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REZENSION/615: Klaus Dörner - Helfensbedürftig. Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert (SB)


Klaus Dörner


Helfensbedürftig

Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert



"Jeder braucht seine Tagesdosis an Bedeutung für Andere!"

Klaus Dörner, der bekannte Psychiater und Autor, der sich schon während seiner praktischen klinischen Tätigkeit konsequent für eine Welt ohne Heime engagiert hat, streitet seit langem nicht mehr nur für die Deinstitutionalisierung in der deutschen Psychiatrie und die Inklusion psychisch Kranker und Behinderter, sondern auch für das lebenslange Miteinander von jungen und alten Menschen.

Heutzutage möchte niemand mehr in ein Heim. Darüber hat Dörner in ungezählten Vorträgen berichtet. Das im 19. und 20. Jahrhundert aufgebaute duale System "Wohnung / Heim", das mit der Industrialisierung und dem trügerischen Versprechen einherging, auch im Alter gut versorgt zu sein, habe ausgedient und stoße auch wirtschaftlich an seine Grenzen.

Zu spüren bekommen das die Betroffenen. Der auf der Hand liegenden Frage, ob denn Menschen, die ihre ökonomische Verwertbarkeit für den Staat und die Gesellschaft verloren haben, in der heutigen Zeit und in Zukunft davon ausgehen müssen, daß sie keinen Anspruch mehr auf ein gesichertes und menschenwürdiges Leben im Alter erheben dürfen, tritt Klaus Dörner mit einem klaren "nein" entgegen, gerade weil die Lebenswirklichkeiten vieler alter Menschen in Deutschland ein beredtes Zeugnis von der katastrophalen Situation ablegen.

Klaus Dörner hat sich nach seiner Emeritierung im Jahr 1996 auf die Suche nach Alternativen begeben. Der Kampf um das Recht eines jeden Menschen auf Inklusion, also darauf, "in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen von Beginn an dazu zu gehören, Wert geschätzt zu werden, sich als zugehörig erleben und fühlen zu können - unabhängig davon, wodurch die Zugehörigkeit gefährdet ist" [1], hat in seinem Leben und Wirken schon immer eine zentrale Rolle gespielt.

Der Autor ist sich selbst treu geblieben. Galt sein Engagement im Laufe seiner Karriere als Psychiater stets der Deinstitutionalierung und der Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen in ein normales Lebensumfeld, so setzt er sich heute für das alltägliche soziale Miteinander von Alt und Jung, von Pflege- oder Hilfsbedürftigen und Gesunden im vertrauten Lebensumfeld ein.

Denn wer wünscht sich das nicht: alt werden zu können, ohne sich Sorgen um die eigene Versorgung oder eine institutionelle ENDsorgung für den Fall, daß man es allein nicht mehr schafft, machen zu müssen; zu wissen, daß man sich auf sein soziales Umfeld verlassen und stützen kann, daß man mit alters- oder krankheitsbedingten Einschränkungen weiterhin dazugehört und seinen Platz in der vertrauten Umgebung behält; daß man selbst im Fall der Pflegebedürftigkeit sicher sein kann, daß gut für einen gesorgt, man nicht allein gelassen und in ein beliebiges vielleicht sogar ortsfernes Heim abgeschoben wird.

Das Thema des Buches ist brisant und wird es angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse und der demografischen Entwicklung auch in den kommenden Jahren bleiben.

Denn die Zahl der alten Menschen nimmt zu und die Basis der Bevölkerungspyramide schrumpft, was bedeutet, daß immer weniger Jüngere für immer mehr Alte sorgen müssen. Es ist kein Geheimnis, daß sich dieses Problem in den kommenden Jahren noch verschärft, denn laut "Pflegereport 2030" der Bertelsmann Stiftung wird der Pflegebedarf bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent steigen.

Gleichzeitig werden die Sozialleistungen des Staates immer weiter abgebaut. Immer weniger Pflegeleistungen werden von der Kasse übernommen. Für jede pflegerische Erfordernis muß die Rechtfertigung erbracht werden, daß sie wirklich notwendig ist. Das Personal in den Kliniken und Heimen ist überfordert. Es mangelt an Pflegekräften, die sich adäquat kümmern können. Für persönliche Gespräche, die Begleitung bei einem Spaziergang oder Einkauf bleibt keine Zeit und für über die pflegerischen Maßnahmen hinausgehende menschliche Kontakte ist kein Etat vorgesehen. Überall wird gekürzt, werden Arbeitsplätze eingespart. Das Finanzregime der staatlichen und privaten Heime ist so eng reguliert, daß außer der bloßen Grundpflege und Versorgung keine Reserven vorhanden sind.

Durch den Verfall des Sozialstaats in den letzten Jahrzehnten hat zudem die Altersarmut rapide zugenommen. Immer weniger Menschen können es sich leisten, die für ein würdiges Dasein in einer lebenswerten Umgebung erforderliche Pflege privat zu finanzieren. Renten werden gekürzt und reichen knapp zum Überleben. Viele sind gezwungen, sich trotz ihres Alters und der damit verbundenen Einschränkungen und Behinderungen mit Minijobs noch etwas hinzuzuverdienen.

Die heutigen Lebensverhältnisse lassen es in vielen Fällen nicht zu, daß ein Familienangehöriger im Krankheitsfall oder weil er es allein nicht mehr schafft, von der Familie, den Kindern oder Enkeln gepflegt wird. Die Wohnverhältnisse sind zu beengt, die Wege haben sich meist Jahrzehnte zuvor getrennt, und die finanziellen Belastungen erfordern immer öfter mehr als einen Job zum Überleben, so daß auch die dafür benötigte Zeit nicht zur Verfügung steht.

Daß die Versorgung im Alter eines der großen sozialen Probleme unserer Zeit darstellt, ist der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte geschuldet. Fand das Altwerden im vorletzten Jahrhundert noch vorwiegend im Kreis der Familie statt, so entwickelten sich im Zuge der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert Strukturen, die eine gesonderte Unterbringung alter Menschen in Heimen vorsah.

Es blieb [...] der beginnenden Industrialisierung vorbehalten, solche modernen Trennungsoperationen auf immer mehr Lebensformen auszuweiten und vor allem systematisch durchzusetzen. So erzwang die Auslagerung der Güterproduktion aus den Handwerksstuben in die Fabriken die Trennung der Arbeits- von der Lebenswelt und damit eine viel rigidere Geschlechtertrennung als je zuvor. Das dem entsprechende industrielle Menschenbild der einseitigen Leistungsbewertung - ein Mensch ist umso weniger Mensch, je leistungsminderwertiger er ist - führte nach demselben Trennungsmotiv konsequent zur Etablierung flächendeckender Institutionssysteme für psychisch Kranke, Körperbehinderte, geistig Behinderte und in dem Maße, wie diese allmählich zunahmen, auch für Alterspflegebedürftige, Sieche und Demente. Ausgrenzungskriterium für diese Menschen, die ja immerhin Familie, Freunde, Nachbarschaft, ihr Wohnviertel, ihre kirchengemeindliche und kommunale Zugehörigkeit, ihre Freiheit ebenso wie ihre Bedeutung für Andere verloren, waren das Maß ihrer Leistungsminderwertigkeit und ihres Störpotenzials.
(S. 25)

Sinn dieses Systems war also die Förderung der für den Fortschritt und die Ökonomisierung der Wirtschaft notwendigen "Leistungssteigerungsgesellschaft durch Ausgrenzung der Leistungsminderwertigen." (S. 199) Die Devise hieß: stationär vor ambulant, um möglichst viel der dringend gebrauchten Arbeitskraft, die sonst familiär durch Pflegeaufgaben gebunden wäre, für den Aufbau der Industriegesellschaft freizuhalten. Der gesellschaftliche Wandel hin zur Kleinfamilie und damit zur zunehmenden Vereinzelung war verbunden mit dem Versprechen, im Alter und im Pflegefall vom Staat gut versorgt zu werden.

Die Institutionalisierung und Professionalisierung des Helfens - eine menschheitsgeschichtliche Ausnahme, wie Dörner interessanterweise betont - ging einher mit einem rasanten medizinisch-technischen Fortschritt, bei dem schon bald absehbar war, daß dieser nicht mit dem Anspruch eines Sozialstaats, jedem die gleichen Chancen für eine medizinische Versorgung einzuräumen, in Deckung gebracht wurde. Folge war und ist der konsequente Abbau der Sozialleistungen des Staates und eine zunehmende Privatisierung ursprünglich staatlich vorgehaltener Dienstleistungen.

"Helfensbedürftig" ist nicht das erste Buch von Klaus Dörner, das sich mit dem Problem des Alterns in unserer heutigen Gesellschaft und insbesondere mit dem Problem der Versorgung und des Zusammenlebens im Alter befaßt. Es knüpft direkt an das Buch "Leben und Sterben wo ich hingehöre" an, das im Jahr 2007 erschienen ist und in dem der Autor seine Vision eines umfassenden deinstitutionalisierten Hilfesystems mit Bürgerbeteiligung vorstellt. In seinem aktuellen Buch beschreibt er diese wie folgt:

[...] dass wir in der Tat in absehbarer Zeit so weit sein können, wenn wir bloß wollen, dass alle Menschen mit Handicaps bis hin zur Demenz, ihrem Wunsch folgend, in eigenen vier Wänden oder zumindest in der Vertrautheit ihres Stadtviertels bzw. Dorfes leben und sterben [können].
(S. 8)

Klaus Dörner hat sich in seinem Buch "Helfensbedürftig" auf die Suche nach alternativen Modellen für ein Zusammenleben von Alt und Jung in der heutigen Zeit begeben und die Ergebnisse seiner Suche akribisch zusammengetragen. Ohne zu werten, stellt er die verschiedenen Initiativen, Ideen und Ansätze, die es in kleinen und großen Gemeinden in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt, vor. Für ihn bietet jeder Ansatz, jede Initiative in dieser Richtung die Chance, etwas zu verändern und die alten Menschen in das alltägliche Leben zu integrieren oder anders gesagt, sie nicht aus dem alltäglichen Leben zu entlassen.

Daß alle Konzepte erst entwickelt werden müssen und bei ihrer Umsetzung häufig korrekturbedürftig sind, setzt er als selbstverständlich voraus. Doch jede Idee ist besser, als die Abschiebung alter Leute in Heime. Dörner wird nicht müde zu betonen, daß jeder Mensch seinen Teil an sozialer Anerkennung braucht. Abgeschoben in Heime wird ihnen die Erfüllung dieses Bedürfnisses verweigert.

Dörners Kritik an den Heimen ist ungebrochen radikal und sein Engagement umso glaubhafter, als die Geschichte der Heime Teil seiner eigenen Lebensgeschichte ist. So kann er aus seiner Zeit als Psychiater und ärztlicher Leiter des Landeskrankenhauses Gütersloh, in der er zusätzlich auch als Abteilungsleiter für 435 Langzeitpatienten und damit für die später in 'Heimbereich' umbenannten Abteilungen des Krankenhauses verantwortlich war, berichten, daß

[...] Menschen, die von sich aus die Heimexistenz nie gewählt hätten, schon nach relativ kurzer Zeit jeden Glauben an sich selbst verloren haben, sich dank der dortigen Überversorgung für zu behindert halten, es je wieder verlassen zu können (in Gütersloh waren es anfangs über 90 %), bis die Weite der Welt für sie auf eben dieses Heim zusammenschrumpft, bis Zukunftswünsche und Vergangenheitserinnerungen zugunsten einer sich ewig wiederholenden und bedeutungslosen Gegenwart aufgegeben werden und bis sie in eigentlich sogar gesunder Anpassung an das, was ihnen täglich von uns eingeredet wird, dass es für sie keine Alternative geben könnte [...], von sich selbst behaupten, dieser Heimplatz sei der beste Lebensort für sie, den sie freiwillig nicht wieder aufgeben würden.
(S. 203-204)

Das Ansinnen von Dörner in dem Buch "Helfensbedürftig" ist es, durch die Sammlung und Vorstellung der verschiedensten Beispiele neuer Hilfeformen sowie durch eine kritische Bewertung und Verallgemeinerung der unterschiedlichen Ansätze eine neue und zukunftsfähige Hilfekultur für alle zu fördern. Im zweiten Schritt möchte er dann "die Verantwortlichen und Machthaber in den verschiedenen gesellschaftlichen Hierarchien - von der Kommune über die Wirtschaft bis zur Bundespolitik - ins Boot [...] holen." (S. 6), um dieses bürgerschaftliche Engagement der Basis auf gesamtgesellschaftliche Füße zu stellen.

Mehr als 1000 Reisen hat der Autor in den letzten Jahren auf sich genommen, um die verschiedenen Projekte zu besuchen und kennenzulernen. Dabei war es ihm von Anfang an ein besonderes Anliegen, zu einer möglichen Verknüpfung beizutragen, denn viele Ideen kämpfen mit gleichen oder ähnlichen Problemen und könnten sich durch einen gegenseitigen Austausch befördern.

Bei seinen Recherchen ist Klaus Dörner auf ein Phänomen gestoßen, das er als eine Art neue Bürgerhilfebewegung bezeichnet und das mit dem vom Autor neu geschaffenen Begriff "helfensbedürftig" auch in den Titel des Buchs Eingang gefunden hat. Er umfaßt die Erkenntnis des Autors, daß heute im Unterschied zu früher "ein bis zwei Drittel der Bevölkerung dazu neigen, einen Teil ihrer so schönen freien Zeit als 'soziale Zeit' für Andere zu verausgaben". (S. 6) Das Bedürfnis, helfen zu wollen und helfen zu können, stelle, so der Autor, das tragende Element für ein nachhaltiges Engagement der Bürger dar, denn die Erfüllung dieses Bedürfnisses sei eine Grundvoraussetzung für ein zufriedenes Leben.

Auf Nachfrage von Dörner wurden die folgenden Motive für ein bürgerschaftliches Engagement genannt:

[...], dass man außer dem Konsum und Genuss seiner freien Zeit ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben brauche, also außer Freizeit auch ein bisschen sozialgebundene Zeit, um sich gesund zu fühlen, außer Entlastung auch Belastung (seine Tagesdosis an Bedeutung für Andere), um zur Auslastung und damit zur Gesundheit zu kommen und drittens das Interesse an einem Gleichgewicht zwischen sowohl kostenlosen als auch bezahlten Tätigkeiten, je mehr mein Tun sich etablierten Dienstleistungen nähert (im Sinne der Dienstleistungsgesellschaft als Tätigkeitsgesellschaft).
(S. 79)

Die vom Autor beobachtete Zunahme der Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, könnte auch gedeutet werden als willkommenes Feigenblatt, das für den weiteren Abbau staatlicher Sozialleistungen herhalten muß. Dörners Appell, sich seinem Engagement für eine bessere Gesellschaft anzuschließen, richtet sich an alle Menschen und wird wohl doch denen vorbehalten bleiben, die sich dieses Engagement auch leisten können.

Die genannten Voraussetzungen für eine unbezahlte Helfenskultur, die auf Menschen in ihrem dritten Lebensalter, d.h. in den 15 bis 20 Jahren nach Beendigung ihrer beruflichen Tätigkeit, setzt, in denen sie sich noch guter Gesundheit und Leistungsfähigkeit erfreuen und ihnen genügend Zeit sowie Geld bzw. Rente für ihr Auskommen zur Verfügung stehen, lassen sich mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen kaum in Deckung bringen. Denn ein großer und anwachsender Teil der Bevölkerung ist sozial nicht so gut abgesichert und hat auch im dritten Lebensalter noch mit existenziellen Sorgen zu kämpfen, die wenig Kraft und Raum für Nachbarschaftshilfe übrig lassen.

Das Engagement des Autors, der seine unbeirrbare Streitbarkeit für die Durchsetzung seiner Vision einer umfassenden Inklusion, also eines gleichberechtigten und unbehinderten Zusammengehörens aller Menschen - auch der alten - in die Waagschale wirft, ist bemerkenswert. Am Ende seines Buchs stellt er eine Kernfrage, die er der Diskussion seiner Leser anheim stellt:

Und ist es schließlich nicht sogar so, dass das Grundgesetz uns zu einem solchen oder einem ähnlichen Schritt zwingt, damit wir - jetzt auch noch im Verein mit der Behindertenrechtskonvention - endlich die Ungleichbehandlungs-Perversion zumindest der letzten 150 Jahre beenden, die radikale Gleichheit von Menschen mit und ohne Behinderung realisieren und uns dadurch erst verfassungskonform machen?
(S. 246)

Das Buch ist sicherlich keine leichte, aber dennoch eine äußerst spannende Lektüre. Wer sich mit dem brisanten Thema der mangelnden und prekären Altersversorgung in unserer heutigen Gesellschaft allgemein oder im ureigensten Interesse beschäftigt, für den erweist es sich als wahre Fundgrube an Anregungen, Adressen und Sekundärliteratur. Akribisch hat der Autor seine Ausführungen mit Fußnoten und Quellenangaben versehen, die es dem Leser vor allem an Stellen, an denen die Ausführungen und Schlußfolgerungen des Autors etwas kurz gefaßt sind, ermöglichen, die Hintergründe der von ihm angestellten Überlegungen zu erkunden. Und die Mühe lohnt sich, denn zum einen hilft sie dabei, der Recherche des Autors tatsächlich zu folgen, und zum anderen wird der interessierte Leser dabei mit Sicherheit auf so manchen lohnenden Exkurs stoßen, der das spannende Thema auf höchst anregende Weise noch vertieft.


Fußnote:

[1] Vortrag "Was meint Inklusion? Zwischen Idee und Realitäten" von Prof. Dr. Theo Klauß am 11. Mai 2009 in Bergisch Gladbach

8. November 2013


Klaus Dörner
Helfensbedürftig
Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert
Paranus Verlag, Neumünster, 2. Auflage 2012
Edition Jakob van Hoddis
248 Seiten, Preis 19,95 EUR
ISBN 978-3-940636-18-8