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REZENSION/675: Steven Hill - Die Start-up Illusion (SB)


Steven Hill


Die Start-up Illusion

Wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert



Wie jeder neue Verwertungszyklus kapitalistischer Produktivkraftentfaltung kommt auch die informationstechnologische Ökonomie nicht ohne spezifische Mythenbildung aus. Träten die Ausplünderung natürlicher Ressourcen und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft als Quellen der Wertschöpfung und Triebkräfte der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung unverhohlen zutage, stellten sich Fragen grundsätzlicher Natur, die mit einer neoreligiösen Überantwortung an einen technologiegestützten Zukunftsentwurf unvereinbar wären. Wenn angesichts ungebändigter multipler Krisen der Fortbestand wachsender Teile der Menschheit auf Messers Schneide steht und selbst in den westlichen Metropolen der Lebensstandard dramatisch einbricht, nimmt die postulierte Wiederauferstehung aus den Trümmern der an ihre Grenzen stoßenden warenproduzierenden Wirtschaftsweise zwangsläufig die Züge verdichteter Verfügungsgewalt an. Verbrämt mit einer in Jahrzehnten geschmiedeten Ideologie, die jegliche kollektiven und damit potentiell widerstandsfähigen sozialen Entitäten für obsolet und die Konkurrenz isolierter Monaden in der fiktiven Sphäre des allregulierenden Marktes für alternativlos erklärt, durchdringt sie alle Lebensbereiche bis hinein in die Körperlichkeit.

Wenngleich sich die Heerschar moderner "digital natives" dessen nur selten bewußt sein dürfte, erfüllt sie die Maßgaben kapitalistischer Innovation aufs Haar, wie sie der Ökonom Joseph Schumpeter (1880-1950) vorgedacht hat. Den diesen Produktionsverhältnissen innewohnenden Zwang, durch Senkung der Lohnkosten zu rationalisieren, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten, phantasiert er im Übertrag auf heroische Individuen, die als innovative Entrepreneure mit ihren Visionen für die "kreative Zerstörung" verantwortlich seien, die dem Kapitalismus seine Dynamik verleihe. Diese "Disruption" ist denn auch das Credo der jungen Wilden dieser Tage, die existierende Ausbeutungsverhältnisse zerstören, um sie durch profitablere zu ersetzen. Wie Schumpeter hervorhebt, sei der Entrepreneur weder ein Erfinder, noch besitze er Kapital. Sein Beitrag bestehe darin, "bereits existierende Produktionsmittel anders, angemessener und vorteilhafter einzusetzen". Der Gründer ist mithin ein Manager, der die bereits stattfindende Produktion rationalisiert, um sie profitabler zu gestalten.

In mythischer Überhöhung dieser nüchternen Umdeutung herrschender Zwangsverhältnisse fabulieren die Apologeten der Start-up-Ideologie von legendären Gründerhelden, die als Freigeister und Rebellen ihre Träume realisiert und sich als Einzelne selbst verwirklicht hätten. Wer demgegenüber in fremdbestimmter und entwürdigender Lohnarbeit "roboten" müsse, sei selbst schuld. So läuft der Traum, der eigene Boß zu sein, auf nichts anderes hinaus, als andere für sich schuften zu lassen. Das Wesensmerkmal des Entrepreneurs ist seine unermüdliche Bereitschaft, sich in den Dienst des Kapitals zu stellen, über andere Menschen zu verfügen und dies als Inbegriff der Freiheit zu glorifizieren.

Die Legende junger Genies, welche der Welt bahnbrechende Innovationen geschenkt hätten, verzerrt die realen Verhältnisse bis zur Unkenntlichkeit. So wurden beispielsweise alle drei Technologien, die das iPhone zu einem Spitzenprodukt gemacht haben, nämlich das Internet, GPS und der Touchscreen, nicht von Apple, sondern vom US-amerikanischen Staat entwickelt. Technologische Fortschritte sind zumeist Resultate organisierter Forschung, wie sie nur der nicht unmittelbaren Profitzwängen unterliegende Staat in großem Maßstab leisten kann. Start-ups entwickeln demgegenüber selten neue Technologien, sie erfinden vor allem neue Geschäftsmodelle. Plattformkonzerne nutzen zwar neue technische Möglichkeiten, haben aber kein neues Produkt und keine neue Dienstleistung zu bieten. Sie zentralisieren lediglich bisher verstreut stattfindende Geschäftstätigkeiten und sorgen so für verschärfte Kontrolle und Ausbeutung der Lohnabhängigen und prekär Beschäftigten. [1]

Obgleich der US-amerikanische Kolumnist und Autor Steven Hill, der in seinem Buch "Die Start-up Illusion" vor dem Ruin des Sozialstaats durch die Internet-Ökonomie warnt, die Einbettung seiner Thesen in eine fundierte Gesellschaftsanalyse schuldig bleibt, sind seine Ausführungen doch in ihrer deskriptiven Breite aufschlußreich und lesenswert. Was der seit mehr als zwanzig Jahren im Epizentrum Silicon Valley lebende Wirtschaftsjournalist als Ergebnis eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts als Holtzbrinck-Fellow an der American Academy in Berlin präsentiert, gibt der deutschen Leserschaft nicht nur einen Einblick in die Gefahren plattformkapitalistischer Entwicklungen. Darüber hinaus mutet seine eindringliche Empfehlung, keinesfalls zu versuchen, das Silicon-Valley-Modell zu kopieren oder zu klonen, wohlbegründet an.

Hill stellt das Glaubensbekenntnis in Frage, wonach Technologie per se ein Erneuerer und Wohlstandsbringer sei, und thematisiert die Digitalisierung als potentiell gefährliche Entwicklung, die Millionen Arbeitsplätze vernichten könnte und in diesem Fall verhindert werden müßte. Handle es sich um eine Technologie, die Arbeitsplätze zerstöre, die Qualität der Arbeit untergrabe oder den arbeitenden Menschen auf existenzielle Weise schädige, stehe ihr Verbot zur Disposition. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten seien die Volkswirtschaften sämtlicher Industrienationen so umstrukturiert worden, daß die Gewinne aus neuen Technologien und Produktivitätssteigerungen in die Taschen einer immer kleiner werdenden Gruppe Wohlhabender fließen. Wie die Geschichte lehre, profitiere die Allgemeinheit keineswegs immer und automatisch von technologischen Innovationen.

Beispielsweise gebe es in den USA schätzungsweise zwei Millionen Lkw-Fahrer, in Deutschland seien es über 600.000. All diese Arbeitsplätze würden überflüssig, wenn sich führerlose Lastwagen durchsetzten. Wenngleich die Speditionen von sinkenden Arbeitskosten profitierten, könne angesichts der millionenfachen Jobvernichtung von einem Zugewinn der Gesellschaft keine Rede sein. Entgegen anderslautenden Gerüchten schafften die führenden Unternehmen in Silicon Valley nur wenige Arbeitsplätze. Facebook (12.000 direkt beschäftigte Vollzeitmitarbeiter), Google (60.000) und Apple (66.000) bieten weniger Arbeitsplätze als traditionelle Konzerne wie Ford, GM, Volkswagen, BMW, Siemens oder General Electric, die jeweils Hunderttausende Menschen angestellt haben.

Auf Online-Technologien basierende Plattformunternehmen arbeiten mit einer minimalen Stammbelegschaft, die ein Heer von Freiberuflern und Subunternehmern dirigiert. Die "Sharing-Economy" verteilt sich auf zahllose Berufe und setzt eine beispiellose Konkurrenz durch. So steuern bei Upwork nur 250 reguläre Mitarbeiter zehn Millionen Freiberufler in aller Welt, wobei Arbeiter aus Industrienationen mit jenen aus ärmeren Ländern konkurrieren. Man versteigert online seine Arbeitskraft, und in einem Wettbewerb Richtung null unterbieten billige Arbeitskräfte aus der Dritten Welt die Arbeiter aus den Industrienationen. Als Freiberufler fehlen ihnen Auftragssicherheit, Krankenversicherung und andere sozialen Leistungen. Allein in Deutschland dürften bereits bis zu 2,3 Millionen Menschen auf solchen Plattformen tätig sein.

Der Fahrdienst Uber fördert eine neue Form der Personenbeförderung, indem private Autobesitzer Fahrgäste von einem Ort zum andern bringen. Aus Sicht des Kunden dürfte das unter dem Strich kaum ein Vorteil sein, da das Unternehmen die Straßen mit Zehntausenden zusätzlichen Fahrzeugen überflutet, Staus verursacht und den Kohlendioxidausstoß steigert. Man wird vielleicht etwas früher abgeholt, steckt dafür aber unterwegs länger im Verkehr fest. Insbesondere aber unterläuft Uber sämtliche gesetzlichen Vorgaben wie auch das Lohnniveau des Taxigewerbes, das auf diese Weise durch private Niedriglöhner ruiniert wird.

Ähnlich verhält es sich bei Airbnb, das eine beliebte Alternative zu Hotels geschaffen hat. Für Reisende etwas günstiger und bequemer, ermöglicht es andererseits Menschen, leerstehende Zimmer zu vermieten und etwas dazuzuverdienen. Airbnb ist jedoch längst von professionellen Immobilienfirmen unterwandert, die Mieter hinausdrängen und ganze Häuser für Touristen freihalten. Der Bestand an bezahlbarem Wohnraum für Mieter schrumpft, die Profite der Immobilienfirmen steigen und ebenso die Einkünfte der Gründer von Airbnb, die schon in jungen Jahren Milliardäre sind.

Unternehmen des Plattformkapitalismus wie Uber und Airbnb, Upwork, TaskRabbit, Instacart und Dutzende weitere hätten Produkte und Dienstleistungen geschaffen, die durchaus attraktiv für ihre Nutzer sein können und in einem gewissen Maß neue Formen des Arbeitens und neue Einkommensmöglichkeiten schaffen, so der Autor. Die Führungsetagen dieser Unternehmen hätten sich jedoch einem extremen Wirtschaftsliberalisimus verschrieben und entzögen sich jeglicher Regulierung. Sie beschäftigten Subunternehmer, Freiberufler, Zeitarbeiter oder Solo-Selbständige, bevorzugten also Arbeitskräfte, die sie nach Gutdünken anheuern und entlassen, deren Einsatz sie wie Glühbirnen an- und ausschalten können. Zudem entziehen sie sich ihrer Steuerpflicht, profitieren von illegaler Steuerermäßigung wie Apple in Irland oder verstecken ihre Gewinne in Steueroasen, so daß sie die Voraussetzungen der Gesellschaft aushöhlten, die sie angeblich ins 21. Jahrhundert führen wollen.

Nach Auffassung des Autors befinden wir uns erstmals in der jüngeren Menschheitsgeschichte in einer Phase, in der Technologie nicht zu mehr, sondern zu weniger Arbeitsplätzen führt und in der die "kreative Zerstörung" durch Innovation mehr vernichtet als neu hervorbringt. Deshalb müsse die Frage nach einer strengeren Regulierung dieser Technologie gestellt werden. Wenn Visionäre von einem kollaborativen digitalen Netzwerk träumten, das schon in wenigen Jahren das Leben der Menschen revolutionieren werde, dürfe doch nicht ausgeblendet werden, wer dieses Netzwerk kontrolliert.

Das Mehrparteiensystem, soziale Marktwirtschaft, Tarifpartnerschaft und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit haben Deutschland stark gemacht, so der Autor. Nun gehe es darum, diese Errungenschaften zu schützen. Wenn 70 Prozent der Start-ups im Konkurs enden und 90 Prozent niemals profitabel werden, könne dies kein unhinterfragtes Vorbild für Deutschland sein. Man müsse einen eigenen digitalen Weg suchen, der Start-ups durchaus einschließe, aber vor allem auf dem gründe, was Deutschland am besten könne: Planung, Umsetzung und ein hohes Maß an Präzision. Der Mittelstand sei ein Wirtschaftsmotor, der für eine Innovation stehe, die beeindruckender als sämtliche Entwicklungen der Facebooks, Googles, Amazons, Ubers und Apples zusammen sei. Die vordringliche Aufgabe bestehe darin, mittelständische Wirtschaft und Start-ups zusammenzubringen.

Darüberhinaus müsse gewährleistet werden, daß Clickworker gerecht behandelt werden und dem Sozialsystemen nicht Gelder fehlen, weil bestimmte Firmen und Arbeiter keine Steuern zahlen. Zudem müsse es Arbeitnehmervertretungen gestattet werden, Technologiestudien von unabhängigen Experten erarbeiten zu lassen, bevor neue Technologien eingesetzt werden. Zum dritten gelte es insbesondere, ein System der "gleichwertigen Arbeit" zu schaffen, basierend auf einem umfassenden Sicherheitsnetz für alle Arbeitnehmer. Während der Autor ein bedingungsloses Grundeinkommen skeptisch einschätzt, da es auf ein viel zu niedriges Niveau unter Streichung sämtlicher Sozialleistungen hinauslaufen könnte, schwebt ihm ein Rentenmodell nach dem Vorbild der Künstlersozialkasse, jedoch ausgeweitet auf ein umfassendes System sozialer Sicherung vor.

Daß Steven Hill vor dem Hintergrund von Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 vor einer deutschen Brachialkur nach dem Muster der Branchenriesen Silicon Valleys warnt, ist ebenso begrüßenswert wie sein Ansatz, viele Ecken und Winkel der vielschichtigen Problematik auszuleuchten. Auch daß er zahlreiche vor allem hierzulande nur unzulänglich gestellte Fragen aufwirft, kann unter die Stärken seines forschenden Ansatzes subsumiert werden. Weniger substantiell fallen indessen seine Lösungsvorschläge aus, die irgendwo zwischen Fordismus, Keynes, den Tugenden des Mittelstands und Sozialpartnerschaft flottieren. Wenngleich ihm durchaus geläufig ist, daß in einer Welt digitaler Tagelöhner neofeudale Verhältnisse und moderne Lohnsklaverei Einzug halten, zieht er den versöhnlichen Ansatz vor, zwischen Politik, Marktordnung, freiem Unternehmertum und innovativer IT-Technologie fein auszubalancieren, nicht aber von den Widerspruchslagen einer Klassengesellschaft und den Zwängen der Staatsräson auszugehen.


Fußnote:

[1] https://jungle.world/autorin/johannes-simon

6. Juni 2017


Steven Hill
Die Start-up Illusion
Wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert
Knaur Verlag, München 2017
271 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-426-78902-5


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