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REZENSION/682: Martin Luther King - Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen (Reden) (SB)


Martin Luther King


Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen

Reden



Band 2 der Nautilus-Reihe "Utopien für Hand und Kopf" - drei Bände sind bislang erschienen - versammelt eine Auswahl später Reden des US-amerikanischen Predigers, Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Martin Luther King.


Vielleicht erübrigt sich die Frage, was ein Martin Luther King dem heutigen Leser überhaupt noch zu sagen hat, wenn man sich ohne weitere Voraussetzungen einfach daran macht, zu lesen und einmal über den eigenen Tellerrand zu blicken. Zu finden ist, gleich, an welcher Stelle der Sammlung man beginnt, ein Mensch, der kompromißlos, trotzdem versöhnlich mit offenem Visier für soziale Gerechtigkeit und Teilhabe, jedoch nicht für den Umsturz der Gesellschaft kämpft und sein Anliegen anschaulich zu vermitteln weiß. Als praktisch orientierter Visionär war der Prediger 1966 mit seiner Familie in ein besetztes Haus im Schwarzenghetto der Chicagoer West Side gezogen und half bei dessen Instandsetzung. Zu dieser Zeit hatte King sein Engagement vom Süden und den Belangen der schwarzen Bevölkerung ausgeweitet auf Armut im allgemeinen sowie den Norden der USA, in den viele Schwarze aus dem Süden zogen, weil sie sich dort Arbeit und größere Freiheiten erhofften.

In seinem Vortrag "Jugend und soziale Aktion" von 1967 analysiert er die Lage der Jugend in den USA und vermag die drei Gruppen, die er ausmacht, zu einer Synthese, einem gemeinschaftlichen Gesellschaftsansatz zusammenzuführen. Er entwirft hier in einer unruhigen Zeit des Umbruchs einen gemeinsamen Nenner, der zuversichtlich machen und ein gleichberechtigtes, erfülltes Zusammenleben in greifbare Nähe hätte rücken können. Das kommt sogar beim heutigen Leser noch an. Gleichzeitig wird verständlich, warum er von jenen, die keine Veränderungen wollten, wohl gehaßt und gefürchtet wurde. Er muß die Herzen der benachteiligten Menschen auf eine Weise erreicht haben, die sie und das Althergebrachte in Gefahr zu bringen drohte. King nennt zwar keine Namen, aber wendet sich unmißverständlich gegen jene, die ihre Privilegien auf Kosten der Armen und Schwachen verteidigen. Kompromißbereit, aber nicht bestechlich, war er wohl weder durch Einschüchterungsversuche noch durch (angedrohte) Rufschädigung über eine Veröffentlichung intimer Details mundtot zu machen.

Bildhaft und lebendig führt er die sozialen Unruhen des Jahres 1967 ("Die Krise in den Großstädten Amerikas") und ihre Hintergründe vor Augen, analysiert, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, gesellschaftliche Widersprüche sowie den gewaltlosen Kampf, seine Erfolge und Grenzen. Offen legt er Pläne und Verfahrensweise für den "Marsch der Armen" auf Washington dar, eine Großaktion, die wenige Tage nachdem er ermordet wurde, noch ihren Anfang nahm ("Gewaltlosigkeit und sozialer Wandel", "Wachbleiben während einer großen Revolution"). Entschieden ruft er die schwarze Bevölkerung zu einem Wirtschaftsboykott auf ("Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen"). Die Bewegung, die er mitinitiierte und für die er stand, agierte nicht im Verborgenen, nicht subversiv, sondern im hellen Tageslicht. Durch "direkte Aktion" wurde sie so unbequem und erregte so sehr die öffentliche Aufmerksamkeit, daß man sie nicht einfach beiseiteschieben konnte. Gezielter Regelbruch, der nicht wirklich ins Unrecht setzte, ermöglichte es den Aktivisten, moralisch und nach Gesetzeslage die Seite der Guten und Integren zu verkörpern. Und das wurde medienwirksam inszeniert. Auch für diese Taktik, die gesellschaftlichen Kräfte nutzbringend für die eigene Sache gegeneinander auszuspielen, steht Martin Luther King.

Die Menschen dieses Landes, wenn auch nicht die Kongressleute, sind bereit zu einem entschiedenen Angriff auf Slums und Arbeitslosigkeit, wie zwei Umfragen kürzlich ergeben haben. Darum müssen wir auch den Kongress bereitmachen, etwas für die Notlage der Armen zu unternehmen. Wir werden die Gesetzgeber, die Verwaltungsbeamten und alle andern Machthaber so lange anstoßen und belästigen, bis sie das unbedingt Erforderliche in Angriff nehmen.
("Gewaltlosigkeit und sozialer Wandel", 1967, S. 58/59) 

King war zu seiner Zeit ein sehr öffentlichkeitswirksamer Streiter, den, wenn es opportun erschien, auch mal der US-Präsident aus dem Gefängnis holte und der die Unterstützung des nächsten Präsidenten verlor, als er sich offen gegen den Vietnamkrieg stellte. Heute wird an jedem dritten Januar-Montag in den USA mit einem nationalen Feiertag seiner gedacht. Er gilt als Mann der Geschichte, der - so ist man sich offiziell einig im Land - mit legitimen Mitteln für eine gute Sache gekämpft hat: ein Ende der Rassentrennung und -diskriminierung, ein effektives Wahlrecht für alle... Den Streit darüber, ob er erfolgreich war oder nicht, braucht man gar nicht erst zu führen; angesichts der Lage der Menschen nicht-weißer Hautfarbe in den USA heute geht sein Kampf ohnehin weiter.


Die Illustrationen sind auch in Band zwei der Reihe ein Spiel mit Fragmenten in schwarz und weiß, bis auf den farbigen Einband. Die angeschnittenen Fotografien aus der Zeit Martin Luther Kings vermögen die eine oder andere Assoziation zu wecken, der Leser ist allerdings sich selbst überlassen.



23. August 2017


Martin Luther King
Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen
Reden
Mit einem Vorwort von Ilija Trojanow
Edition Nautilus, Hamburg 2016
Großformat, 112 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-96054-021-2


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