise für einen (wohl auch berechtigten) Nutzen attestiert hatte.

So erfüllt auch die neue 8. Auflage des Handbuchs Medikamente trotz des gesundheitspolitisch konformen Trends alle Erwartungen an einen Ratgeber der Stiftung Warentest als ein nicht nur von Laien, sondern auch von Medizinern und Pharmazeuten geschätztes Nachschlagewerk, das sich mit einfacher Sprache nach bestem Wissen und Gewissen auf das Wesentliche, nämlich die Gesundheit des Menschen, konzentriert.

Weitere Informationen:

[1] Rezensionen zu früheren Auflagen finden Sie im
Schattenblick -> Infopool -> Buch -> Sachbuch -> Rezension
REZENSION/106: Stiftung Warentest - Handbuch Medikamente 2001 (SB)
REZENSION/275: Stiftung Warentest - Handbuch Medikamente (Ratgeber) (SB)

[2] aus der Webseite Stiftung Warentest siehe URL:
www.test.de/shop/buecher-spezialhefte/gesundheit-kosmetik/sp0215000/

[3] "Medikamenten-Handbuch von Stiftung Warentest", Mittwoch, 16. Februar 2011
URL: http://mirzuliebe.com/a/2006/medikamenten-handbuch-von-stiftung- warentest

10. Juni 2011


Annette Bopp, Vera Herbst (Hrsg.)
Handbuch Medikamente - Vom Arzt verordnet. Für Sie bewertet
Stiftung Warentest, Berlin, Oktober 2010
8. Auflage
Format: 20,1 x 25,6 cm
39,90 Euro, 1344 Seiten
ISBN: 978-3-86851-119-2