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REZENSION/584: Reinhard Berkau und Irene Stratenwerth - Ich gegen Amerika (SB)


Reinhard Berkau und Irene Stratenwerth


Ich gegen Amerika

Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz



Reinhard Berkau, der seit mehr als 30 Jahren in Hamburg als Rechtsanwalt tätig ist, und die Journalistin Irene Stratenwerth haben mit ihrem Buch "Ich gegen Amerika - Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz" einen bedrückenden Erfahrungsbericht vorgelegt, der den Glauben an die Rechtsstaatlichkeit als einen der vielbeschworenen Eckpfeiler westlicher Demokratien zutiefst in Frage stellt. Ein gewonnener Prozeß, in dem es um eine Geldforderung ging, führte Berkau im Januar 2006 nach Miami, wo er unschuldig in eine Falle geriet. Vom FBI wegen angeblicher "Verschwörung zu einer Erpressung" verhaftet, wurde er verurteilt und erst nach einer zwei Jahre währenden Odyssee durch neun US-amerikanische Haftanstalten nach Deutschland überstellt. In einer alptraumgleichen Konfrontation mit einem Justizsystem, das ihn ungeachtet seiner eigenen beruflichen Kompetenz als Strafverteidiger, des denkbar besten juristischen Beistands und nicht zuletzt der Unterstützung seiner Familie rigoros praktizierter Willkür unterwarf, wurde er zu einem ohnmächtigen Opfer degradiert. Am eigenen Leib erfuhr er die schockierenden Zustände in verschiedenen Gefängnissen, die Drangsalierung, Isolation und Verzweiflung der Gefangenen wie auch ihre Entmenschlichung. Sie sind der unablässig vermehrte und verbrauchte Treibstoff eines zum Teil privatisierten gefängnisindustriellen Komplexes, der ein expandierendes milliardenschweres Geschäft betreibt.

Aller körperlichen und psychischen Tortur, aller Ungewißheit und immer wieder tief enttäuschten Hoffnung zum Trotz nahm Berkau mit Hilfe seiner Familie und Freunde den Kampf um die Freiheit auf, der schließlich von Erfolg gekrönt war. Er durfte endlich das Land verlassen, das er wie viele andere Leidensgenossen nie wieder betreten wird. Während seiner Gefangenschaft war ihm durchaus bewußt, wie vergleichsweise privilegiert er sich trotz allem schätzen konnte. So öffnete er den Blick für seine Mitgefangenen und läßt auch den Leser an beispielhaft ausgewählten Schicksalen teilhaben, die von zahllosen zerschlagenen Lebensperspektiven, vernichteten Existenzen, zerbrochenen Familien und nicht selten physisch zerstörten Menschen zeugen. Über eine eindrückliche persönliche Leidensgeschichte hinaus stellt das Buch Berkaus Erfahrungen in einen ökonomischen und politischen Zusammenhang, indem an entsprechender Stelle sachdienliche Exkurse und Hintergrundinformationen eingefügt sind und der Autor persönliche Bewertungen vornimmt wie auch Schlußfolgerungen zieht.

In keinem anderen Land der Welt werden so viele Menschen ins Gefängnis geworfen wie in den Vereinigten Staaten und das sowohl in absoluten Beträgen als auch gemessen an der Bevölkerungszahl. Ende des Jahres 2009‍ ‍saßen über 2,5 Millionen Menschen in US-amerikanischen Haftanstalten, womit die USA deutlich mehr Strafgefangene aufweisen als 36 Staaten Europas zusammengenommen, obgleich deren summierte Bevölkerungszahl mehr als doppelt so groß ist. Untersucht man die Inhaftierungsraten nach ausgewählten demographischen Kriterien, wird unmittelbar deutlich, daß vor allem rassische und ethnische Minderheiten besonders stark betroffen sind. Am 1. Januar 2008 saß statistisch gesehen mehr als einer von hundert erwachsenen Amerikanern hinter Gittern. Während aber die Rate für männliche Weiße ab 18 Jahre 1‍ ‍von 106 betrug, stieg sie für männliche Hispanics auf 1 von 36 und für männliche Schwarze gar auf 1 von 15. Den extremsten Wert mit 1 von 9‍ ‍wies sie für männliche Schwarze zwischen 20 und 34 Jahren auf. Das Postulat, vor dem Gesetz seien alle Menschen gleich, entlarven diese Zahlen als pure Ideologie. Ganz offensichtlich werden bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch diskriminiert und unterdrückt.

Über die Ausführungen der Autoren hinaus leitet dies zu der Frage über, warum es seit den frühen 1980er Jahren zu einem dramatischen Anstieg der Zahl inhaftierter US-Amerikaner kam. Saßen damals rund 500.000 Menschen im Gefängnis, so hat sich die Gefangenenpopulation seither explosionsartig verfünffacht. Diese repressive Offensive US-amerikanischer Staatlichkeit fällt mit der Ära jener innovativen Formierung herrschaftsrelevanter Interessen zusammen, die man unter Neoliberalismus in seinem heutigen Sinn subsumiert. Dieser hob in Reaktion auf die weltweite und nationale Schwächung kapitalistischer Herrschaftsansprüche die Klassengesellschaft auf eine höhere und weitaus repressivere Stufe. Als politisches Projekt sicherte er die Macht gesellschaftlicher Eliten während er zugleich als ökonomischer Paradigmenwechsel Wesensmerkmale wie globalisierte Wirtschaftsweise, Deregulierung, Privatisierung und Verringerung der Staatsquote durchsetzte.

Da die im Fordismus an ihre Grenzen getriebene kapitalistische Verwertung in die Systemkrise zu stürzen drohte, eröffnete man unter Entsorgung bis dahin praktizierter sozialstaatlicher Konzessionen und geltender ideologischer Normen einen Generalangriff auf humane, zwischenmenschliche und natürliche Ressourcen. Seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher erlangte der Neoliberalismus weltweite Hegemonie, wodurch die Privilegierung weniger Reicher auf Kosten der großen Mehrheit forciert, der Einfluß großer Konzerne und Kartelle auch auf das politische Geschehen gestärkt und die Arbeiterbewegung massiv zurückgedrängt wurde. Außenpolitisch zwangen die USA samt den internationalen Handels- und Finanzinstitutionen allen voran die lateinamerikanischen Länder in ein Regime der Verschuldung, verschärften Ausplünderung und politischen Einflußnahme. Auch in dieser Hinsicht läßt sich darstellen, wie in einer Verschränkung machtrelevanter Interessenssphären die Verwertungsbedingungen des Kapitals befördert und die Fortschreibung des staatlichen und supranationalen Gewaltmonopols gesichert wird.

In der Gefängnisindustrie der USA verschmelzen repressive Kontroll- und Unterwerfungsinteressen, ökonomisch ausgepreßte und sozial ausgegrenzte Bevölkerungsteile massenhaft in Schach zu halten, mit der Schaffung eines neuen und lukrativen Unternehmensfeldes. Wie die Autoren darlegen, entwickelte sich das Bestreben, Menschen zu verfolgen, einzufangen und wegzusperren, zu einer Branche, die das Wirtschaftsleben der USA prägt wie kaum eine andere. Mit 2,3 Millionen Angestellten, die monatlich mehr als 8 Milliarden Dollar verdienen, beschäftigt sie mehr Menschen als General Motors, Ford und Wal-Mart, die drei größten Unternehmen des Landes, zusammengenommen, schrieb der Journalist Alan Elsner 2006 (S. 213). Damit kommt auf jeden Gefangenen eine weitere Person, die ihren Job der Gefängnisindustrie verdankt. Führende private Unternehmen wie GEO Group Inc., CCA und Cornell Companies machen mit Strafanstalten und Krankenhäusern Milliardenumsätze, Firmen wie TransCor haben sich auf den Transport von Gefangenen spezialisiert. Die staatlichen Unternehmen werden privatwirtschaftlichen Betrieben immer ähnlicher, da beide das Interesse eint, Wachstumsraten zu generieren, also die Gefangenenzahlen zu steigern.

Wenngleich betroffene Menschen von staatlichen Behörden in Haft genommen werden, sind sie faktisch Gefangene privater Unternehmen, die wenig oder gar nicht kontrolliert werden. So gibt der Staat öffentliche Aufgaben an Privatfirmen ab, überführt also Steuergelder in Unternehmensgewinne. Für das Jahr 2006 wurde ein Betrag von 265 Dollar errechnet, die jeder Gefängnisinsasse pro Tag kostet. Millionen von Steuerzahlern müssen dafür aufkommen, daß ein wachsender Teil der Gesellschaft damit beschäftigt wird, einen anderen immer weiterwachsenden Teil von ihr einzusperren und zu bewachen. Es liegt auf der Hand, daß dieser boomende Sektor der US-Wirtschaft nur befristet expandieren kann, bis er einen kritischen Punkt wie in Kalifornien erreicht, wo die Gefängnisse extrem überbelegt sind und der hoch verschuldete Bundesstaat deren Finanzierung nicht mehr leisten kann.

Im Zuge dieses Verwertungssystems sind dessen Profiteure bestrebt, immer mehr Gefangene zu machen, diese möglichst lange in Haft zu halten und sie durch Unterversorgung, Arbeitszwang und andere Mechanismen, Unternehmensgewinne zu generieren, auszubeuten. Berkau sah sich mit den Zwängen dieses Molochs, der fortgesetzt Unentrinnbarkeit produziert, allenthalben konfrontiert. Hinzu gesellten sich spezifische Merkmale des US-Justizsystems zu seinen Lasten, die sich vom deutschen Rechtswesen unterscheiden. Unschuldig in Verdacht geraten, in Haft genommen, angeklagt und verurteilt traf er fortgesetzt auf juristische Auffassungen, Prinzipien und Verfahrensweisen, die ihm nicht nur fremd waren, sondern seine Möglichkeiten, sich zu verteidigen, drastisch einschränkten.

So genießen die Staatsanwälte in den USA große Macht und können dies mit Hilfe einer Vereinbarung im Strafverfahren (plea bargain) auf die Spitze treiben, da sie fast nach Belieben mit dem Beschuldigten aushandeln oder eigenmächtig entscheiden, welche Tatvorwürfe sie erheben und welche nicht. Rund 90 Prozent der Strafverfahren werden heute auf diese Weise gewissermaßen im Schnellverfahren abgekürzt, was freilich enorme Risiken für den Angeklagten mit sich bringt. Schlägt er das Angebot des Staatsanwalts aus, muß er in der Regel mit einer höheren Strafe rechnen. Andererseits droht er sich möglicherweise selbst mit einer Tat zu belasten, die er nicht begangen hat, und kann zudem nicht davon ausgehen, daß sich das Gericht in jedem Fall an den vereinbarten Handel hält. Berkau zog es jedenfalls vor, den angebotenen Handel auszuschlagen und auf seiner Unschuld zu beharren, was sich rückwirkend gesehen auszahlen sollte.

Mit seiner Verteidigerin Jeanne Baker, der Präsidentin der American Civil Liberties Union (ACLU) in Florida, sowie Rechtsanwalt Jan Jütting, dem Lebensgefährten seiner Tochter, bereitete sich Berkau im Gefängnis intensiv auf die Widerlegung der gegen ihn erhobenen Anklage "Verschwörung zu einer Erpressung" (conspiracy to commit extortion) vor, einen Straftatbestand, den es in Deutschland gar nicht gibt. Dieser wurde geschaffen, um das gesamte Umfeld einer Straftat zu kriminalisieren, und stellt de facto eine Einladung zur Willkür dar, da alle Personen dafür zur Verantwortung gezogen werden können, was einer aus ihrem Kreis sagt oder tut. Der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble scheiterte 2007 mit dem Vorschlag, im Zuge der Terrorbekämpfung auch in Deutschland den Straftatbestand der "Verschwörung" einzuführen. Bereits 1976 war der Paragraph 129a ins deutsche Strafrecht eingeführt worden, der die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" unter Strafe stellt. Auch dabei können Menschen für Straftaten verurteilt werden, die andere begangen haben oder zu begehen beabsichtigen, wenn sie deren Zwecke explizit unterstützen. Zwar gelten für die Anwendung dieses Paragraphen deutlichere Einschränkungen als für die conspiracy im amerikanischen Recht, doch sollte die grundsätzliche Verwandtschaft Warnung genug sein, den Übertrag US-amerikanischer Rechtsnormen zu fürchten und abzuwehren.

Die geradezu kafkaeske Logik des Systems, in das Berkau geraten war, wendete man auch hinsichtlich des Erpressungsvorwurfs gegen ihn. Nach US-Recht kann schon die Aussage, man werde gegebenenfalls Rechtsmittel einlegen, als Erpressung gewertet werden. Die vom FBI verkabelten Gesprächspartner, gegen die ein deutscher Gerichtstitel vorlag, hatten ihn unter dem Vorwand, sich zum Zweck einer außergerichtlichen Einigung zusammenzusetzen, mit der Behauptung konfrontiert, sie fühlten sich als Familie bedroht. Da ihm diese Wendung des Gesprächs völlig unverständlich gewesen sei, habe er ihnen versichert, daß sie sich keine Sorgen machen müßten, zumal man ja gerade dabei sei, alles zu regeln. Doch selbst diese Äußerung konnte ihm als Erpressung ausgelegt werden.

Der Prozeß wirkte über weite Strecken wie eine Farce und schien so gut wie gewonnen, als ein Anwaltskollege aus Hamburg, der die Schuldner vertrat, vor der inhaltlich ohnehin überforderten Jury mit vagen Andeutungen den irreführenden Eindruck erweckte, das Urteil vor dem Hamburger Landgericht sei erschlichen worden. Dies mochte den Ausschlag gegeben haben, daß die Jury Berkau schuldig sprach, was selbst den Richter maßlos zu überraschen schien. Wie Berkaus Verteidigerin Jeanne Baker in einem späteren Interview unter anderem ausführte, hätte der Staatsanwalt den Prozeß zu jedem Zeitpunkt beenden könne. Die Bush-Administration hatte jedoch ein Memo verfaßt, in dem alle Staatsanwälte angewiesen werden, stets den schwerwiegendsten Anklagepunkt auszuwählen. Die überwältigende Mehrheit folge dieser Direktive, die höchstmögliche Bestrafung durchzusetzen, zumal jeder Sieg vor Gericht eine Sprosse ihrer Karriereleiter darstellt.

Glücklicherweise gelang es mit vereinten Kräften, ein relativ geringes Strafmaß zu erwirken, so daß Aussicht bestand, binnen maximal zwei Jahren nach Deutschland überstellt zu werden. Für Reinhard Berkau folgten lange Monate voller Repressalien des Alltags in wechselnden Strafanstalten, vor allem aber der Sorge um seine Familie und die Zukunft der Anwaltskanzlei in Hamburg, von der zahlreiche Existenzen abhingen. Er schloß Bekanntschaften und Freundschaften im Gefängnis, lernte immer neue Aspekte dieser Menschenverwahrung kennen und hatte viele Hispanics zu Mitgefangenen, die ihm Einblick in ihre alltägliche Repression wie auch den antikubanischen Verfolgungsdruck gaben, als deren wohl extremstes Beispiel die "Cuban five" zu nennen sind.

Manchmal werde er heute gefragt, wie er diese Zeit verarbeitet habe:

Aus heutiger Sicht sage ich: Ich habe diese unglaubliche Reise gut überstanden. Gemessen an dem, was ich in den Gefängnissen der USA gesehen und erlebt habe, ist mir eigentlich gar nichts passiert. (...) Viel schlimmer ist es zu erleben, dass alle Werte und Normen, an denen man sich ein Leben lang orientiert hat, plötzlich nicht mehr gelten und wegzubrechen drohen. Viel schwerer ist es zu ertragen, wenn die Konsequenzen des eigenen Verhaltens nicht mehr absehbar sind.
Ich war in einem System (buchstäblich) gefangen, dessen Gesetze ich weder kannte noch richtig verstand. Warum gibt es in den USA den Satz "Im Zweifel für den Angeklagten" (...) nicht, der bei uns Verfassungsrang genießt? Warum wird im Revisionsverfahren (appeal) nach dem Grundsatz "Im Zweifel gegen den Angeklagten" (...) verfahren? (...) Warum halten Regierung und weite Teile der Justiz - entgegen verbalen Beteuerungen - es für legitim, Menschen zu foltern? Weil es unter bestimmten Voraussetzungen auch als legitim gilt, Menschen mit der Todesspritze umzubringen?
(S. 247/248)

Für seine Selbstwahrnehmung und Selbstachtung, schreibt Reinhard Berkau weiter, sei es in dieser Lage am allerwichtigsten gewesen, im ständigen Kontakt und Austausch mit den Menschen zu bleiben, mit denen er bis dahin seine Lebenswelt und Weltanschauung geteilt hatte. Daß es diese Welt da draußen noch gab, habe ihm Hoffnung gemacht, irgendwann dorthin zurückkehren zu können. Es habe ihm auch die Kraft gegeben, in seiner eigenen Haltung zu dem, was ihm passierte, klar zu bleiben. Wo eine solche Klarheit und dieser Kontakt verlorengingen, drohten Selbstverlust und der Absturz in die Depression.

14.‍ ‍Mai 2012


Reinhard Berkau und Irene Stratenwerth
Ich gegen Amerika
Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz
Rowohlt Verlag, Hamburg 2010
268‍ ‍Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-499-62654-8