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REZENSION/616: Gian Gentile - Wrong Turn (Militärstrategie) (SB)


Gian Gentile


Wrong Turn

America's Deadly Embrace of Counterinsurgency



In den Kreisen jener neokonservativen Militaristen, die seit Jahren in der Außen- und Sicherheitspolitik der USA den Ton angeben, hat Barack Obama mit seinen Entscheidungen, Anfang September doch keine Raketenangriffe gegen die syrischen Streitkräfte durchführen zu lassen und sich statt dessen mit Damaskus' Verzicht auf sein komplettes Chemiewaffenarsenal zufriedenzugeben sowie sich Ende November auf eine diplomatische Beilegung des "Atomstreits" mit dem Iran einzulassen, Entsetzen ausgelöst. Die Verfechter eines "langen Krieges" mit dem "militanten Islam" müssen nun befürchten, daß ihr sehnlichster Traum von einem gewaltsamen Sturz des "Mullah-Regimes" im Iran, wozu der Konflikt in Syrien lediglich als Zwischenetappe dienen sollte, niemals in Erfüllung gehen wird. Entsprechend heftig sind die Klagen und Forderungen derjenigen in den Medien und den Denkfabriken der USA, die behaupten, Obama habe als Oberbefehlshaber der Streitkräfte versagt und sich vor der Herausforderung gedrückt, zwischen Mittelmeer und Persischem Golf für eine Hegemonie Amerikas zu sorgen, und er müsse sobald wie möglich vom Kongreß wieder auf den richtigen Kurs gebracht werden.

Die Aggressivität besagter Kräfte drückt sich nicht nur in ihrer unversöhnlichen Haltung den Iranern gegenüber aus, denen sie den Sturz des Schahs und die Geiselnahme der US-Botschaftsangehörigen im Jahr 1979 nicht verzeihen wollen, sondern auch an ihrem unbedingten Festhalten an der Dolchstoßlegende in bezug auf den Vietnamkrieg. Demnach hätten die sich aufopfernden Soldaten Amerikas im Indochina der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts den Sieg davongetragen, hätten nicht egoistische bzw. weltfremde Vertreter der großstädtischen US-Mittelschicht das Weiße Haus und den Kongreß zu einem Truppenabzug gedrängt. Hinter der rührseligen Moralgeschichte steckt auch der Mythos von einer erfolgreichen Aufstandsbekämpfung, die das Pentagon in Südvietnam in Anlehnung an das Vorgehen der Briten in den fünfziger Jahren auf der malaysischen Halbinsel wirkungsvoll anwandte. Mit der gleichen Vorgehensweise will man 2007 auch die drohende Niederlage im Irak noch abgewendet haben.

Als Barack Obama im Januar 2009 das Amt des US-Präsidenten antrat, war es mit dem Versprechen, so rasch wie möglich die amerikanischen Streitkräfte aus dem Irak abzuziehen, vorbei. Dafür wollte der junge, ehemalige Senator aus Illinois, der selbst über keinerlei militärische Erfahrungen verfügt, den eskalierenden Krieg gegen die Taliban in Afghanistan in den Griff bekommen. Während Vizepräsident Joseph Biden für eine drastische Reduzierung der in Afghanistan stationierten Soldaten und eine Fokussierung auf die Bekämpfung von Al Kaida mittels Spezialstreitkräfte und CIA-Drohnenangriffe plädierte, beharrte der Militärapparat, angeführt von Verteidigungsminister Robert Gates, Generalstabschef Admiral Michael Mullen, CENTCOM-Oberbefehlshaber General David Petraeus und ISAF-Chef General Stanley McChrystal, auf eine Truppenaufstockung um mehrere zehntausend Mann.

Als ehemalige Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Irak respektive der US-Spezialstreitkräfte dort wurden damals Petraeus und McChrystal in den amerikanischen Mainstreammedien - New York Times, Washington Post, CNN et cetera - als Kriegshelden gefeiert, die 2007 mit ihrer Aufstandsbekämpfungstrategie, die sogenannte "Surge", für eine weitgehende Befriedung des Zweistromlandes gesorgt hatten. In Afghanistan ist es den beiden Generälen jedoch nicht gelungen, die Taliban in die Knie zu zwingen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Truppenaufstockung hat die Taliban zu noch größeren Anstrengungen angestachelt und für eine Verschärfung des Konflikts gesorgt. Auf ihrem Gipfeltreffen im November 2010 haben die Staats- und Regierungschefs der NATO deshalb die Reißleine gezogen und einen Abzug ihrer Kampftruppen aus Afghanistan bis Ende 2014 beschlossen.

Oberst Gian Gentile führt innerhalb des amerikanischen Militärestablishments die Gruppe an, die dem Dauerkriegseinsatz der US-Streitkräfte ablehnend gegenübersteht. Der Professor für Geschichte an der renommierten Militärakademie West Point hat sich bereits 2000 mit seinem ersten Buch, in dem er die Effektivität der strategischen Bombenangriffe der alliierten Luftwaffen im Zweiten Weltkrieg kritisch hinterfragte und zu dem Ergebnis gelangte, daß der militärische Nutzen der großflächigen Zerstörung der deutschen und japanischen Bevölkerungszentren recht gering gewesen sei, große Anerkennung in Fachkreisen verdient. Gentiles zweites Buch "Wrong Turn - America's Deadly Embrace of Counter-Insurgency", das im Sommer 2013 erschien, ist zum Politikum geworden, denn darin startete der Autor einen Frontalangriff auf die noch herrschende US-Aufstandsbekämpfungsdoktrin. Damit hat sich Gentile quasi als "Isolationist" zu erkennen gegeben. Mit dieser Bezeichnung diffamieren seit Ende des Ersten Weltkrieges die Befürworter amerikanischer Militärinterventionen im Ausland ihre politischen Gegner.

Gentile kann selbst auf zwei Einsätze im Irak - als leitender Offizier einer Kampfbrigade 2003 in Tikrit, der Heimatstadt von Saddam Hussein und Hochburg von dessen Anhängern, und 2006 als Geschwaderkommandeur im Westen Bagdads - zurückblicken. Überzeugend weist er nach, daß der Rückgang der Gewalt im Irak 2007 nicht auf die Aufstandsbekämpfungsstrategie von Petraeus, damals der neue US-Oberkommandierende im Zweistromland, sondern auf drei wesentlichere Faktoren zurückzuführen ist. Erstens hatten die sunnitischen Milizen in der Mitte des Irak genug von den Greueltaten der Al Kaida und haben sich gegen Bezahlung und Anerkennung mit den US-Streitkräften gegen die religiösen Fanatiker verbündet. Zweitens haben sich die schiitischen Milizen, vor allem die Mahdi-Armee um Muktada Al Sadr, für ein Ende ihres bewaffneten Kampfes und die Teilnahme am politischen Prozeß entschieden. Drittens hatte die sektiererische Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten bereits 2005/2006 ihren Zenit überschritten; 2007 waren die meisten Wohnviertel in Bagdad und anderswo nicht mehr gemischt und die ethnisch-religiösen Säuberungen weitestgehend vollzogen worden.

Gentile beläßt es nicht bei einer vernichtenden Kritik an der gängigen Lehre vom Erfolg der "Surge", sondern analysiert akribisch, wie die irreführende Erklärung für die Niederwerfung der chinesischen Maoisten in Malaya durch die britische Kolonialarmee in den fünfziger Jahren entstanden ist, in den sechziger Jahren von Teilen der US-Generalität für die Situation in Südvietnam adaptiert wurde und in der Folge zur Weisheit letzten Schlusses des Pentagon in Sachen Aufstandsbekämpfung geworden ist. Die von Gentile beklagte Fehldeutung der kriegsentscheidenden Faktoren in Malaya, in Vietnam sowie in Afghanistan und Irak ist aus Gründen der politischen Opportunität erfolgt. Dank ihres institutionellen und personellen Einflusses - siehe die Karrieren von Dick Cheney und Donald Rumsfeld - haben die Neokonservativen die Niederlage in Vietnam nachträglich zum Sieg erklärt und in ihrer Selbstverblendung den USA verlustreiche Kriege in Afghanistan und im Irak beschert, die dem Ansehen der Vereinigten Staaten schwer geschadet und ihre militärische und wirtschaftliche Macht ausgezehrt haben.

Im Klappentext wird Gentiles Buch unter anderem von dem israelischen Kriegstheoretiker Martin van Creveld und dem US-Militärhistoriker Andrew Bacevich ob seiner Nüchternheit und Klarheit überschwenglich gelobt. Bacevich, ein Oberst a. D. der US-Armee, der heute Geschichte und internationale Politik an der Universität von Boston lehrt und 2007 einen Sohn im Irak verloren hat, bezeichnet "Wrong Turn" als ein "wichtiges Buch, das die Kriegstreiber und Militaristen in Washington in Rage versetzen dürfte" (Übersetzung der SB-Redaktion). Die von Bacevich konstatierte Wichtigkeit der vorliegenden Lektüre leitet sich aus der Tatsache ab, daß es Gentile auf nur 188 Seiten gelungen ist, die Ideologie der Neokonservativen von der Aufstandsbekämpfung als Mittel der Wahl für einen Krieg der Zukunft zwischen Arm und Reich in einer Welt versiegender Ressourcen als völlig an den Haaren herbeigezogen zu entlarven. Sein erklärtes Ziel, "einen Pfahl durch das Herz der Vorstellung, daß die Aufstandsbekämpfung in der Vergangenheit funktioniert hat und deshalb in Zukunft, welche Form auch immer sie annimmt, funktionieren wird, zu rammen" (S. 8 - Übersetzung der SB-Redaktion), ist Gian Gentile mit "Wrong Turn" absolut gelungen.

3. Dezember 2013


Gian Gentile
Wrong Turn - America's Deadly Embrace of Counter-Insurgency
The New Press, New York & London, 2013
188 Seiten
ISBN: 978-1-59558-874-6