Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/611: Ilija Trojanow (Hg.) - Anarchistische Welten (SB)


Ilija Trojanow (Hg.)


Anarchistische Welten



Im Spannungsfeld zwischen sozialer Unterwerfung und neoliberalem Leistungsdiktat vermag der moderne Mensch kaum mehr von Freiheit zu träumen, so unlösbar und niederdrückend lasten die Probleme auf seinen Schultern. Wer im Widerschein aller Aussichtslosigkeit dennoch nicht bereit ist, den Beschwichtigungen der Herrschenden Glauben zu schenken oder dem Kommando der Ökonomie das letzte Wort zu überlassen, findet womöglich im reichhaltigen Universum anarchistischer Theorie und Praxis neue Möglichkeiten, den Zwängen und Nöten kapitalistischer Vergesellschaftung streitbar entgegenzutreten. Der von Ilija Trojanow herausgegebene und in der Reihe Nautilus Flugschriften erschienene Band "Anarchistische Welten" verspricht, dafür Handhabe und Orientierung zu liefern.

Ilija Trojanow gelingt es auf undogmatische Weise, auch einem in diesen speziellen Gedankengängen ungeübten Laienpublikum die Vielzahl anarchistischer Traditionen und Konzepte authentisch und plausibel nahezubringen. Er bedient sich dabei eines gewitzten Kunstgriffes. Indem er in anarchistischen Kreisen einschlägig bekannte Persönlichkeiten wie Osvaldo Bayer, Uri Gordon, Gerhard Senft und David Graeber in Kombination mit progressiven Autorinnen und Autoren wie Vandana Shiva, Douglas Park, Frans de Waal, Rebecca Solnit, Georgi Konstantinow, Lutz Schulenburg, Isabelle Fremeaux/John Jordan, Thomas Wagner und Niels Boeing in knapp pointierten, aber durchaus aussagekräftigen Gastbeiträgen, Buchauszügen und Interviews zu Wort kommen läßt, öffnet er ein breites Spektrum zivilgesellschaftlicher Protest- und Widerstandsformen, die kraft ihrer eigenen Zielsetzung unweigerlich in direkter Beziehung zur Infragestellung bestehender Ordnungen stehen.

Nicht immer ist dabei der Bezug zum Anarchismus prägnant. Damit wird jedoch keiner Beliebigkeit im Aneinanderreihen von Texten der Vorrang gegeben. Vielmehr ist es Teil einer Programmatik, die die klassischen Kernkompetenzen des Anarchismus - Solidarität, Gemeinwohl und Empathie - einer von Ängsten und Widersprüchen zerrissenen Modernität entgegensetzt. Dies erfolgt weniger durch die Dramaturgie komplex inszenierter Begründungszusammenhänge, worin sich die Fachliteratur immer wieder aufs zweifelhafteste versucht, sondern durch gezielte Querverweise auf soziale Bewegungen und wissenschaftliche Erkenntnisse.

Der Herausgeber Trojanow ist kein Salonanarchist, der sein Publikum in aufreizender Rhetorik über die Schlechtigkeit der Welt belehrt. Auch zählt er nicht zu jenen berühmt-berüchtigten Theoriephilistern, die die Anarchie gerne als intellektuelle Arznei gegen das Unbehagen der Zeit empfehlen. Schon der Buchtitel verrät unmißverständlich, daß der Anarchismus aus Sicht Trojanows kein elitäres Gedankengebäude darstellt, sondern seine einst revolutionären Kämpfen abgerungenen Erfahrungen mit innerer Logik und Stringenz in die sozialen Bewegungen der Jetztzeit einfließen.

Dennoch wäre die Annahme der Anarchie als Alleinstellungsmerkmal einer bestimmten Denkschule irreführend. Dem steht schon die in der Geschichte in vielerlei Arten und Gestalten wiederkehrende Idee der Herrschaftslosigkeit prinzipiell entgegen. Anarchie ist demzufolge ein Bewegungsmoment von unten und ein unausrottbarer Widerwille gegen autoritäre Machtansprüche, deren Behauptung, der Mensch müsse sich aufgrund einer urgesetzlichen Hierarchie über den Menschen erheben, jeder Humanität einen Schlag ins Gesicht versetzt. Daß demütigende Formen kreatürlicher Not und existentieller Armut, Exzesse des Krieges und organisierter Gewalt, die durch alle Werdegänge des Menschen hinweg in vielfältigen zivilisatorischen Unterwerfungs- und Ausbeutungsstrukturen bis zum heutigen Tag überdauerten und sich im fortgesetzten Griff institutioneller und wirtschaftlicher Willkür noch verhärten, kein Schicksal sein müssen, dafür haben Anarchisten und ihre Verbündeten seit jeher gekämpft.

Trotzdem verweist Trojanow in seinem einleitenden Artikel darauf, daß "Jahrhunderte der Verleumdung" das anarchistische Aufbegehren gegen jedweden Ausdruck von Herrschaft und Unterdrückung in das Zerrbild einer "weltfremden Errettungsideologie" gerückt, groteskerweise gar zum "chiliastischen Kult" herabgewürdigt haben. Indem Anarchisten in der bürgerlichen Publizistik als "elitäre Versponnene" (S. 5) verunglimpft wurden, konnte es gelingen, das Kernanliegen ihrer gesellschaftspolitischen Kämpfe in die Regale verstaubter Geschichtsenzyklopädien zu verbannen.

Dem hält der Herausgeber mit aller Entschiedenheit entgegen, daß der Anarchismus ein Projekt sei, "anhand radikaldemokratischer Prinzipien einen geeigneten gesellschaftlichen Rahmen für eine größtmögliche individuelle Freiheit zu schaffen". (S. 6) Zugleich ist der Anarchismus laut Lutz Schulenberg nicht zu trennen "vom subversiven Untergrund der Geschichte" (S. 119). In diesem Sinne gehört "unaufhörliches Infragestellen der Machtstrukturen und Denkgebote" und "die Ablehnung einer betitelten, beworbenen und allein von der Macht ihrer Position getragenen Autorität" (S. 8) unabweislich zum anarchistischen Rüstzeug. Dies jedoch nicht zum Selbstzweck, um einer Freigeisterei zum intellektuellen Sieg über das System zu verhelfen, sondern die Konditionierung des Menschen auf den Untergebenenstatus schlechthin aufzubrechen.

"Anstatt begreifen zu wollen, was wir von Natur aus sind und wie weit wir uns von diesem ursprünglichen Zustand entfernt haben, werden in den Schulen weiterhin die Thesen von Thomas Hobbes gelehrt, die ohne Not das Autoritäre in der Gesellschaft verankern" (S. 10 f), kritisiert Trojanow und führt weiter aus: "Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Biologie und der Verhaltensforschung haben die Simplifizierungen von Hobbes und seinen Adepten längst auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, denn wie wir inzwischen zur Genüge wissen, sind die Prinzipien der Empathie, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit in der Natur weit verbreitet - wie auch in menschlichen Gesellschaften, sichtbarer natürlich in jenen, in denen der Einfluss von Macht, Hierarchie und Kapital das menschliche Verhalten nicht bis zur Unkenntlichkeit verdorben hat." (S.11)

Die ins Gedächtnis ungezählter Generationen eingebrannte Ideologie, daß der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und seine zivilisatorische Zähmung durch Rechts- und Strafvorschriften daher der einzig normative Hebel zur Organisation menschlichen Zusammenlebens sei, entspringt laut Trojanow einer von der Unfreiheit des Menschen zuvörderst profitierenden kleinen Schicht, ob Elite, Oligarchie oder Nomenklatura, deren Stand und Einfluß sich auf staatliche Strukturen gründet. "Versuche, das soziale Miteinander freier und gerechter zu gestalten, gab es in der Geschichte immer wieder" (S. 14) und ebenso blutig und rigoros wurden sie niedergeschlagen.

Horizontale Strukturen gegenüber hierarchischer Fremdbestimmung, Selbstorganisation statt Marktabhängigkeit und der unbedingte Vorzug der Gemeingüter vor kapitalistischen Aneignungsformen lassen den Anarchismus in den Augen der herrschenden Klasse als Inbegriff einer zerstörerischen Subversivität erscheinen. Auf die Füße einer anarchistischen Praxis gestellt, bedeutet dies jedoch nichts weiter, als daß jede Form von Staatlichkeit und Institutionalisierung den Menschen von seiner selbstbestimmten Freiheit trennt, die es, so das höchste Ziel der Anarchie, vorbehaltlos wiederzuerlangen gelte. Nur auf dieser Grundlage sei eine Gesellschaft gleichwertiger Menschen denkbar. Auf diesen Tenor fokussieren im großen und ganzen auch die Gastkommentatoren.

So bezieht sich der Sozialwissenschaftler Thomas Wagner durchaus auf Grundthesen des Anarchismus, die er jedoch in ein Urverständnis von Demokratie als einer gesellschaftlichen Organisationsform zur Überwindung von Herrschaftsbeziehungen zurückbindet. Entgegen der konventionellen Staatsrechtslehre, die in der Demokratie einzig die Legitimation verfassungsgebender Herrschaft deutet, hebt Wagner den sozialen Aspekt der demokratischen Vergesellschaftung hervor, deren kritischer Schnittpunkt zur Macht sich jedoch in der Frage der "ungleichen Verteilung des Zugangs zu ökonomischen Ressourcen" (S. 24) entzündet. Ganz in der Nähe zu den frühen Sozialreformern bemängelt er, daß das Kapital als immanenter Ausdruck sozialer Machtverhältnisse weitgehend aus dem Geltungsbereich des Demokratieprinzips ausgeklammert werde. Selbst die Forderung nach mehr Bürgerpartizipation beschränke sich auf den politischen Raum, während der wirtschaftliche Sektor im öffentlichen Diskurs fast schon mit einem Tabu belegt sei. So werde der Anschein erweckt, als ließe sich die Entstehung von Demokratien nicht ohne die Voraussetzung des Kapitalismus denken.

Wagner verweist auf die Arbeiten der Politikwissenschaftlerin Ellen Meiksins Wood und des Linguisten Harald Haarmann, wenn er resümiert, daß die Zivilisation früh in ihrer Geschichte am Scheideweg zweier Basismodelle stand: dem der staatenlosen Gesellschaft mit gleichem Zugang aller zum erwirtschafteten Reichtum und dem Modell der Staatsbildung mit der Zentralisierung von Macht und Autorität in einer damit einhergehenden Klassenherrschaft. "Die Selbstorganisation von Verwandtschaftsgruppen und egalitären Allianzsystemen" (S. 29) sei jedoch mit Blick auf die neueren Erkenntnisse ethnologischer Forschung durchaus als widerständige Antwort "auf Strukturen staatlich erzwungener Ausbeutung und Unterordnung, die sich in ihrer Nachbarschaft herausgebildet hatten" (S.30), konzipiert gewesen.

In die gleiche Richtung argumentiert der Archäologe Douglas Port Park, der bei seinen Ausgrabungen zum historischen Timbuktu zu dem Schluß kommt, daß die Gesellschaften der Vorzeit keine zentrale Verfügungsgewalt kannten. Seiner Ansicht nach hätten nomadisierende Lebensgemeinschaften im Übergang zur Seßhaftigkeit spezialisierte Fertigkeiten ausgeformt, um ein "System wachsender Wechselbeziehungen mit anderen Gruppen" auszubilden. Im Zuge rasch ausgreifender Verstädterung und einem daran gekoppelten Handel mit peripheren Märkten für Waren und Ressourcen wären so "flexible Netzwerke der Interdependenz" (S. 37) entstanden, in denen sich jede einzelne Gruppe auf die Subsistenztätigkeit der anderen gestützt habe.

Entscheidend sei dabei gewesen, daß die Gruppen und/oder Familienclans ihr erworbenes Wissen in Abgrenzung zum sozialen Umfeld geheimhielten und so ihren Einfluß auf das Sozialsystem aufrechterhalten konnten. Park erkennt darin "Prozesse der Machtteilung" (S. 41), die die Bildung horizontal verschränkter Kompetenzen und Befugnisse gefördert hätten. Indem Wissen monopolisiert wurde und Transportwege und Warenverkehr jeweils in den Händen von Clans und Sippen verblieben, hätten "selbstorganisierende Gesellschaften aktiv der Herausbildung einer zentralen Autorität" (S. 42) entgegengearbeitet. So ganz harmonisch ging es in diesen archaischen Strukturen dann doch nicht zu. Angesichts ausbrechender Streitigkeiten und Fehden und weil sich offensichtlich die Erwerbs- und Eigentumsinteressen im Gemeinwesen nicht mehr einvernehmlich schlichten ließen, "wählte die prähistorische Kultur des Massina (...) für eine festgelegte Anzahl von Jahren einen Führer mit absoluter Autorität. Dieser Anführer jedoch musste sich (...) am Ende seiner Amtszeit das Leben nehmen oder von der Hand eines anderen sterben." (S. 47)

Eingebunden in diese Regelung sind bereits erste Ansätze einer Moral. Jeder, so die dieser frühen Regierungsform offenbar zugrunde liegende Ratio, der einmal von der Macht gekostet habe, wird sie, da das Egostreben stärker sei als der Solidaritätssinn, mißbrauchen. Der Tod des Königs sollte einer Korrumpierung des Amtes vorbeugen. Verschwiegen wird in diesem Königsmythos allerdings, daß diejenigen, die ihn auf den Thron gesetzt hatten, damit er ihre Zwistigkeiten untereinander regle, selbst den Keim der Korruption in sich trugen. Er mußte nicht sterben, weil er zuviel Macht besaß - das ließen die archaischen Strukturen gar nicht zu -, sondern weil die Gefahr, daß er sich als Schlichter bestechen ließ, mit jedem Jahr seines Amtes ins Unkalkulierbare stieg. So stellte er nicht explizit für die Gemeinschaft eine Bedrohung dar, wohl aber für die Wohlhabenden und Patriarchen der Clans. Tatsächlich galt für das frühe Königstum die Losung: Wer die Krone trage, diene allen. Daß die Moral in erster Linie ein ausgeklügeltes System der Verschleierung darstellt, erklärt auch, warum sich die wirklich Mächtigen immer im Hintergrund hielten, aber ihre Interessen gut zu lancieren wußten. Die Moral der Untertanen war davon gänzlich geschieden und diente lediglich dazu, ihnen einzureden, daß sie in ihrer Tierverhaftetheit rohe und verworfene Geschöpfe seien, die der Führung bedurften, bis hin zur modernen Lesart, daß sich der Stufenweg der Moral in der biodynamischen Entwicklung des Gehirns niedergeschlagen hätte.

Als Primatenforscher verortet Frans de Waal die Fragen von Moral und menschlichem Verhalten allerdings nicht im vielgespriesenen Frontallappen, sondern sieht unsere psychologische Ausstattung eher auf einer Höhe mit geselligen Primaten. Entgegen der Weltanschauung eines Robert Wright, der die Moral nur als dünne Lackschicht auf einem brodelnden Kessel abscheulichster Triebe begreift, beruft sich de Waal auf die Darwinsche These, derzufolge sich Moral aus sozialen Instinkten entwickelt habe, wenn er schlußfolgert, daß die Menschheit "entschieden kooperativer, altruistischer und gerechter ist" als die "Modelle des Eigennutzes" (S. 54) dies in ein gegenteiliges Bild projizieren. "Säugetiere können ebenso Freude daran haben, anderen zu helfen, wie Menschen Freude daran haben, Gutes zu tun." (S. 57) De Waal erkennt durchaus, daß erst durch die Ausformulierung von Prinzipien, die dem menschlichen Verhalten auferlegt werden, Moralität zu einem "differenzierten System der Begründung, Überwachung und Bestrafung" (S.59) entufere. Seine Forschungsergebnisse haben ihm jedoch aufgezeigt, daß die "Bausteine der Moralität älter sind als die Menschheit" (S.61), sich aber auf jeden Fall auf Gemeinschaftssinn zurückführen ließen. Die neuen Atheisten "möchten die Ethik in einer naturalistischen Weltsicht verankern" (S. 60), aber die Frage, was schlecht, unmoralisch und böse sei, wird laut De Waal nicht durch die Biologie beantwortet, sondern erfährt seine prägende Rechtfertigung durch die Machtstrukturen einer Gesellschaft.

Werden Egoismen und Erfolgsdenken von Kindesbeinen an in Schul- und Lehranstalten konditioniert und später auf karrieristischen Berufswegen durch die Signatur des Besitzstandes vertieft, kooperatives Miteinander jedoch nur in dem Maße gefördert, wie es der Disziplinierung des Menschen dient, dann wandelt sich, was de Waal unsauber mit dem Begriffskatechismus der Moral zu rationalisieren versucht, auch der Kodex des Zivilverhaltens nach den vorherrschenden sozioökonomischen und rechtsförmigen Gegebenheiten um. Wo Moral den Widerstand gegen das hierarchische Unrecht bricht, fehlt diesem Herrschaftsinstrument jede Doppelbödigkeit - es erschließt sich in der bloßen Verinnerlichung von partikularistischen Interessen bestimmter Werte.

Einen interessanten Blickwinkel zum selben Verständnis liefert die Menschenrechts- und Umweltschutzaktivistin Rebecca Solnit mit ihrem Beitrag "Aus der Hölle ein Paradies gebaut". Auch sie sieht den Bezugsrahmen der menschlichen Werte durch Privatisierungsinteressen vereinnahmt. Mitunter können jedoch Notzeiten wieder zu Tage fördern, was durch den warenförmigen Charakter postmoderner Dienstleistungsgesellschaften fast vollständig an den Rang gedrängt wurde. Für die Bewohner von New Orleans war der Wirbelsturm Katrina weniger eine Natur- als vielmehr eine soziopolitische Katastrophe. Mit dem Zusammenbruch der infrastrukturellen Versorgungsleistungen waren sie ohne jede Vorwarnzeit von einem Tag auf den nächsten nahezu vollständig auf sich allein gestellt. Ohne sauberes Trinkwasser und medizinischen Beistand, in sanitäre Verhältnisse zurückgeworfen, die jeder Beschreibung spotten, waren sie dringend auf Hilfslieferungen angewiesen, die sie jedoch nie erreichten, weil die politische Führung nur um ihr Ansehen besorgt war. So waren insbesondere die schwarzen Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt gezwungen, sich im Angesicht unmittelbarer Not auf ursprüngliche Formen menschlicher Solidarität und Rücksichtnahme zu besinnen.

Verzögert wurden die Rettungsaktionen zudem durch die Fernsehanstalten, die landesweit in Blitzmeldungen von anarchistischer Verwahrlosung, von Plünderungen, Vergewaltigungen, Mordexzessen berichteten und gleichzeitig eine "verarmte und weitgehend afroamerikanische Bevölkerung in der heißen, verdreckten, verfallenen Stadt" (S. 69) zeigten. Die Mehrzahl der in großen US-Zeitungen veröffentlichten Berichte über angeblich von Schwarzen verübte Greueltaten mußte später zurückgenommen werden, aber aufgrund der Hetzartikel hatte sich New Orleans während der Katastrophe in ein riesiges Gefängnis verwandelt, "wo die Opfer als Bedrohung betrachtet wurden" (S. 71).

Solnit fand jedoch heraus, daß die meisten Bürgerinnen und Bürger der Stadt unter den drastischen Bedingungen von Not und Verlassenheit keineswegs zu wilden Tieren entarteten, die sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, sondern vielmehr durch die "Außerkraftsetzung der gewöhnlichen Ordnung und durch das Versagen der meisten Systeme frei wurden, anders zu leben und zu handeln" (S. 65) und in diesem Ausnahmezustand vormals abgegebene Kompetenzen zurückerlangten, selbst die handelnde Körperschaft der Entscheidungsfindung bildeten und dort halfen, wo Hilfe nötig war, "und zwar altruistisch, mutig und die Initiative ergreifend, um selbst zu überleben oder die Nachbarn zu retten" (S. 64), "so wie es die Demokratie immer versprochen und selten gehalten hat" (S. 76).

Die formale Begründung der Herrschaft, wie sie in den Werken der Staatstheoretiker von Hobbes über John Locke bis zum Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau immer wieder paraphiert wurde, nämlich daß das Fehlen obrigkeitlicher Strukturen zwangsläufig in die Urzustände von Anarchie und Chaos zurückführe, hat sich Solnit zufolge in New Orleans als Hirngespinst herausgestellt. Vielmehr hätten die Menschen, ohne es zu wissen, vor Katrina in der Hölle sozialer Gleichgültigkeit und Fremdbestimmung gelebt, in der Abhängigkeit von Institutionen, die bei Ausbruch der Katastrophe in ganzer Bandbreite versagten und sie ihrem Elend überließen. Aber dennoch sei so für einen kurzen künstlichen Moment die Erinnerung an die eigentliche Stärke menschlichen Handelns durchgeschimmert. "Auf dieser Grundlage lässt sich eine Welt bauen, und wenn das geschähe, würden die Trennungen beseitigt werden, die das tägliche Elend produzieren, die Armut, die Einsamkeit und in Krisenzeiten die mörderische Angst und den Opportunismus." (S. 79)

Rebecca Solnit und Frans de Waal griffen dabei auf Gedanken und Reflexionen des anarchistischen Vordenkers Peter Kropotkin aus seinem Buch "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" zurück. Andere Beiträge behandeln die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit. Die indische Physikerin und Aktivistin der Umweltschutzbewegung und des Öko-Feminismus, Vandana Shiva, zeigt die fürchterlichen Konsequenzen der sogenannten Grünen Revolution auf dem Subkontinent auf. Die mit ausländischem Kapital vorangetriebene Industrialisierung der indischen Landwirtschaft sei ihr zufolge im wesentlichen auf dem Rücken der Kleinbauern erfolgt, deren Anbau direkt in den Export geht, sie selbst aber durch die hohen Kosten für den Einkauf von genmanipuliertem Saatgut und Düngemitteln zunehmend verarmten, so daß es seit Jahren zu horrenden Selbstmordraten unter den Bauern kommt. Um agrarische Anbauflächen zu gewinnen wie auch Lizenzen zum Abbau weltweit benötigter Metallerze zu bekommen, würden zudem militärische Säuberungsaktionen unter den Stammeskulturen durchgeführt. Indien sei insbesondere für den reinen Finanzmarktsektor zum lukrativen Anlagemarkt geworden, um das Zirkulieren der Geldströme wieder an reale Werte wie Besitz an Land, Wasser, Wälder und Bodenschätze zurückzukoppeln. Jahrhundertealte Traditionen der Subsistenz und nachhaltigen Agrarwirtschaft würden auf diese Weise mit dramatischen Folgen für die indische Bevölkerung dem Finanzkapitalismus geopfert. Entgegen den vollmundigen Versprechungen der Agrarökonomen von einem Ende der Armut sieht Shiva vielmehr das "Ende der Menschenrechte und der Gerechtigkeit" (S. 87) heraufdämmern.

Niels Boeing referiert über neue Technologien und soziale Transformationen und wirbt dabei für ein differenziertes Verständnis von Technik, "auf das ein neues antikapitalistisches Projekt nicht verzichten kann. Mehr noch: aus dem wir eine politische Strategie für eine emanzipatorische Technik entwickeln können, die auch aus sich heraus über den Kapitalismus hinausweist." (S. 186) Osvaldo Bayer berichtet in einem Interview von der anarchistischen Geschichte Argentiniens. Auch wenn es heutzutage keine organisierte anarchistische Bewegung mehr gäbe, wirkten ihre Methoden und Mobilisierungsansätze doch latent in den Arbeitskampfmaßnahmen der argentinischen Gewerkschaften fort.

Der bulgarische Publizist und bekennende Anarchist Georgi Konstantinow nimmt in seinem Beitrag "Die Soziologie des Sozialismus" eine schonungslose Abrechnung mit dem Staatssozialismus in der Sowjetunion und deren Vasallenstaaten in Osteuropa vor. Schon 1973 in einem Flüchtlingslager bei Triest hatte er den Zusammenbruch des staatskapitalistischen Systems in seinem Heimatland prophezeit.

Lutz Schulenburg, Verleger der Edition Nautilus und Herausgeber der Zeitschrift Die Aktion, wirft einen Blick zurück in die Geschichte sozialkämpferischer Widerständigkeit, von der Peasant's Revolt in England 1381 bis zu den Maschinenstürmern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deren Kampf kein Ausdruck einer Zivilisationsfeindlichkeit war, sondern sich gegen das Fabriksystem in den Händen der Kapitalisten und die Aushöhlung handwerklicher Normen und Privilegien durch die Gesetzgebung richtete.

In "Pfade durch Utopia" berichten Isabelle Fremeaux und John Jordan über die verschiedenen Etappen der Planung, Organisierung und subversiven Durchführung eines ökologischen Camps, mit dem der Ausbau des internationalen Flughafens Heathrow verhindert werden sollte. Das Transparent mit der Aufschrift "Dieser Planet hat keine Notausgänge" war kennzeichnend für den festen Willen der Protestbewegung, den universalen, alle Menschen betreffenden Charakter des Klima-Kollaps zu kommunizieren. Mag sein, daß ein Klima-Camp die Welt nicht verändert, aber als temporärer Störfall im besinnungslosen Getriebe kann es Menschen zusammenbringen, um über Dinge nachzudenken und zu sprechen, die zu wichtig sind, um sie politischen Gremien und Wirtschaftstagungen zu überlassen.

Gerhard Senft, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, verficht ganz selbstbewußt eine libertäre Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und läßt sich darin auch nicht durch den Innovationsoptimismus der ökonomischen Funktionseliten abschrecken, die alle Errungenschaften der kapitalistischen Produktionsweise auf den zentralen Zweck der Verwertung des Werts reduzieren. Die qualitative Bestimmung der Frage danach, wie wir leben wollen, bleibt damit auf der Strecke einer Rentabilitätslogik, deren sozial ausschließende Wirkung die herrschende Eigentumsordnung reproduziert, anstatt für das Wohlergehen aller Menschen zu sorgen.

Dieser Konflikt hat ältere Wurzeln, weswegen Senft in seinem Beitrag auf den politischen Streit zwischen Föderalisten und Zentralisten im 19. Jahrhundert verweist, der seinerzeit viele Bereiche der Gesellschaft durchzog und sich bis in die im Aufbau befindliche Arbeiterbewegung erstreckte, in der Anarchisten und Staatssozialisten einander befehdeten. Die anarchistische Seite strebte dabei die Hervorstellung des Gemeinsinns auf dem Wege der "Direkten Aktion" an: Selbstorganisation statt Einfügung in eine konstruktivistische Ordnung, Schaffung überschaubarer Einheiten anstelle großer anonymer Apparate, Mitbestimmung und -gestaltung statt Entscheidungen machtopportuner Eliten.

Die unterschiedlichen Anschauungswelten spiegelten sich auch in der Auseinandersetzung zwischen den politischen Arbeiterfraktionen wider bis hin zur Rivalität zwischen Michail Bakunin und Karl Marx. Senft definiert den libertären Sozialismus denn auch als Ablehnung etatistischer und technokratischer Autoritäten. Nach anarchistischer Vorstellung übernehmen Komitees und kommunale Verwaltungen "sämtliche soziale Aufgaben, Funktionen und Pflichten" (S. 163 f) in einem Gemeinwesen. So spricht sich der Wiener Wirtschaftsprofessor für Genossenschaften und wirtschaftliche Selbstverwaltung aus. "Sowohl in der produktions- als auch in der konsumorientierten Form verweist die Genossenschaftsbewegung auf eine lange Traditionslinie." (S. 164) Libertäre Ideen, die in der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit in Umsonstläden, der Commons-Bewegung und der Open-Source-Kultur einen Widerhall finden.

Schonungslos problematisiert David Graeber als bekennender Anarchist und Mitglied der "Industrial Workers of the World" die Auswüchse des Kamikaze-Kapitalismus und kritisiert unter Verweis auf die Kontroverse zwischen Marx und Bakunin vor allem: "Eine der großen Ironien des 20. Jahrhunderts ist, dass eine politisch mobilisierte Arbeiterklasse, wann immer sie ein Mindestmaß an politischer Macht eroberte, dies unter der Führung einer bürokratischen Klasse tat, die jenem Produktivitätsethos anhing, das die meisten Arbeiter nicht teilten." (S. 178)

Abschließend zeigt Uri Gordon an verschiedenen Beispielen auf, wie der Kapitalismus die um sich greifende Kritik gegen die neoliberale Gesellschaft dadurch vereinnahmt und entschärft, daß er sie "neu kodiert und in ihre eigene Logik aufnimmt" (S. 203). Dem hält er drei Kategorien der anarchistischen Aktion entgegen: Delegitimierung, direkte Aktion und Netzwerkbildung. "Der Preis der Freiheit wird immer ewige Wachsamkeit heißen." ( S. 215)

Trojanow vermittelt in seiner Anthologie ein facettenreich abgerundetes Bild über die klassischen anarchistischen Traditionen wie auch über seine modernen ins Libertäre hineinwirkenden Ausprägungen. Auch wenn die Analyse zum Anarchismus nicht sonderlich in die Tiefe geht, so wird doch der Charakter und die Notwendigkeit von Bewegungen, die sich zivilgesellschaftlich gegen die Prekarisierung des Lebens und die Ausweitung staatlich organisierter Unfreiheit und Entmündigung zur Wehr setzen, deutlich hervorgehoben.

Ein Manko bleibt allerdings. Die Entwicklung des zivilisatorischen Menschen gestaltete sich stets auf der Basis des Widerstands gegen Herrschaftsformen. Daß diese Widerständigkeit im Laufe der Geschichte veränderte Formen angenommen hat, weil sich die Gegenseite durch die Konzentration von Macht und deren institutioneller Verflechtung mit gesellschaftlichen Abläufen ein größeres Instrumentarium an Verfügungsformen aneignete, läßt sich ebensowenig bestreiten. Der kritische Punkt in der Ideengeschichte des Widerstands besteht in der Frage, wie dieses Nein zur Herrschaft bestimmt wird. Das Aufbegehren mit einem Zweck oder Ziel zu verbinden, noch ehe geklärt ist, was das Wesensmerkmal herrschaftsförmiger Strukturen ausmacht, ist eine zweischneidige Angelegenheit. Der Anarchismus verortet den Sinn der Herrschaft in der Unterdrückung der Freiheit, während der klassische Marxismus im Privateigentum und der Ausbeutung der Arbeitskraft die Grundlage kapitalistischer Dynamik sieht. Die Frage lautet schlicht: Wofür kämpft man?

Gleichberechtigung, Geschlechtergerechtigkeit, soziale Partizipation, individuelle Selbstverwirklichung und demokratische Grundrechte stellen strenggenommen Kompromißformen in einem Streit dar, der solange unausgereift bleibt, wie Lösungen und Antworten an die Stelle einer selbst theoretisch angedachten Überwindung aller Voraussetzungen von Not treten. Der Anarchismus rebelliert gegen Autoritäten, weil er in ihnen eine Verletzung seines Freiheitsstrebens erkennt. Daß eine hierarchische Organisation möglicherweise nur eine Erscheinungsform der Herrschaft, nicht aber ihr wesentlicher Inhalt ist, wäre eine grundlegende Frage wert. Ansonsten könnte man noch in den Gründervätern der amerikanischen Verfassung Vordenker anarchistischer Prinzipien vermuten, da auch sie für Freiheit und individuelles Glück, verstanden als universelle Grundrechte, eintraten. Wenn zehn arbeiten und einer davon profitiert, wenn alle satt sind bis auf den einen, der hungert, spannt sich die Dornenkrone der Herrschaft über die Menschheit.

22. April 2013


Ilija Trojanow (Hg.)
Anarchistische Welten
Nautilus Verlag, Hamburg, 2012
224 Seiten, 16,00 Euro
ISBN 978-3-89401-764-4