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REZENSION/569: Klaus-Peter Kaletsch - Border Line. Palästina-Israel. Wer zieht die Grenzen? (SB)


Klaus-Peter Kaletsch


Border Line

Palästina-Israel. Wer zieht die Grenzen?



Das Schicksal der Palästinenser wurde in den westlichen Gesellschaften jahrzehntelang nicht nur ausgeblendet, sondern darüber hinaus im Kontext einer einseitigen Parteinahme für Israel mit dem Stigma des Feindbilds diskreditiert. Heute steht der Nahostkonflikt im Mittelpunkt weltpolitischer Wahrnehmung, da die gesamte Region von ungeahnten Umwälzungen erfaßt wird. Der arabische Frühling hat die Regimes erschüttert, die in Kollaboration mit der israelischen Regierung das Palästinenserproblem unter Verschluß hielten. Die Türkei hat in Reaktion auf den Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte die Beziehungen zu Israel eingefroren. In Israel selbst bricht sich eine massenhafte Protestbewegung gegen den Niedergang der Lebensverhältnisse Bahn. Vor wenigen Tagen hat die palästinensische Führung um Mahmud Abbas vor den Vereinten Nationen den Antrag auf Aufnahme eines eigenen Staates als Vollmitglied gestellt.

Können die Palästinenser hoffen, endlich Gehör zu finden und Unterstützung für ihr Streben nach einer menschenwürdigen Existenz zu erfahren? Dies ungeprüft zu bejahen, hieße die Widersprüche und Machtverhältnisse zu ignorieren, die im Nahostkonflikt kulminieren und die Bewohner Palästinas zu Opfern westlicher Hegemonialpolitik machen. Die Rückendeckung Israels durch seine Verbündeten kommt nicht von ungefähr, ist diese militärische und politische Speerspitze im vorderasiatischen Raum doch unverzichtbar für die Durchsetzung einer Sicherheitsarchitektur im Sinne der Vereinigten Staaten und der Führungsmächte Europas wie auch der Europäischen Union. Wenngleich das erstarrte Gefüge regionaler Beziehungen in Bewegung geraten ist und die zuvor unangefochtene Deutungshoheit israelischer Suprematie erkennbare Risse aufweist, droht doch eine Immunreaktion, die den Höhenflug palästinensischer Präsenz auf ein Medienspektakel reduziert und um so nachhaltiger entsorgt.

Es gilt daher, sich nicht vom kurzlebigen Glanz spektakulärer Ereignisse blenden, vom Ränkespiel regionalpolitischen Kalküls verwirren und von taktischen Propagandaformeln die Sinne vernebeln zu lassen. Die verheerende Lebenswirklichkeit der Palästinenser ist noch immer dieselbe, und das zu ändern bedarf es nicht zuletzt unablässiger Mühe, auch in den Ländern des Westens entgegen aller Ignoranz und Gleichgültigkeit aufzuklären und zu bezeugen. Während "die Augen der Welt" auf die Generalversammlung der UNO gerichtet waren, vor der sich Mahmud Abbas und Benjamin Netanjahu ihr Rededuell lieferten, stand in den Mainstreammedien so gut wie nichts über die Lage der Menschen in Palästina zu lesen. Will man es nicht dazu kommen lassen, daß die Sache der Palästinenser schon morgen abgehakt und vergessen ist, weil frischere Spektakel die Konsumenten reizen, heißt es weiterhin auszusprechen, was hierzulande die wenigsten hören wollen.

Klaus-Peter Kaletsch hat das getan und ein Buch geschrieben, das man gerade dem deutschen Leser wärmstens empfehlen kann. Schritt für Schritt nimmt er uns mit auf eine Reise ins besetzte Palästina, bei der man an seinem Erleben und den daraus abgeleiteten Konsequenzen teilhaben und nachvollziehen kann, warum ihm sein Gewissen gebot, nicht länger zu schweigen. Hat man "Border Line" gelesen und sich unvoreingenommen mit der Frage auseinandergesetzt, wer im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern die Grenzen zieht, wird man kaum umhin können, vor derselben Entscheidung zu stehen wie der Autor: Zweifelsfrei zu wissen, was das israelische Besatzungsregime den Palästinensern antut, und dennoch zu schweigen, hieße die Augen vor systematischer Unterdrückung zu verschließen.

Kaletsch bekennt sich zur historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Juden und unterstreicht, daß es ihm nicht darum geht, die jüdische Religion anzugreifen oder gar das Judentum abzulehnen, am allerwenigsten aber darum, Antisemiten Material in die Hände zu spielen. Er verurteilt die Gewalttaten der Hamas, die er als terroristisch bezeichnet, und spricht sich entschieden für eine Friedenslösung aus. Zugleich übt er jedoch harsche Kritik am Staat Israel, wobei er mehrfach betont, daß es sich bei Antisemitismus und Ablehnung der langjährigen israelischen Regierungspolitik um zwei völlig verschiedene Dinge handle. Damit leistet er einen positionierten Beitrag zur Aufklärung jenes Mißverständnisses, das den deutschen Diskurs des Nahostkonflikts dominiert: Sei es aus Unwissenheit und Ignoranz oder befördert durch die Protagonisten einer unanfechtbaren Suprematie israelischer Staatsräson alles mit dem Verdikt des Antisemitismus zu belegen, was getragen von Mitleid und Menschlichkeit zugunsten der drangsalierten Palästinenser in Feld geführt wird.

Wenn sich Kaletsch "mit Respekt vor dem palästinensischen Volk verneigt", das er dafür bewundert, trotz seines Leides nie die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden für sich und seine Kinder aufgegeben zu haben, ist das weder eine pathetische Geste, noch ideologischer Voreingenommenheit entsprungen. Der Autor überzeugt durch eine authentische Bewertung seiner Erfahrungen, indem er den Leser auf ausgesprochen spannende und lebendige Weise in seine Fragen, Zweifel und Erschütterung einbezieht. Er will aufklären und aufrütteln, weil er Seite an Seite mit palästinensischen Kollegen und Freunden miterlebt hat, daß die Menschen in den besetzten Gebieten rechtlos sind, ihres Landes und Eigentums beraubt, gedemütigt und geschlagen, ins Gefängnis geworfen und gefoltert, um ihr Leben betrogen werden.

Vor allem aber beeindruckt der Autor durch seine Entschlossenheit, sich nicht herauszuhalten und auf die Distanz und sichere Seite eines deutschen Experten zurückzuziehen. Er ergreift Partei für die Palästinenser, weil er sie durchweg als die weitaus schwächere Partei in diesem Konflikt erlebt. Jahrelang hat er Einblicke in ihr Leben unter israelischer Besatzung genommen und Hunderte von Gesprächen in Palästina und Israel geführt. Er sah sich mit zahllosen Hindernissen konfrontiert, die seine Arbeit untergruben, und erlebte am eigenen Leib die allgegenwärtigen Schikanen und Erniedrigungen bei Kontrollen, Razzien und Behördenkontakten. Je tieferen Einblick ihm seine palästinensischen Mitarbeiter in ihre Lebensverhältnisse gaben, desto deutlicher nahm deren alltägliche Bedrohung und Ausweglosigkeit für ihn Gestalt an. Er sah das Elend der Flüchtlingslager, erlebte mit, wie eine schwangere Palästinenserin, die einen Kontrollposten nicht passieren durfte, im Auto gebären mußte, wurde Zeuge willkürlicher Festnahmen und verweigerten Zugangs zu den Gefangenen. Da er sich auf die Seite der Palästinenser stellte, richtete sich die Aggression der Sicherheitskräfte und Siedler auch gegen ihn. Bei seinen zahlreichen israelischen Gesprächspartnern traf er immer wieder einen ausgeprägten antiarabischen Rassismus wie auch eine ausgeprägte Ignoranz der Mehrheitsbevölkerung an.

Wie engen Kontakt Kaletsch im Laufe der Jahre auch zu palästinensischen Führungskreisen bekam, mag verdeutlichen, daß er mehrfach Gelegenheit hatte, an Gesprächen mit Yassir Arafat teilzunehmen und sich ein persönliches Bild von dem PLO-Führer zu machen. Noch bemerkenswerter mutet indessen sein vertrauter Umgang mit Hamid Zughair an, mit dem er die berufliche Bildung aufbaute. Dieser wurde ihm über die kollegiale Zusammenarbeit hinaus zu einem geschätzten Freund, dem er tiefgreifende Erkenntnisse und Einsichten über den Nahostkonflikt verdankt. Er lernte Zughair als einen aufrichtigen und zuverlässigen Menschen kennen, dessen Wort weit über das gemeinsame Arbeitsfeld hinaus Gewicht hatte. Warum die Palästinenser in seinem Umfeld diesen Mann wertschätzen, wurde Kaletsch jedoch erst in vollem Umfang klar, als ihn Ende Oktober 2005 in Deutschland die Nachricht vom Tod seines langjährigen Partners erreichte. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr der Autor, daß Hamid Zughair 1988 gemeinsam mit Rantisi und Scheich Yassin die Hamas gegründet und sich später von ihr getrennt hat, da er deren Strategie der Anschläge ablehnte.

Im Jahr 1984 verließ Klaus-Peter Kaletsch gemeinsam mit seiner Frau Lydia Deutschland, um sich im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in der beruflichen Bildungsarbeit im Nahen Osten zu engagieren. In den folgenden Jahren arbeitete er in Projekten der Regierungsberatung in Saudi-Arabien, dem Jemen, in Kuwait, Ägypten, Jordanien, Syrien, Marokko, der Türkei und im Libanon. Von 1992 bis 2008 war er Teamleiter der deutsch-palästinensischen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und hat in diesen 16 Jahren zusammen mit seinen einheimischen Kollegen das Berufsbildungssystem aufgebaut. Diese profunde Erfahrung versetzte ihn in die Lage, tiefgreifendes Verständnis für die Menschen zu entwickeln und sich mit der arabischen Geschichte des Nahen Ostens vertraut zu machen.

Der Autor hat mithin ein sehr persönliches Werk vorgelegt, das es dem Leser gestattet, durch seine Augen die Perspektive der Palästinenser in ungewöhnlich weitreichendem Maße einzunehmen. Nicht minder lesenswert sind die eingearbeiteten Bezüge auf die Geschichte des Nahostkonflikts, die das Buch über einen glaubwürdigen Erfahrungsbericht hinaus in den Rang einer fundierten Analyse erheben. Er ruft die Nakba im Jahr 1948 mit ihrer Massenvertreibung palästinensischer Dorfbewohner und der Zerstörung Hunderter Dörfer in Erinnerung, berichtet vom Massaker in Deir Yassin wie auch vom 1982 unter israelischer Aufsicht verübten Morden in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Chatila, schildert die Zerstörung des Lagers Jenin im Jahr 2002, bei der Hunderte Palästinenser den Tod fanden. Dort wurden Männer, Frauen und Kinder ohne Vorwarnung beschossen, Rettungskräfte unter Feuer genommen und zahllose Häuser zerstört. Was sich in Jenin abgezeichnet hatte, wiederholte sich im Winter 2008/2009 im Gazastreifen auf noch furchtbarere Weise, als die israelischen Streitkräfte bei ihrem Angriff fast 1.500 Menschen töteten, 5.600 verwundeten und ungeheure Zerstörungen anrichteten.

Kaletsch kommt zu dem Schluß, daß Israel ein grausames Kolonialregime errichtet habe, und läßt ausführlich jüdische Autoren zu Wort kommen, die sich gleich ihm größte Sorgen um die Zukunft der Palästinenser und zugleich um den verhängnisvollen Kurs machen, den die israelische Gesellschaft eingeschlagen hat. Die Barbarei der Besatzung schlägt zwangsläufig auf die Besatzer zurück, denen Verrohung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer in Fleisch und Blut übergehen. Im letzten Absatz seines Buches zitiert der Autor eine Aussage Uri Avnerys, wonach kein Mensch auf der Welt zwischen Israel und Palästina wählen müsse. Die wahren Interessen der beiden Völker stünden nicht in Widerspruch, da sie sich nach Frieden sehnten. Die Eskalation der Gewalt drohe beide ins Unglück zu stürzen. Wer eine der beiden Seiten einseitig und bedingungslos unterstütze, helfe keinem. Wer Israel aus dieser Gesinnung heraus kritisiere, tue eine gute Tat.

In diesem Sinn will der Autor seine schonungslose Kritik verstanden wissen, wenn er schreibt, daß Angst den israelischen Staat beherrsche, der ihr mit einer Doktrin aus Exklusivität, Verfolgungswahn und Auserwähltheit begegne. Angst und Schüren von Angst halte eine Gesellschaft zusammen, die ihr Heil im Zionismus sucht. Solange sich dieser Staat weigere, seine Grenzen eindeutig und in Übereinstimmung mit internationalen Vereinbarungen festzulegen, könne er kein Partner für den Frieden mit den Palästinensern sein. Dies gelte für die Grenzen des Landes, doch gleichermaßen für jene in Bezug auf die politischen und moralischen Standards.

Der größte Teil der israelischen Gesellschaft hat überhaupt keine Ahnung über die Durchführung und die Folgen der Besatzung. Sie kennen das wahre Gesicht ihres eigenen Staates nicht.

Das wahre Gesicht zeigt sich im zionistischen Anachronismus, der Rassismus predigt und lebt, der beherrscht und bestraft, der Machtstreben signalisiert, der religiöse Verblendung und Expansionsdrang legalisiert, der Gewalt und Verbrechen ausübt.

Appelle und Aufrufe der europäischen Gemeinschaft zum Ende solcher Gewalt lassen den israelischen Wahnsinn unbeeindruckt. Sie wirken seit jeher lächerlich. Und die unter uns, die weiterhin nur den Dialog fordern und auf Einsicht hoffen, sind unverbesserliche Träumer, die die Realität verdrängen. Für überzeugte Zionisten und ultraverblendete Siedler gibt es keinen Dialog über "Eretz Israel"!

Für Toleranz und Humanismus ist da kein Platz. Nichts wird die Zionisten abbringen von ihrem Plan, wenn nicht wir selbst dafür Sorge tragen. Wir halten den Schlüssel für ein Ende des Konflikts, für ein Ende der Unmenschlichkeit in Nahost (...) in unserer Hand. Wir brauchen die Tür nur aufzuschließen.

(Seite 543/544)

Vergegenwärtige man sich, in welchem Ausmaß die Interessen Israels in Washington repräsentiert seien, könne man sich von der Vorstellung verabschieden, daß sich die strategischen Partner USA und Israel für eine akzeptable Friedenslösung im Nahen Osten einsetzen. Die Staaten Europas hätten es in der Hand, als wichtigster Handelspartner Israels Druck auf die Regierung in Jerusalem auszuüben. Wirtschaftliche Sanktionen in Form eines schrittweisen Embargos israelischer Importwaren hält der Autor für ein moderates, aber wirksames Mittel, in relativ kurzer Zeit eine Lösung des Nahostkonflikts herbeizuführen. Alles andere bleibe wirkungslos, wie die Geschichte zeige.

Klaus-Peter Kaletsch gibt den Palästinensern eine Stimme, die wie alle Unterdrückten unserer Solidarität bedürfen. Er hat dies auf so nachvollziehbare wie inhaltlich hochwertige Weise getan, daß es sein Buch verdient, namentlich im deutschsprachigen Raum als eines der Standardwerke zum Nahostkonflikt Wertschätzung zu erlangen.

26. September 2011


Klaus-Peter Kaletsch
Border Line
Palästina-Israel. Wer zieht die Grenzen?
Wagner Verlag, Gelnhausen 2010
589 Seiten, 22,90 Euro
ISBN 978-3-86683-545-0