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REZENSION/641: Tyma Kraitt (Hg.) - Irak - Ein Staat zerfällt (SB)


Tyma Kraitt (Hg.)


Irak - Ein Staat zerfällt

Hintergründe, Analysen, Berichte



Als der Generalsekretär der Arabischen Liga und frühere ägyptische Außenminister Amr Moussa im September 2002 eindringlich vor dem drohenden angloamerikanischen Einmarsch in den Irak warnte, weil ein solcher Schritt im Nahen Osten "das Tor zur Hölle" aufstoßen würde, wurden seine Kassandrarufe von George W. Bush und Tony Blair einfach ignoriert. Zu jenem Zeitpunkt, mehr als ein halbes Jahr vor der eigentlichen Invasion, hatten sich die Regierungen der USA und Großbritanniens entgegen anderslautender Zusicherungen längst auf einen gewaltsamen "Regimewechsel" in Bagdad verständigt, um das Problem Saddam Hussein loszuwerden und eine "Transformation" des Nahen Ostens einzuleiten. Beides ist ihnen vollends gelungen. Der Irak, einst fortschrittlichster Staat der arabischen Welt, liegt am Boden, während der dort gelegte Brand Syrien in einen verheerenden Bürgerkrieg gestürzt hat. Und jene "terroristischen" Kräfte, die Bush und Blair durch den Irak-Einmarsch angeblich eliminieren wollten, machen in unzähligen Variationen wie Al Kaida, Ansar Al Scharia, Al Nusra, Boko Haram und Islamischer Staat (IS) eine gigantische Region, von Nigeria im Westen bis Pakistan im Osten, von Tschetschenien im Norden bis Kenia im Süden, unsicher.

In den westlichen Industriestaaten sorgt insbesondere das Aufkommen des IS für Entsetzen. Die Anhänger des fundamentalistischen Kalifats in Ostsyrien/Nordwestirak stellen seit Sommer 2014 nicht nur die Staatsgrenzen des Nahen Ostens nach Sykes/Picot, sondern auch die allgemeingültigen Rechtsnormen durch die massenhafte Tötung von Schiiten, Kurden, Christen, Säkularen, Kriegsgefangenen, mutmaßlichen Ehebrechern und Homosexuellen sowie durch die Versklavung nicht-sunnitischer Frauen und Mädchen in Frage. IS-Kämpfer haben am 11. April südlich von Mossul die Überreste der assyrischen Stadt Nimrud aus dem 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in die Luft gejagt - sie hätten ihre Ablehnung des westlichen Bildungs- und Fortschrittsglaubens kaum besser zum Ausdruck bringen können als durch eine solche demonstrative Zerstörung einiger der wichtigsten archäologischen Ausgrabungsstätten der Welt. Ungeachtet ihrer zur Schau gestellten Brutalität verzeichnen die IS-Dschihadisten nicht nur in der muslimischen Welt, sondern auch in Europa und Nordamerika einen regen Zulauf von Jugendlichen. Tausende Freiwillige beiderlei Geschlechts, die meisten von ihnen mit Migrationshintergrund, aus der EU, den USA und Kanada sind über die Türkei nach Syrien und Irak gereist, um den neuen Gottesstaat im Kampf gegen die Ungläubigen zu unterstützen und gegebenenfalls dafür ihr Leben zu geben.

Das Phänomen IS wirft viele Fragen auf, die zu beantworten westlichen Politikern, "Terrorexperten" und Kommentatoren allergrößte Probleme bereitet, weshalb sie sich am liebsten in abstruse Theorien einer "Radikalisierung" flüchten. Wer die aktuellen Erschütterungen im Nahen und Mittleren Osten besser begreifen will, der findet im Buch "Irak - Ein Staat zerfällt" vom Wiener Verlag Promedia wertvolle Hilfe dazu. Auf nur 221 Seiten, in zehn Aufsätzen gegliedert, machen die Herausgeberin Tyma Kraitt und die von ihr ausgesuchten neun Autoren die hochkomplizierte geschichtliche, politische, ethnisch-religiöse und wirtschaftliche Gemengelage im Zweistromland und der Nachbarregion für jedermann verständlich. Ungeachtet gelegentlicher Überschneidungen sind die Kapitel formal und inhaltlich voneinander getrennt, so daß jedes für sich Einblicke in einen ganz bestimmten Themenkomplex gewährt. Zusammen stellen sie eine gleichermaßen lesenswerte wie anregende Tour d'Horizon dar.

Unter dem Titel "Ein Land in Fragmenten" befaßt sich die Journalistin und Arabistin Liselotte Abid zum Auftakt mit den Ethnien, Kulturen und Religionen im Irak und zeichnet die Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen Sunniten und Schiiten im allgemeinen und im Irak nach Ende des Ersten Weltkrieges im besonderen nach. Interessant ist hier zum Beispiel der Hinweis, daß die Schiiten im Irak auf Anweisung der eigenen Geistlichkeit die Einladung der Sunniten, der 1951 gegründeten Moslembruderschaft beizutreten, ausschlugen und statt dessen sieben Jahre danach die eigene Da'wa-Partei ins Leben riefen. (Deren späterer Chef Nuri Al Maliki hat als irakischer Premierminister von 2006 bis 2014 die konfessionellen Gräben aus der Ära Saddam Husseins fast unüberwindlich vertieft.)

Aus dem Kapitel "Von der Entstehung und Zerstörung des Iraks im Namen des Erdöls" der Nahost-Expertin Karin Kneissls erfährt man unter anderem, daß die zum Teil über Hunderte Kilometer geradlinig verlaufenden Grenzen des Iraks, Syriens und Jordaniens zwar nach dem Ersten Weltkrieg auf die Landkarte eingetragen wurden, aber sich eigentlich am Verlauf der von Paris und London vor der Gründung jener Staaten geplanten Öltrassen zwischen Mesopotamien und der levantinischen Küste orientierten. Während des Zweiten Weltkrieges versorgte die zwischen Mossul und Haifa verlaufende Pipeline die amerikanischen und britischen Streitkräfte im Mittelmeerraum mit Öl. Kneissl rechnet mit der Möglichkeit eines raschen Sturzes der "autokratischen Regierungen in den Petromonarchien von Saudi-Arabien bis Bahrain und den Emiraten" - eine Entwicklung, welche die aktuelle Militärintervention der arabischen Golftstaaten in den Bürgerkrieg im Jemen eher befördern als aufhalten dürfte.

Unter der Überschrift "Zum Scheitern verurteilt - Irak zwischen Fremdherrschaft und Diktatur" geht die in Bagdad geborene und in Österreich aufgewachsene Politikredakteurin Tyma Kraitt dem bewegten Verlauf der irakischen Innenpolitik von der Herauslösung aus dem Osmanischen Reich 1920, der Ausrufung des haschemitischen Königreichs 1932, der Gründung der Republik 1958, der Machtübernahme durch die Baath-Partei um Saddam Hussein bis zu dessen Sturz 2003 und den seitdem anhaltenden, blutigen Wirren nach. Nüchtern wirft Kraitt am Ende ihres Aufsatzes die berechtigte Frage nach der Überlebensfähigkeit des irakischen Nationalstaates auf.

Hans-Christof von Sponeck berichtet über seine Zeit als Leiter des Programms der Vereinten Nationen "Öl für Lebensmittel", mittels dessen der Irak von 1995 bis 2003 in die Lage versetzt werden sollte, trotz Wirtschaftssanktionen die Grundversorgung seiner Bevölkerung zu gewährleisten. Von Sponeck erhebt schwerste Vorwürfe gegen London und Washington. Aus seiner Sicht sollte das Programm niemals funktionieren, weil man mittels Sanktionen auf jeden Fall einen "Regimewechsel" in Bagdad herbeiführen wollte. Briten und Amerikaner hätten nach seiner Überzeugung zwischen 1990, dem Jahr des irakischen Einmarsches in Kuwait, des eigentlichen Auslösers der UN-Sanktionen, und 2003 eine massive Desinformationskampagne betrieben, um eine angeblich vom Irak ausgehende Bedrohung - Stichwort "Massenvernichtungswaffen" - aufzubauschen und die desaströse humanitäre Lage im Zweistromland herunterzuspielen.

In einem Beitrag zum Thema "Neoliberaler Kolonialismus" nimmt Joachim Guillard den "Irak unter US-Besatzung" unter die Lupe. Der Friedensaktivist und Autor führt zahlreiche Beweise wie den fehlenden Schutz für sämtliche Behörden - mit Ausnahme des Ölministeriums natürlich - in Bagdad nach dessen Einnahme im April 2003 durch die US-Truppen sowie die Entlassung sämtlicher Baath-Parteimitglieder aus öffentlichem Dienst und Armee auf Anweisung des Besatzungschefs Paul Bremer für die These auf, daß die Aushöhlung des irakischen Nationalstaates gewollt und keine unabsehbare Folge fehlender Kriegsplanung gewesen ist. Statt eines Wiederaufbaus kam es zur Ausplünderung. Innerhalb von fünf Jahren haben 90 Prozent und damit 36.000 der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die das Rückgrat der irakischen Volksökonomie bildeten, Konkurs angemeldet, während unter dem Besatzungsregime westliche Firmen Wiederaufbaugelder in Milliardenhöhe einstrichen, ohne dafür eine nennenswerte Leistung zu erbringen. Guillard läßt auch die berüchtigte "Salvador Option" nicht unerwähnt, mittels derer die bedrängten US-Streitkräfte im Irak zur eigenen Entlastung ab 2005 den Bürgerkrieg zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen provozierten. Für das Aufkommen des IS macht er Premierminister Maliki mitverantwortlich, der ab 2011 mit äußerster Brutalität auf die in den sunnitischen Provinzen entstandene Bewegung für politische Reformen reagiert hatte.

Unter dem aufrüttelnden Titel "Frauen im Abseits" zeichnet die in Kirkuk geborene und in Österreich aufgewachsene Anthropologin Myassa Kraitt ein erschreckendes Bild der rechtlichen und sozialen Lage der weiblichen Bevölkerung im heutigen Irak. Durch den "Einzug religiöser Kräfte" in das neue Parlament in Bagdad seien die "Frauenrechte zurückgedrängt" und die Fortschritte der Baath-Ära, als die Frauen im Irak den höchsten Anteil am Berufsleben in der arabischen Welt hatten, "beseitigt" worden. Im Irak seien Frauen und Mädchen zu "Gefängnisinsassen im eigenen Heim" geworden; konservative schiitische Politiker seien dabei, das bisherige Personenstandsrecht durch die Scharia zu ersetzen, so Kraitt.

Der Historiker Nikolaus Brauns, der seit Jahren für die Zeitung junge Welt ausführlich über die Türkei und Kurdistan schreibt, stellt in seinem Aufsatz die Frage, ob die irakischen Kurden auf dem Weg "vom Bürgerkrieg über die Autonomie zur Unabhängigkeit" sind. Er geht auf das Patronagesystem in der kurdischen Autonomieregion ein, erläutert Hintergrund und Entwicklung des Ölstreits zwischen Erbil und Bagdad und analysiert den Stand des laufenden Konflikts zwischen Peschmerga und PKK auf der einen und dem IS auf der anderen Seite. Brauns unterstellt der Führung der kurdischen Autonomieregierung, die Jeziden im letzten Jahr absichtlich im Stich gelassen und bewußt ein derangiertes militärisches Bild abgegeben zu haben, um vom Westen für den Kampf gegen den IS aufgerüstet zu werden, was wiederum dem Streben nach einem eigenen Staat zugutekomme.

Für den von Brauns geäußerten Verdacht, daß Ankara der Entwicklung eines irakischen Kurdistans zu einem "türkischen Protektorat" wohlwollend gegenübersteht, steuert der Kulturwissenschaftler und Radiojournalist Ali-Cem Deniz in seinem Aufsatz "Die Achse Ankara-Erbil-Bagdad - Beziehungsstatus kompliziert" wertvolle Indizien bei. Seit 2003 kommt es zwischen der Türkei und dem kurdischen Teil des Iraks zu einem regen Handel. Im irakischen Norden sind türkische Unternehmen mit Abstand die größten Investoren. Laut Deniz baut die neo-osmanische AKP-Regierung Recep Tayyip Erdogans über den kurdischen Teil des Iraks den türkischen Einfluß in der Region aus. Denis spricht von der "neuen Flexibilität" der Türkei, zu der offenbar die ruinöse Destabilisierung des Nachbarlandes Syrien durch die Unterstützung "terroristischer" Gruppen à la IS gehört.

Traurig und deprimierend ist das, was Reza Nourbakhch-Sabet unter der Überschrift "Wasser, Krieg und Ökozid im südlichen Mesopotamien" schildert. Der aus dem Iran stammende Ökologe und Journalist bezeugt den Untergang der Marsch-Araber und ihrer einzigartigen Kultur. Um ihr Siedlungsgebiet um den Schatt Al Arab am Zusammenfluß von Euphrat und Tigris wurde im Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988 erbittert gekämpft. Auf beiden Seiten fielen Hunderttausende Soldaten unter anderem infolge von Giftgaseinsätzen. Nach dem Ende des Golfkrieges 1991 nahmen die Marsch-Araber am gescheiterten schiitischen Aufstand gegen Saddam Hussein teil, der zur Vergeltung den einstigen "Garten Eden" trockenlegte und damit nahezu gänzlich zerstörte. Seitdem haben sich dort Landschaft und Leben nicht erholt. Der sich infolge des Klimawandels verschärfende Konflikt um Wasser läßt für die Zukunft des Iraks und der Region nichts Gutes erwarten.

Dem Islam-Experten und Friedensforscher Werner Ruf fällt zum Schluß die Aufgabe zu, die geopolitische Dimension der jüngeren Entwicklung des Iraks zu deuten. Unter dem Titel "Blutige Grenzen: Wie Öl, Gas und Geostrategie die Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens verändern" hebt er die Pläne der US-Neokonservativen in den USA, den ressourcenreichen arabischen Raum politisch und wirtschaftlich neu zu ordnen, hervor. Jene Konzeptionen von Leuten wie Paul Wolfowitz und Richard Perle lagen bereits in den neunziger Jahren vor; es bedurfte lediglich des "katalysierenden Moments" 9/11, um sie umzusetzen. Ruf kritisiert die Instrumentalisierung des Islams durch die verschiedenen Akteure in den Krisenherden des Nahen Ostens und bezeichnet die Politik Washingtons für die Region als weder "monolithisch" noch "kohärent". Mit dem Aufkommen von IS läutet "das Chaos eine neue Phase" ein, so Ruf.

Dieses Chaos, das seit 2003 mehr als einer Million Irakern das Leben gekostet hat und in dem die Kopfabhacker vom IS offenbar bestens gedeihen, haben vor allem die USA und Großbritannien zu verantworten. Wie Chefankläger Robert H. Jackson beim Nürnberger Prozeß feststellte: "Einen Angriffskrieg zu beginnen ist daher nicht nur ein internationales Verbrechen, es ist das schwerste internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, daß es in sich das gesamte Übel des Ganzen enthält." Wollte man der menschenverachtenden Brutalität des IS und ähnlicher Gruppen Einhalt gebieten und sie ihrer Attraktivität berauben, müßte man mit gutem Beispiel vorangehen und George W. Bush, Tony Blair, Dick Cheney, Donald Rumsfeld u.a. wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen anklagen. Ohne einen solchen Schritt greift jede Verurteilung der Greueltaten derjenigen Kämpfer, deren Lebensumfeld jene Ruinenlandschaften sind, die der Westen mit seinen High-Tech-Waffen und seiner Shock-and-Awe-Kriegsstrategie erst geschaffen hat, zu kurz und lenkt den Blick von den eigentlichen Hauptverursachern des ganzen Leids im Nahen Osten ab.

Tyma Kraitt (Hg.)
Irak - Ein Staat zerfällt
Hintergründe, Analysen, Berichte
ProMedia Verlag, Wien, 2015
221 Seiten
ISBN: 978-3-85371-385-3


17. April 2015


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