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REZENSION/671: Kōsuke Hino - Der Reaktorunfall am Kernkraftwerk Fukushima Daiichi (SB)


Kōsuke Hino


Der Reaktorunfall am Kernkraftwerk Fukushima Daiichi

Die Schattenseiten des Gesundheitsmanagements in Fukushima


Rund eineinhalb Jahre nach Beginn der Fukushima-Katastrophe, bei der zeitgleich in drei Nuklearreaktoren Kernschmelzen eingetreten und große Landflächen radioaktiv kontaminiert worden waren, erreichten die Proteste in der japanischen Gesellschaft gegen diese Form der Energiegewinnung ihren Höhepunkt. 150.000 Menschen hatten sich zur Anti-Akw-Demonstration in Tokio eingefunden. Die Proteste richteten sich nicht allein gegen die Technologie der Atomspaltung und die damit verbundenen unkalkulierbaren Gefahren, sondern auch gegen Tepco, die Betreiberfirma des am 18. März 2011 zunächst von einem Erdbeben und wenige Minuten darauf von einem 15 Meter hohen Tsunami weitreichend zerstörten Akw Fukushima Daiichi. Das Krisenmanagement von Tepco erwies sich als desaströs, und das war nicht allein den zweifelsohne schwierigen Umständen aufgrund der Zerstörungen durch Erdbeben und Tsunami zuzuschreiben.

Nicht zuletzt aber richtete sich der Zorn der Protestierenden gegen die Zentralregierung in Tokio sowie die administrativen Institutionen auf Präfekturebene, die gemeinsam mit dem Unternehmen eine Politik des Beschwichtigens betrieben. Viele Medien stimmten in den Chor der Beruhigung ein, indem sie die offiziellen Verlautbarungen unkritisch kolportierten, unbequeme Fragen gar nicht erst stellten oder uneinsichtigen Journalistinnen und Journalisten einen Maulkorb verpaßten.

Doch nicht alle Medien waren auf diesen Kurs eingeschwenkt oder auf Linie gebracht worden, jedenfalls nicht so umfassend, daß sie sich jeglicher kritischen Berichterstattung enthielten. Zu den Ausnahmen gehört die liberale Mainishi Shimbun, drittgrößte Tageszeitung des Landes. Sie hat es ihrem Mitarbeiter Kōsuke Hino ermöglicht, investigativ zum "Gesundheitsmanagement in der Präfektur Fukushima" zu recherchieren. Dieses war im Juni 2012 mit dem Auftrag eingerichtet worden, die Strahlenauswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung zu untersuchen. Hino gelang es, einige der Machenschaften des Gesundheitsmanagements aufzudecken. Die Ergebnisse seiner Recherchen hat der Journalist zunächst zeitnah in einer Reihe von Artikeln veröffentlicht und anschließend in dem vorliegenden Buch zusammengefaßt, das 2013 auf Japanisch und im Februar dieses Jahres auch auf Deutsch erschienen ist. Ermöglicht hatte dies eine Gruppe von ehrenamtlich arbeitenden Übersetzerinnen und Übersetzern.

Unter anderem hatte Kōsuke Hino herausgefunden, daß die Präfekturverwaltung von Fukushima über ein Jahr lang vor jeder öffentlichen Sitzung des Beraterkomitees des Gesundheitsmanagements geheime Sitzungen abgehalten hat, auf denen besprochen worden war, was der Öffentlichkeit mitgeteilt werden sollte und was nicht. Es handelte sich somit anschließend um die bloße Inszenierung einer Diskussion der Komiteemitglieder, deren Drehbuch in weiten Zügen feststand und mit dem der Zweck verfolgt wurde, die Bevölkerung zu beruhigen. Die offizielle Erklärung hierzu lautete, diese Deutung der nicht-offiziellen Sitzungen des Beraterkomitees sei ein "Mißverständnis" (S. 90), man entschuldige sich dafür.

Allerdings hat das Beratungskomitee einen Zusammenhang zwischen dem auffällig häufigen Auftreten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen und der radioaktiven Strahlung geleugnet. Da in dem Komitee nicht nur die Präfekturverwaltung, sondern auch die vermeintlich unabhängige Medizinische Hochschule von Fukushima vertreten war, wurde diese Ansicht zur offiziellen Lesart. Nachdem die Mainishi Shimbun im Oktober 2012 erstmals von den geheimen Sitzungen berichtet hatte, fühlten sich viele Menschen in ihrem Argwohn gegenüber den Behörden bestätigt. In Folge der Zeitungsberichte wurde die Praxis der geheimen Sitzungen eingestellt.

Was jedoch nicht eingestellt wurde und auch kein Thema dieses ersten von inzwischen vier auf Japanisch erschienenen Büchern des Autors ist: die Absicht von Behörden, Teilen der Wissenschaft und Medizin sowie der mitunter eng mit den einflußreichen Energieversorgungsunternehmen verbundenen Medien hat sich nicht einen Fingerbreit gewandelt. Es wird weiterhin beschwichtigt, wo es nur geht, und immer nur das an Strahlenrisiken für die Bevölkerung zugegeben, was sich partout nicht mehr leugnen läßt. Die Regierung von Premierminister Shinzo Abe setzt weiterhin auf Kernenergie und hat die finanzielle Unterstützung von Fukushima-Evakuierten gekürzt, um sie zur Rückkehr in die wieder freigegebenen, offiziell dekontaminierten, indessen nach wie vor radioaktiv verstrahlten Gebiete zu drängen - um nur einige aktuellere Beispiele für die mannigfaltigen administrativen Machenschaften zu nennen, die sich direkt gegen das legitime Interesse der Einwohner an physischer und psychischer Unversehrtheit richten.

Hino hatte seine Recherchen zum Gesundheitsmanagement begonnen, nachdem die Behörden ein Online-Berechnungssystem für die individuelle Strahlendosis gelöscht hatten (S. 18). Im Zuge der Ermittlungen deckte der Autor nicht nur die Existenz der geheimen Sitzungen auf, sondern beispielsweise auch, daß der Leiter der Untersuchungen zur Gesundheit der Bevölkerung und der Leiter des Komitees, das die Untersuchungsergebnisse überprüfen soll, ein und dieselbe Person waren: Prof. Shun'ichi Yamashita von der Hochschule Nagasaki. Außerdem berichtet der Autor, daß zu manchen offiziellen Presseterminen nur ausgewählte Personen zugelassen waren, daß die Präfekturbehörden sehr bewußt keine Jodtabletten als Schutz der Schilddrüsen verteilt hatten und daß medizinische Untersuchungen der Schilddrüsen bei Heranwachsenden mutwillig verkürzt wurden. Die Kritik des UN-Beauftragten Anan Grover am Gesundheitsmanagement sei verworfen, und die Kritik anderer Personen als Meinung von "Profi-Aktivisten" verunglimpft worden.

Über lange Strecken bleibt der Schreibstil Hinos sachlich, mitunter spröde, ausgenommen Prolog und Nachwort. Die Stärken des Buchs liegen da, wo der Autor auch sein persönliches Anliegen verortet, nämlich daß seine Rechercheergebnisse "in Zukunft als historische Dokumente" (S. 215) genutzt werden können. Wer also genau wissen will, wie in der japanischen Gesundheitsverwaltung an vielen, vielen kleinen Stellschrauben gedreht wurde, was in der Summe dazu beitrug, das Ausmaß der Nuklearkatastrophe zu verharmlosen, dürfte von diesem über weite Strecken chronologisch angelegten, ausführliche Detailschilderungen nicht scheuenden Buch nicht enttäuscht werden. Wer sich dagegen eine übergeordnete Einordnung wünscht, etwa eine Analyse des Zusammenspiels von Politik und Wirtschaft, von Zweck und Absicht der Kernenergieproduktion oder, noch allgemeiner, der vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen am Ausbau der administrativen Verfügungsgewalt mittels der zentralistischen, nuklearen Energieform erhofft, wird in diesem Buch nicht fündig werden.

Dennoch kann es Anregungen liefern, um den Behörden und dem Unternehmen bei der Abwicklung der Fukushima-Katastrophe noch genauer auf die Finger zu schauen und stets auch zwischen den Zeilen ihrer Verlautbarungen zu lesen. Denn oftmals ist das, was nicht gesagt wird, aufschlußreicher und für den Schutz der Gesundheit der Menschen relevanter als das, was in den offiziellen Stellungnahmen verbreitet wird.

17. April 2017


Kōsuke Hino
Der Reaktorunfall am Kernkraftwerk Fukushima Daiichi
Die Schattenseiten des Gesundheitsmanagements in Fukushima
Ehrenamtlich übersetzt und für die Veröffentlichung in Deutsch
bearbeitet: Yukiko Kishi-von Heyden, Mari Takahashi, Chika Kiezmann,
Satoko Iyoda, Kazuko Kanuma-Kölzer, Toyo Washio, Shinobu Katsuragi
und Petra Alt
Verlag Neuer Weg, Essen 2017
ISBN 978-3-88021-433-0
232 Seiten, 15,00 Euro


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