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REZENSION/652: Garri Kasparow - Warum wir Putin stoppen müssen (SB)


Garri Kasparow


Warum wir Putin stoppen müssen

Die Zerstörung der Demokratie in Russland und die Folgen für den Westen



Um einem Mißverständnis von vornherein vorzubeugen: Wenn Garri Kasparow, der von 1985 bis 2000 Schachweltmeister war und sich seit 2005 im Ruf eines Oppositionsaktivisten in Rußland engagiert, in seinem Buch "Warum wir Putin stoppen müssen" Gründe und Zusammenhänge für die Zerstörung der Demokratie in Rußland aufzeichnet, gilt sein erklärtes Ziel nur vordergründig der Kritik an menschenunwürdigen Lebens- und Eigentumsverhältnissen. Indem Kasparow den russischen Staatspräsidenten mit den bizarren Pinselstrichen eines Surrealisten zur Kultfigur des Bösen erhebt, der sich angeblich einen Mafia-Staat schuf, um das eigene Land auszuplündern und mit der Rückkehr zum Kalten Krieg erneut das Gespenst der nuklearen Vernichtung wiederbelebt habe, schafft er vielmehr das Ensemble für die Legitimierung einer militärstrategischen Umzingelung Rußlands - dem Kernstück neokonservativer US-Politik. Kasparows durch Eindimensionalität getrübte Darstellung weltpolitischer Entwicklungen erinnert nicht zufällig fatal an jenen burschikosen, von jedem Geschichtsbewußtsein entleerten Antikommunismus, der die Systemkonkurrenz nach 1945 begründet und die Welt für viele Jahrzehnte an den Rand eines atomaren Overkills geführt hatte.

Schon die Behauptung, in der kurzen, ebenso widersprüchlichen wie machtorientierten postsowjetischen Ära unter Boris Jelzin hätten sich aus schattenhaften Anfängen zum Licht der Freiheit drängende demokratische Strukturen und Bewegungen entwickelt, die in den Folgejahren von Putin systematisch und repressiv aufgerieben worden seien, ist ein Affront gegen die Zeitgeschichte. Dies insbesondere, weil die zweifelsohne mit Putins Amtsantritt aufbrechenden Kämpfe zwischen dem Staatsapparat und der unter Jelzin aus der Konkursmasse des untergegangenen Sowjetreichs sich zu Milliardären bereicherten Oligarchenkaste nicht einmal als Randnotiz Erwähnung finden. Ausgeklammert wird nicht minder, daß der neoliberale Ausverkauf von Staats- und Volkseigentum an international agierende Konzerne, die ihre Chance witterten, analog zu den ehemaligen RGW-Staaten in Rußland Absatzmärkte und lukrative Investitionsanlagen zu generieren und damit die Mehrheit der russischen Bevölkerung in Armut und Abhängigkeit von elementaren Ausmaßen zu stürzen, erst mit Putin ein Ende fand.

Daß Putin die Notbremse der staatlichen Regulierung zog und den Einfluß der Oligarchen auf die Politik des Landes einschränkte, ohne allerdings ihre Geschäfte wesentlich zu stören, folgte durchaus Motiven der Vernunft, wie sie in jedem Land der Welt auf der Agenda stehen, wenn der Staatsbankrott und ein von außen verfügtes Elendsregime wie in Griechenland drohen. Daß viele zuvor sowjetische Teilrepubliken mit offenen Armen in die europäische Wirtschaftszone aufgenommen wurden, um sie, wie Kasparow nicht müde wird zu behaupten, an den Segnungen der zivilisierten Welt teilhaben zu lassen, könnte als Komödie verstanden werden, wenn nicht so viel auf dem Spiel stände. So trat die NATO-Osterweiterung mit dem Ziel, das innenpolitisch und ökonomisch geschwächte Rußland von seinen Einflußsphären abzukoppeln und mit vorgeschobenen Militärbasen die Option eines atomaren Erstschlags zu einem kalkulierbaren Risiko aufzuwerten, eine Dynamik von bis heute unabsehbarer Folgewirkung los.

Der Raketenabwehrschirm in Georgien hatte faktisch an den Staatsgrenzen Rußlands die Kulisse des Kalten Krieges wieder aufgerichtet und entsprechende Gegenmaßnahmen seitens Moskaus geradezu provoziert. Für Kasparow sind diese geostrategischen Schachzüge der USA jedoch keines kritischen Gedankens wert. Als in der Folge schließlich noch die Ukraine ins Konzept der EU-Nachbarschaftspolitik eingebunden und als potentieller NATO-Staat installiert werden sollte, schrillten im Kreml die Alarmglocken, waren russische Souveränitätsinteressen doch akut in Frage gestellt. Der Ukraine-Konflikt gestaltet sich daher wesentlich komplexer, als es Kasparow mit dem sogenannten russischen Überfall auf die Ukraine in ein Schwarz-Weiß-Muster strickt. Die angebliche Annexion der Krim, die blutigen Ausschreitungen auf dem Euro-Maidan und der Bürgerkrieg zwischen der Kiewer Regierung und den Separatisten in der Ostukraine müssen als sichtbare Zeichen eines im Ost-West-Konflikt neu entfesselten Machtkampfs um politische Einflußsphären, Ressourcen und Handelswege gesehen werden.

Über geostrategische Ziele europäischer und US-amerikanischer Außenpolitik in der Kaukasusregion und am Hindukusch hüllt sich das Buch jedoch in Schweigen. Statt dessen beschwört Kasparow die Fata Morgana eines niedergeschlagenen Russischen Frühlings herauf, um Putin eine prinzipielle Demokratiefeindlichkeit zu unterstellen, den Urnengang der Bevölkerung als Farce abzutun und letzten Endes das bürokratische System Rußlands zu einem Steigbügel für Putins Politkarriere zu diskreditieren. Mehr noch fabuliert Kasparow eine Blauäugigkeit westlicher Politiker und Staatschefs, die Putin im Sinne der Appeasementpolitik Neville Chamberlains und Edouard Daladiers solange gewähren ließen, bis dieser die Zügel seiner Autokratenherrschaft fest in Händen hielt und analog zu Adolf Hitler zu einer realen Gefahr für den Frieden in der Welt aufstieg. Ist es schon schwerer Tobak, Putins politisches System als "Schurkenstaat-Betriebsgesellschaft mBH" (S.182) auszuweisen, so nimmt es bereits die Züge notorischen Besserwissertums an, wenn Kasparow die geostrategische Planung der USA maßgeblich beeinflussenden Rußlandexperten wie Condoleezza Rice oder Henry Kissinger mangelnde Weitsicht attestiert, da sie - bei welchen bedeutsamen Auftritten auch immer, wo Kasparow wohl kaum mehr als die Rolle eines Zaungastes zugewiesen wurde - nicht auf seine warnende Stimme und Expertise gehört hätten.

In dem Maße, wie Kasparow politische Hardliner wie Winston Churchill oder Ronald Reagan zahlreich im Buch zitiert, aber gleichzeitig nahezu allen früheren wie aktuellen Staatsoberhäuptern mit Blick auf Putins Ambitionen einen blinden Fleck zuschreibt, scheint für ihn nur eine neokonservative Weltmachtpolitik demokratische Glaubwürdigkeit zu besitzen und geeignet zu sein, "dem Putinismus so rasch wie möglich ein Ende" (S.236) zu bereiten. Dabei gehört es zum politischen Grundvokabular, daß sich eine Gesellschaft stets im Spannungsfeld zwischen inneren Konflikten und Kämpfen entlang materieller, kultureller oder religiöser Widerspruchslinien durch die Historie bewegt. Das gilt nicht minder für das politische System moderner Demokratien und ihrer legalistischen Prinzipien. In diesem Sinne kann sich eine Gesellschaft in letzter Konsequenz immer nur von innen heraus emanzipieren und von ihren Widersprüchen befreien. Stagniert dieser Prozeß oder wird von fortschrittsfeindlichen Kräften dominiert, kann eine gesellschaftliche Formation derart Schaden nehmen, daß sie kollabiert und entweder aus der Geschichte verschwindet oder in eine Verlaufsform tritt, in der die institutionellen Rahmenbedingungen hinsichtlich der jede Gesellschaft definierenden Produktions- und Eigentumsverhältnisse neu geregelt werden. Grob vereinfacht ist dies beim Zerfall der Sowjetunion und den anschließenden politischen Machtkämpfen zwischen der Nomenklatura, westlich orientierten Reformern sowie dem Militär- und geheimdienstlichen Apparat geschehen.

Kasparows von der Überlegenheit des Westens inspirierter Missionsdrang, Putins Politik innerhalb des komplexen Systems russischer Institutionen als autokratisch und machtbesessen zu verwerfen, ihr gar die "dunklen Wesenszüge einer faschistischen Diktatur" (S.201) anzudichten, zeigt sich vor allem in seiner Blindheit gegenüber internationalen Machtverschiebungen einerseits und die quer durch die russische Gesellschaft laufenden Risse und Verwerfungen andererseits. Im Gegensatz zu Jelzin, den Kasparow allen Ernstes als "Gründungsvater der russischen Unabhängigkeit und Demokratie" (S.259) bezeichnet und dem er bescheinigt, "tatsächlich für die Freiheit" (S.153) gekämpft zu haben, hat Putin als nationalpatriotischer Reformer zumindest die Privatisierung der Staatsmacht, die unter Jelzin die wildesten Blüten trieb, wieder rückgängig gemacht, indem er die Oligarchen politisch einhegte und die Kommunisten symbolpolitisch entwaffnete.

So gesehen besteht Putins politische Leistung darin, die auseinanderstrebenden Fraktionen im Lande auf die Zentralgewalt des Staates eingeschworen und Rußland im imperialistischen Wettstreit mit dem Westen wieder auf Augenhöhe gebracht zu haben. Daß ein Großteil der Russen Putins Politik unterstützt, ist für Kasparow jedoch nur ein weiterer Beleg dafür, daß die russische Seele seit jeher einfältig, auf jeden Fall jedoch käuflich sei. "Als wir also 1991 zuversichtlich in die Wahllokale strömten, um Boris Jelzin unsere Stimmen zu geben, war es ein wenig so, als würden viele Russen erwarten, die Wahlurnen funktionierten wie Bankautomaten: Man steckte seinen Wahlzettel hinein, und es kam Geld heraus!" (S.111)

Politik hat immer auch eine ideologische Kehrseite; wer sich dem US-Hegemon in den Weg stellt, muß ein Schurke sein. So habe Putin laut Kasparow Rußland "in ein Regime verwandelt, das sich unverhohlen faschistischer Propaganda und Taktiken bedient" (S.11). Das Spiel von Ressentiment und Vorurteil ist ebenso beliebig wie die Etikettierung Despot, Diktator oder Schurkenstaat ausschließlich aus dem Blickwinkel westlicher Machtinteressen vergeben wird, um unbotmäßige Systeme im Getriebe der Staatenkonkurrenz politisch zu isolieren und für ihre Insistenz gegenüber den Hegemonialinteressen des Westens abzustrafen. Der ewige Vorwurf, Unrechtsregimes würden keine freie Presse zulassen und die Opposition im Lande unterdrücken und damit demokratische Pluralität und Menschenrechte außer Kraft setzen, konterkariert, daß der Spielraum einer offenen Gesellschaft in jedem Fall durch das Gewaltmonopol des Staates begrenzt wird.

Wie sehr westliche Demokratien, allen voran die USA, selbst gravierende Demokratiedefizite aufweisen, indem sie beispielsweise einer hochentwickelten Überwachungstechnologie Tür und Tor öffnen, zeigt die NSA-Ausspähaktion, mit der Telefonie und Datenkommunikation von Abermillionen Menschen auf Vorrat gespeichert werden. Als Mitarbeiter der nachrichtendienstlichen Behörden mit Informationen über den Verfassungsbruch an die Öffentlichkeit gehen und dazu die Presse einschalten wollten, unterband die US-Regierung durch eine massive Einschüchterung der verantwortlichen Redakteure die Bekanntmachung. Der freien Presse, gemeinhin das Aushängeschild demokratischer Gesellschaften, wurden Klagen über Landes- und Geheimnisverrat angedroht, was dazu führte, daß renommierte Zeitungen wie die New York Times jahrelang über die dubiosen Praktiken der Dienste schwiegen, bis der Whistleblower Edward Snowden in einem mutigen Schritt veröffentlichte, was der Presse seit langem bekannt war. Das Janusgesicht westlicher Demokratien im Umgang mit ihren eigenen Werten ist Kasparow jedoch keine Zeile wert. Statt dessen ist ihm jedes Mittel der Simplifizierung recht, um Putin als Feind der freien Welt an den Pranger zu stellen.

Dieses Ziel vor Augen fährt Kasparow eine Doppelstrategie: "Da ist zum einen die Geschichte eines Landes, das die Befreiung vom Kommunismus feierte, wenige Jahre später jedoch einen KGB-Offizier zu seinem Führer wählte und sich bald darauf daranmachte, seine Nachbarn zu unterwerfen. Die andere Geschichte handelt davon, wie die freie Welt durch eine Kombination von Gleichgültigkeit, Unkenntnis und falsch verstandenem Wohlwollen dazu beitrug, diese Verwandlung möglich zu machen. Wir müssen unbedingt verstehen, was schiefgelaufen ist, denn obwohl Wladimir Putin mittlerweile eine klare und unmittelbare Bedrohung ist, reagieren Europa und die Vereinigten Staaten falsch." (S.11/12) Sein offener Vorwurf an die Regierungschefs der westlichen Demokratien lautet, die Lehren aus dem Sieg im Kalten Krieg nicht gezogen zu haben und sich mit den Gewaltherrschern weiterhin an den Verhandlungstisch zu setzen, "sie sogar mit Geld und Waffen zu versorgen, mit denen sie uns dann angreifen" (S.13). Mehr noch: "Anstatt an einer klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch und an den universellen Werten der Menschenrechte und des menschlichen Lebens festzuhalten" (S.13), versuche der Westen, Diktaturen in die Staatengemeinschaft einzubinden.

Kurzum geht es Kasparow darum, die gewaltigen Ressourcen der freien Welt, "angefangen bei ihren moralischen Werten und ihrem wirtschaftlichen Wohlstand" (S.14), unter der Führung der Vereinigten Staaten einzusetzen, um Putin in die Schranken zu weisen. Mehr oder weniger verklausuliert und doch unter dem Begriffshorizont einer neokonservativen Gesinnung spricht sich Kasparow notfalls auch für eine Kriegsallianz des Westens gegen widerspenstige Regime in aller Welt, namentlich in Rußland, aus. "Ich wollte meine Energie und meine Bekanntheit in den Dienst des Kampfes gegen die zunehmende Repression stellen, die vom Kreml ausging" (S.15).

Europa sei jedoch nicht bereit, "kurzfristig Opfer zu bringen, um die sehr viel größere langfristige Bedrohung einzudämmen, die Putin für die globale Sicherheit und damit auch ihre von der Globalisierung abhängigen Volkswirtschaften darstellt" (S.18), und zwar, weil die modernen autoritären Regime und ihre oligarchischen Helfershelfer sich Konzerne und Luxusimmobilien in New York und London kaufen und dafür Steuern zahlen, "auf die geldgierige westliche Politiker und Unternehmen nur ungern verzichten. Da opfern sie schon lieber die Menschenrechte" (S.19). Denn viel zu verlockend sei für Energieriesen wie Shell und BP der Zugang zu Rußlands immensen Erdöl- und Erdgasvorkommen, als daß sie sich lange mit Bedenken herumtragen würden. "Die Menschenrechtslage in Russland war die geringste Sorge der westlichen Konzerne, die das vom Kreml geförderte Geschäftsmodell von Bestechung und politischer Einflussnahme bereitwillig übernahmen" (S.19). Möglicherweise ist es Kasparow entgangen, daß der kapitalistische Westen auf eine jahrhundertealte Kolonialgeschichte zurückblickt, in der die Infiltrierung und gewaltsame Unterwerfung fremder Gesellschaften den basisinnovativen Antrieb zur Kontrolle der Weltmärkte und des Ressourcen- und Warenverkehrs markiert. Was hätten diese Meister des Fachs vom Kreml noch lernen können?

Daß sich Kasparow 2013 aus der russischen Politik zurückzog und nunmehr aus der Ferne mit dem Federkiel versucht, sein Scheitern vor sich selbst und aller Welt zu rechtfertigen, dokumentiert sich nirgends treffender als in der Aussage: "Unsere Mission wurde auch von demokratischen Politikern im Westen sabotiert, die Putin auf der Weltbühne hofierten und ihm jene Legitimität verliehen, die ihm fehlte, weil er sich in Russland keinen freien Wahlen stellte" (S.20). Wie tief muß die Verzweiflung an ihm nagen, wenn er im Rest des Buches in endloser Litanei die Forderung aufstellt, Rußland zu isolieren und zu verurteilen, dies aber nicht geschehe, weil die jüngere "Generation westlicher Politiker nicht wahrhaben [will], dass es das Böse in dieser Welt gibt und dass man es entschlossen bekämpfen muss, anstatt mit ihm zu verhandeln" (S.24), nur daß "die Demokratien des 21. Jahrhunderts nicht für diesen Kampf gerüstet sind" (S.25).

Die Veröffentlichung des Buchs hätte nicht zeitgemäßer erfolgen können. Die postkolonialen Kriege, die der Westen im Namen der Terrorismusabwehr und zur Verbreitung demokratischer Werte im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien losgetreten hat, schlagen auf Europa zurück. Flüchtlingsströme drängen auf den alten Kontinent, und mit dem IS ist ein gefährlicher Akteur auf der Weltbühne aufgetaucht. Die Anschläge in Paris ebnen, wie es scheint, den Weg zu einer neuen Bündnispolitik. Putins Rußland macht sich unentbehrlich bei der Zerschlagung jenes Haufens von Gotteskriegern, die angeblich den Fortbestand der Zivilisation gefährden. Der Annäherungskurs Moskaus an die politischen Machtzentren Europas stört die Friedensordnung der neokonservativen Eliten, die im Kalten Krieg und Scheitern der Sowjetunion den Garanten für einen Durchbruch des kapitalistischen Weltsystems gesehen hatten, nun aber in Putins Rußland wieder den alten geopolitischen Rivalen fürchten. Und Kasparow pflichtet dem auf seine anachronistische Weise bei: "Aber das Böse stirbt nicht, so wie die Geschichte nicht endet. Wie Gras kann das Böse gemäht, aber nie vollkommen ausgerissen werden. Es schlummert, bis es die Gelegenheit erhält, durch die Risse im Gemäuer unserer Wachsamkeit wieder auszutreiben" (S.28). So mahnt er die Bereitschaft an, "unsere Werte zu verteidigen, als hinge unser Leben davon ab. Denn es hängt davon ab" (S.31), stets auf der Hut zu sein vor Ablenkungsmanövern, Ausreden und von Strohmännern angeführten Argumenten, "die von Diktaturen und Verbrechern auf der einen Seite vorgebracht und von Appeasement-Anhängern und Feiglingen auf der anderen aufgegriffen werden" (S. 32).

Daß Kasparow, wie er sich rühmt, dank seiner Erfahrung als sowjetischer und russischer Bürger in der Lage sei, "Putins Schachzüge und seine Beweggründe zu verstehen" (S. 60) ist die eigentliche Rechtfertigungsformel für die Existenz dieses Buches und die Erklärung dafür, "warum die Geschichten, die man sich in der Sowjetunion über den Überfluss im Westen erzählte, eine so große subversive Wirkung hatten. Es fällt uns sehr viel schwerer, Widrigkeiten stoisch zu ertragen, wenn wir wissen, dass es unseren Nachbarn viel besser geht als uns. Das ist Teil der menschlichen Natur als Grundlage der freien Marktwirtschaft und erklärt, warum der Kommunismus ein so abwegiges und unmenschliches System ist" (S.60). Sein Asyl im gelobten Land, wo Milch und Honig immer nur für die Privilegierten fließen, hat Kasparow zumindest gelehrt, daß es besser ist, das Lied der Herren zu singen, statt sich mit dem auseinanderzusetzen, was Menschen zu beherrschbaren Subjekten macht, die im Konsum die letztgültige Freiheit sehen. Wer jedoch etwas über die aktuellen Konflikte und Herausforderungen in einer Welt der Umbrüche und akuten Bedrohungslagen erfahren möchte, wird in diesem Buch kein Jota Substantielles finden. Es sei denn, er möchte sich mit neokonservativer Weltpropaganda begnügen, in der das Böse schon immer die Chiffre war für die Vernichtung des politischen Gegners.

28. Dezember 2015


Garri Kasparow
Warum wir Putin stoppen müssen
Die Zerstörung der Demokratie in Russland und die Folgen für den Westen
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015
416 Seiten, 22,99 Euro
ISBN: 978-3-421-04727-4


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