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REZENSION/601: Václav Klaus - Europa? (SB)


Václav Klaus - EUROPA?


Europa?



Ausgewählte Reden, Vorträge und Texte des Präsidenten der Tschechischen Republik 2005 bis 2010

Mahner gegen die Idee einer europäischen Integration hat es schon in den frühen Anfängen gegeben, als der Entwurf eines kontinentalen Staatenbundes noch in den Schubladen der politischen Vordenker steckte. An eine gemeinsame Währung hätten in jenen Tagen nicht einmal die kühnsten Köpfe zu denken gewagt. Zu abwegig schien diese Art von politischer Zukunftsschau, auch wenn die Prämisse einer über Landesgrenzen hinaus operierenden Zusammenarbeit in speziellen Wirtschaftsbranchen sicherlich auch Begehrlichkeiten hinsichtlich eines politisch geeinten Europa mit zentralistischen Strukturen und einer supranationalen Bürokratie geweckt haben mag. Inzwischen sind viele der einst für undenkbar gehaltenen Visionen Realität geworden. Europa wächst mehr und mehr zusammen, aber die Kritik am Prozeß der europäischen Einigung ist dennoch nie verstummt.

Zu den hartnäckigsten Antipoden der vertieften europäischen Integration gehört der tschechische Staatspräsident Václav Klaus. Seine politische Laufbahn ist seit jeher von einem strikten Kurs gegen ein Europa mit unilateralen Kompetenzen bestimmt. Streitbar hat er seinen Standpunkt in zahlreichen Artikeln und Vorträgen vertreten. Der context medien und verlag hat im Januar 2011 ausgewählte Reden, Vorträge und Texte des Präsidenten der Tschechischen Republik unter dem Buchtitel "Europa?" veröffentlicht.

"Europa ist für mich einer von meinen wichtigsten Referenzrahmen im geistlichen und kulturellen Sinne. Das ist nicht wenig. Aber mehr ist es auch nicht. Eine gemeinsame Idee hat Europa nicht, es kann sie nicht haben und sie ist für Europa auch nicht notwendig."
(S.5)

Dieser Auszug aus seiner Passauer Rede vom 16. September 2009 ist symptomatisch für die Haltung des tschechischen Staatspräsidenten, der die kulturellen Wurzeln Europas, "auf denen die modernen europäischen Demokratien ihre Erfolge, einschließlich ihrer Prosperität, aufgebaut haben", euphemistisch beschwört. Dorthin, wo "das faktische Wesen unserer Zivilisation" zu Hause sei, müsse der Weg zurückgehen. "Und dort steht das Wort Freiheit." (S.28)

Was aber bringt den Kämpfer für Freiheit und Demokratie, der seine leidtragenden Erfahrungen aus der kommunistischen Ära der Tschechoslowakei bis zur Spaltung 1993 in die Republiken Tschechien und Slowakei gerne als Referenz für seinen mit pedantischer Beharrung immer wieder einschwörenden Freiheitswillen nimmt, so in Rage, daß er gegen die aktuelle Europapolitik wettert und geradezu postdemokratische Menetekel an die Wand der Brüsseler Institutionen malt?

Die gesellschaftspolitischen Umbrüche durch die Eurokrise, drohende Staatspleiten in Griechenland, Spanien und Portugal als auch die zunehmende Verarmung breiter Schichten der europäischen Bevölkerung würden Václav Klaus in seiner Einschätzung der Lage recht geben, sofern im Fokus seiner Besorgnisse tatsächlich die sozial und existentiell an den Rand gedrängten EU- Bürger stünden. Statt diese jedoch im Visier seiner Streitbarkeit zu haben, treiben ihn ganz andere Geister um. Vielmehr ist Václav Klaus aus der verkürzten Perspektive eines liberalen Ökonomen in höchstem Maße besorgt und verzweifelt zugleich "über die heutige europäische Untergrabung des freien Marktes" (S.13)

Indem er in larmoyant wiederkehrenden Schüben stets beteuert, "in dem freundlichen, friedlichen, gegenseitig günstigen, alle bereichernden Zusammenleben der europäischen Länder" eben nicht nur eine Freihandelszone zu sehen und keineswegs "die alten Antagonismen in Europa wieder ins Leben zurückzurufen wünsche", insistiert er darauf, daß die jetzige Entwicklung der EU mit ihren supranationalen Tendenzen nicht nur unnötig, sondern auch "politisch gefährlich" (S.16) sei.

Worin aber begründet sich diese politische Gefährlichkeit, mit der er bei radikalen EU-Gegnern offene Türen einrennen würde? Auch Václav Klaus argumentiert, daß "mehr horizontale Kooperation der Länder und weniger vertikale Regulierung, Harmonisierung und Standardisierung, mehr Institutionen der Nationalstaaten und weniger EU-Institutionen in Brüssel" nötig seien. "Kurz: dass wir mehr Demokratie als Postdemokratie brauchen." (S.16 f) Aber er bindet diese Kritik nicht an die Bürger der EU-Staaten zurück, nicht dem Abbau ziviler und arbeitsrechtlicher Garantien gilt seine den Interessen des Kapitals geschuldete Emphase.

Was im Kern die Nervenstränge seiner neoliberalen Gesinnung strapaziert, ist "das in Europa dominierende Modell des Wirtschafts- und Sozialsystems" (S.17), das sich mehr und mehr vom Imperativ der "freien Märkte" entfernt. Václav Klaus prangert in erster Linie die neuen Methoden des Staatsinterventionismus an und wünscht sich offenbar jene Ära produktiver Konkurrenz zurück, als der europäische Kapitalismus mit dem Freibrief ungezügelter wirtschaftsliberaler Gewissenlosigkeit nach Bedarf Löhne drücken und Arbeitsbedingungen diktieren konnte. Es paßt denn auch wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wenn Václav Klaus räsonniert: "Die Konkurrenz brauchen wir aber nicht nur auf den Märkten von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch auf den Märkten von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen." (S.17)

Der gelernte Volkswirt läuft in seinen Reden einen weiten Horizont angeblicher Bedrohungen für die Demokratie ab, ehe er endlich zu seinem Kernanliegen kommt: Dem Abbau sozialer Errungenschaften, die einst von der revolutionären Arbeiterbewegung auch gegen den Verrat aus den eigenen Reihen mit Blut und Opfern durchgesetzt wurden. So lamentiert Václav Klaus in gönnerhafter Pose darüber, daß "großzügige Sozialsysteme eingeführt" wurden, "die die Bereitschaft der Europäer, weniger attraktive und qualifizierte Arbeiten und Berufe auszuüben, radikal eingeschränkt haben". (S.92 f) Damit nicht genug, habe die "Verachtung verschiedener Blue-collar-Jobs (...) auch zu einer falschen Struktur des Erziehungssystems und zu einer sehr kontroversiellen Verlängerung der Studiumslänge geführt". (S.33) Gegenpolig zu jeder Form humanistischer Tradition, die er bei offiziellen Gelegenheiten ansonsten gerne als europäisches Kulturerbe hochschätzt, nehmen sich seine Einsichten und Explorationen aus, sobald er kulturideologischen Boden betritt: "Dazu kommt ein steigender Zustrom der Arbeitskräfte und Immigranten von verschiedenen fremden zivilisatorischen und kulturellen Kreisen, was die Kohärenz der Gesellschaft grundsätzlich stört, auch wenn uns die Ideologen des Multikulturalismus ganz anderes zu suggerieren versuchen." (S.33)

Mag sein, daß sich darin die historisch gewachsene tschechische Urangst vor den großen Nachbarn widerspiegelt, und so sieht sich der neoliberale Frontstaat in Hinsicht auf seine Wirtschaftskraft durchaus von Paragraphen und Regularien bedroht, auf die der tschechische Präsident mit klaren Worten zu sprechen kommt: "Die Wechselkurse, Zinssätze, Steuersätze, soziale, ökologische und viele andere Standards erhöhen die Kosten, bedrohen unsere Konkurrenzfähigkeit und deshalb unsere Prosperität." (S.17) Wie sich doch in alledem der Titel des Buches niederschlägt - "Europa?" Doch von wessen Europa ist hier eigentlich die Rede? Das Europa der Arbeiter, die in den Fabriken und Werkshallen die Produktivitätsquote erhöhen und im gleichen Atemzug durch den sinkenden Geldwert ihrer Arbeit infolge von Inflation und Teuerungsraten praktisch Lohnkürzungen hinnehmen? Das Modell eines sich verbrüdernden Europas, einst angedacht, um den von den leidvollen Erfahrungen der beiden Weltkriege gespeisten Ruf der Bevölkerungen nach Entmilitarisierung mit sozialpolitischen Zugeständnissen im Kalten Krieg zu kontern, stand Václav Klaus ohnehin nie im Sinn.

Unverblümt hofiert er in seinen Reden vielmehr den von keinen Staatsgrenzen und politischen Reglementierungen gehemmten Unternehmensgeist, dessen Äquivalent immer schon die Ausbeutung des Produktionsfaktors Arbeit gewesen ist. Im Geiste dieses Ziels war schließlich die Freizügigkeit des Lohnempfängers, dieses Kernstück EU-politischer Administrationsrichtlinien, geschaffen worden, um die europäische Arbeiterschaft effizienter gegeneinander ausspielen zu können. Nur daß Václav Klaus hier noch einmal draufsatteln möchte und daher die eigentlichen Feinde in dem von ihm skizzierten Bedrohungsszenario für die Prosperität der Kapitalinteressen in der "Ideologie des Sozialdemokratismus und Environmentalismus" (S.25) ausmacht.

Vor allem im "Sozialdemokratismus mit seinem Versorgungsstaat, mit hohen Steuern und Einkommensumverteilung und mit der Unterdrückung und Deformierung des Marktes" (S.63) erkennt der tschechische Präsident die Wurzel allen Übels. "Diese Hindernisse wurden von den Menschen gebaut, die die alten merkantilistischen Irrtümer und Vorurteile pflegen und die nicht glauben, dass der freie Markt ein 'positive-sum game' ist." (S.74) Gemeint ist die EU-Legislative, die "nicht die ordnungspolitische Rahmenbasis für die freie Marktwirtschaft" (S.87) schafft und statt dessen auf die kontinuierliche "Stärkung der zentralen Lenkung der Wirtschaft" (S.53) hinarbeitet. Zu dieser Entwicklung trägt seinen Worten zufolge "auch die falsche Interpretation der Ursachen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise bei; als ob diese der Markt verursacht hat, während die wahre Ursache das Gegenteil ist: nämlich die politische Manipulation des Marktes." (S.53)

Auf dieses klassische Konzept von der Rivalität staatlicher Institutionen einerseits und den Plänen und Projekten eines kapitalistischen Unternehmertums und dessen Forderung nach einem Höchstmaß an ihm dienenden Freiheiten andererseits bezieht sich Václav Klaus, wenn er eine "fast stagnierende Wirtschaft in vielen westeuropäischen Ländern" attestiert. Und in einer Art historischer Demaskierung präsentiert er sogleich den Schuldigen: "Viele von uns denken, dass das durch das postbismarckische Sozialsystem einer höchst paternalistischen Variante verursacht wird." Im Widersinn zu jedweder Realität baut Václav Klaus sein Konstrukt vom drohenden Stillstand des Wirtschaftswachstums Europas weiter aus, wenn er als künstliche Bremsung "eine ganz unnötige Verteuerung der Energie auf Basis von irrationalen environmentalistischen Vorstellungen" (S.30) moniert, um sodann als Lösung gegen die Rückständigkeit und Verlangsamung der wirtschaftlichen Triebkräfte Europas im Vergleich zum rasanten Aufschwung vor allem der ostasiatischen Produktionszentren die "Liberalisierung und Deregulation der europäischen Wirtschaft" (S.53) anzumahnen.

Die EU-Bürokratie ist für Václav Klaus in vielerlei Hinsicht ein störender Hemmschuh, aber weniger aus bürgerrechtlichen Bedenken. Was ihn zur Lanze greifen läßt ist der seiner Ansicht nach von äußeren wie inneren Feinden bedrohte Wirtschaftsstandort Europa, dem im globalen Wettbewerb mehr und mehr die Zügel aus der Hand gerissen werden, insbesondere durch die neue "Ideologie des Ökologismus". (S.139) "Dieser Bewegung dient der Umweltschutz bloß als Vorwand. Hinter ihrer menschen- und umweltfreundlichen Terminologie verbirgt sich der Ehrgeiz ihrer Anhänger, die Welt, die Gesellschaft, unser Verhalten und unsere Werte radikal umzupolen und neu zu organisieren." (S.139)

Dieser Passus stammt aus dem Vortrag von Václav Klaus im CATO Institute, einem den Republikanern nahestehenden Think Tank, in Washington D.C. vom 9. März 2007. Und weiter heißt es dort: "Die Anhänger der environmentalistischen Ideologie aber hören nicht auf, Katastrophenszenarien an die Wand zu malen." (S.139) Soll man es glauben, daß die Erschöpfung endlicher Ressourcen, die lebensfeindliche Toxizität der Wasser- und Luftverschmutzung, das unwiederbringliche Artensterben, das Aufreißen der Ozonlöcher und die globale Erwärmung der Meere und Atmosphären nur Theaterdonner und eine ökologische Lüge sei, um die Naivität der Menschen einzufangen?

Václav Klaus scheint sich sicher zu sein: "Nicht die Umwelt ist gefährdet, sondern die Freiheit" (S.145) und hält es für eine erwiesene Tatsache, "dass mit dem Wohlstand der Gesellschaft auch die Qualität der Umwelt zunimmt". (S.146) So beklagt er denn auch die "Vernachlässigung der Rolle von wichtigen und mächtigen Wirtschaftsmechanismen und Instituten - besonders von Eigentum und Preisen - für eine effektive Naturbewahrung". (S.142)

Die in dem vorliegenden Buch auszugsweise wiedergegebenen Reden des seit 2003 amtierenden tschechischen Staatspräsidenten sind die Lektüre wert, wenn der Leser daran interessiert ist, neoliberale Ideologie in Reinkultur aus dem Munde eines europäischen Staatschefs zu studieren. Sein kompromißloses Eintreten für die sogenannte freie Marktwirtschaft brachte ihm 2009 den Internationalen Preis der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung ein, was ihn, wie die Rolle dieses Vordenkers des Neoliberalismus bei der Durchsetzung staatsautoritärer Regimes gegen die Interessen der Lohnabhängigen belegt, gerade nicht als Verfechter einer staatsfernen Gesellschaftsdoktrin kennzeichnet. Klaus propagiert wie Hayek eine marktwirtschaftliche Regulationsweise des Duopols aus Staat und Kapital, was die Freiheit, die Neoliberale meinen, als Unfreiheit all derjenigen ausweist, die keine andere Möglichkeit der Existenzsicherung haben als den Verkauf ihrer Arbeitskraft. Die Suprematie der eigenen Klasse durch einen nicht nur aus biografischen Gründen zur zweiten Natur gewordenen, mit kulturalistischer Apologie zeitgemäß aufgerüsteten Antikommunismus bemäntelnd , erweist sich Václav Klaus als Repräsentant jener Rechten, die in ihrer Ablehnung der Europäischen Union vor allem den drohenden Verlust tradierter Standes- und Herrschaftsprivilegien zu verhindern versucht.

4. Dezember 2012


Václav Klaus
Europa?
Ausgewählte Reden, Vorträge und Texte des Präsidenten der Tschechischen Republik 2005 bis 2010
context Verlag Augsburg, 2011
180 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-939645-35-1