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REZENSION/696: Wolfgang Hien - Die Arbeit des Körpers (SB)


Wolfgang Hien


Die Arbeit des Körpers

Eine kritische Arbeitsgeschichte von der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart



Die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in der Bundesrepublik ist immer auch ein Index sozialer Verelendung. Neben dem Stand nationaler Wirtschaftsentwicklung beziffern sie eine Form von Leistungsfähigkeit, die nicht zuletzt darin gründet, die Kosten der Arbeit zu senken. Ein vermeintlich alle Menschen gleichermaßen erfreuendes Wachstum der Wirtschaft ist ohne den Wermutstropfen des Verzichts auf Lohnsteigerungen, die diesem Zuwachs des nationalen Gesamtproduktes auch nur adäquat wären, meist nicht zu haben. Diesen Beitrag zum Erfolg klaglos zu leisten und alle damit einhergehenden Belastungen widerstandslos hinzunehmen weist auf eine gelungene Politik der Befriedung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit hin. Eine solchermaßen um nationale Ziele formierte Gesellschaft ist in der globalen Krisenkonkurrenz von großem Wert, was erklärt, warum der restaurative Marsch in die präfaschistische Gesellschaft bis weit in die politische Mitte hinein auf Zuspruch setzen kann.

Kaum bis gar nicht geht es in massenmedial geführten Debatten zum Stand der Arbeitsgesellschaft um die Qualität dessen, was Lohnabhängige beim Verkauf eines Großteils ihrer Lebenszeit und -kraft auszustehen haben, inwiefern ihr persönlicher Lebenssinn in der jeweiligen Tätigkeit aufgeht oder diese als ausschließliches Mittel zum Zweck der Reproduktion notgedrungen in Kauf genommen wird. Die Zumutungen der konkreten Arbeit in Fabrik und Büro, an der Werkbank und an der Tastatur, gehen in einem Begriff von Arbeit auf, der von den Schmerzen und Entbehrungen, die vielen Tätigkeiten wie selbstverständlich innewohnen, weitgehend entkoppelt ist. Gar einen Begriff wie Entfremdung einzubringen überforderte den Diskurs vollends, stände dem doch eine positiv zu bestimmende Qualität von Arbeit gegenüber, die nicht dem Primat ihrer Verwertbarkeit unterworfen wäre.

Am ehesten greifbar wird der Zwangscharakter der Lohnarbeit noch in Reportagen über die sklavenähnlichen Bedingungen, unter denen in der Textilindustrie und in der Computerindustrie, im Entsorgungs- und Recycling-Geschäft, den agroindustriellen Großfarmen oder Bergbaubetrieben des globalen Südens produziert wird. Daß Lohnarbeit ein Prozeß der psychophysischen Zerstörung mit der Konsequenz unumkehrbarer gesundheitlicher Einschränkungen und eines vorzeitigen Todes sein kann, wird Ländern, deren nachholende industrielle Entwicklung mit frühkapitalistischen Bedingungen einhergeht, weit schneller attestiert, als daß die Arbeit in hochproduktiven Metropolengesellschaften wie der Bundesrepublik in die Nähe des Kampfbegriffes der Ausbeutung gerückt würde.


"Leibkörper" - Subjekt einer Sozialgeschichte der Arbeit

Und doch stellen auch in vermeintlich postindustriellen Zeiten, in denen das Hohe Lied vom immateriellen Charakter der Arbeit von den Vorstandsetagen bis weit in die politische Linke hinein gesungen wird, die ganz konkreten Arbeitsfolgen für viele Betroffene existenzbedrohende Probleme dar. "Die Arbeit des Körpers" hat Wolfgang Hien seine in Buchform erschienene Untersuchung zu den gesundheitlichen Folgen der industriellen Lohnarbeit und ihrer arbeitswissenschaftlichen Begleitung überschrieben. Sie umfaßt, beginnend Mitte der 1870er Jahre, einen Zeitraum von 140 Jahren und hat die Arbeitsgeschichte führender Industriesektoren des Bergbaus, der Eisen- und Stahlproduktion wie der Chemie- und Textilindustrie zum Gegenstand. Den kritischen Anspruch der Studie löst Hien dadurch ein, daß er sie als eine Geschichte der Körperpolitik von unten verfaßt hat.

Indem der Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler die Leiblichkeit in den Mittelpunkt der Arbeitswelt stellt, weist er den konkreten materiellen Erfahrungen der ArbeiterInnen mit den Widrigkeiten der Werkzeuge und Materialien wie den Mechanismen der Sozialkontrolle die größte Aussagekraft seiner umfassenden Studie zu. Den Terminus des Leibes wählt er gezielt, um sich von der physikalischen und physiologischen Funktionalität abzusetzen, die im Begriff des Körpers mitschwingt. Der "Leibkörper" als "Medium der Welterfahrung" (S. 14) wird so zum eigentlichen Subjekt dieser Erzählung über die Entbehrungen und Zumutungen, die die lohnarbeitende Klasse im Laufe der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung über sich ergehen lassen mußte und muß.

Seit 2008 hat Hien Quellen ausgewertet, die er in der Bibliothek für Sozialgeschichte in der Universität Bremen und anderen Institutionen und Initiativen einsehen konnte. Reichhaltig dokumentiert mit literarischen und persönlichen Schilderungen der Gewalt, mit der LohnarbeiterInnen seitens der Unternehmer und Vorarbeiter als auch der Maschinerie, die sie nicht nur zu bedienen, sondern der sie sich zu unterwerfen haben, konfrontiert waren und sind, ist eine Sozialgeschichte der Arbeit höchst parteilicher Art entstanden. Der besondere Anspruch des Werkes, nicht nur soziologisch zu referieren, sondern politisch zu argumentieren, ermöglicht dem Forschenden die Verwendung des ganzen Arsenals bio- und körperpolitischer Theoriebildung. Der in der Sache stets auf der Seite der von Ausbeutung und Unterdrückung betroffenen Menschen stehende Autor schöpft in der analytisch-kritischen Methodik seiner Studie allerdings so sehr aus dem Vollen, daß die begriffliche Konsistenz der eigenen Gegenposition dadurch eher brüchiger denn gefestigter wird.

Das tut der Relevanz der geleisteten Kritik keinen Abbruch, wäre aber auch nicht nötig gewesen. Wolfgang Hien hat schon in der Fülle des empirischen Materials so viele Argumente auf seiner Seite, daß die Ausflüchte und Nebelwände der hegemonialen, Staat und Kapital zuarbeitenden ExpertInnen mühelos durchdrungen werden. Nicht nur das, in "Die Arbeit des Körpers" sind Institutionenkritik und Betroffenengeschichte so eng miteinander verschränkt, daß von den vermeintlichen Segnungen der Arbeitsmedizin und dem guten Ruf anderer Agenturen der Widerspruchsbefriedung wie der Sozialdemokratie und der von ihr dominierten Gewerkschaften nicht viel übrig bleibt. Deren Errungenschaften werden aus der Sicht des Praktikers, der selbst an Untersuchungen über die gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeit in Chemie- und Metallindustrie beteiligt war, auf den zentralen Zweck der Zurichtung der Lohnabhängigen auf fortgesetzte Einspeisung in die Produktion auch gegen die Integrität ihrer Leiblichkeit zurückgeführt. Wo sich einzelne ArbeitsmedizinerInnen und WissenschaftlerInnen durch besonderes Engagement für die Betroffenen dem Co-Management mit Unternehmen und staatlicher Arbeitsverwaltung entziehen, werden sie unter Inanspruchnahme ihrer Erkenntnisse ausführlich gewürdigt.


Verherrlichung der Arbeit in Faschismus und Religion

Die Einteilung des Buches in zwei Abteilungen - Teil 1: Von der Hochindustrialisierung bis zum Ende des deutsch-österreichischen Faschismus; Teil 2: Vom deutschen und österreichischen Wirtschaftswunder bis zum gegenwärtigen Marktradikalismus - ist nicht nur der chronologischen Abfolge geschuldet. In Teil 1 legt Hien das Fundament der Kritik mit ausführlichen Schilderungen der Arbeitsbedingungen in der Phase der Hochindustrialisierung in Deutschland und Österreich. Was die Menschen unter Tage im Bergbau, an den Hochöfen der Stahlindustrie, in den Anlagen der Chemiekonzerne und an den Maschinen der Textilindustrie zu erleiden hatten, gemahnt an Dantes "Inferno" und wird durch persönliche Erlebnisberichte eindrucksvoll vertieft. Die Einbindung der im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden MassenarbeiterInnen in die religiös wie klassengesellschaftlich fundierte Arbeitsideologie wird anhand ihrer sozialeugenischen und sozialrassistischen Imperative in einem Herrschaftswissen verankert, das bis weit in die parlamentarische Linke hinein in einer Glorifizierung der Arbeit verankert ist, deren patriarchal bestimmte Moral aus Disziplin und Opferbereitschaft über die Körper der ArbeiterInnen gebietet. Der weitgehende Verzicht auf Maßnahmen des Arbeitsschutzes und die unterbleibende Anerkennung industriell bedingter Erkrankungen kennzeichneten die Arbeitsmedizin als Herrschaftsinstrument, dem die Körper der ArbeiterInnen Werkstoff und Humanressource in einem waren.

Die Schilderung produktionsbedingter Vergiftungen durch Blei und Quecksilber ist angesichts der nach wie vor externalisierten Kosten kapitalistischer Warenproduktion heute so aktuell wie damals. Gleiches gilt für die Unterwerfung der Frau unter das patriarchale Arbeitsregime, zu dem einem August Bebel nichts Besseres einfiel als zu erklären, daß die Frau durch Arbeit befreit werden solle. Selbst von Frauen propagierter Arbeitsschutz wurde in den Dienst ihrer sozialeugenischen Instrumentalisierung gestellt, wurde dem Schutz der Gebärfähigkeit und Mutterschaft doch weit größere Bedeutung zugewiesen als der Emanzipation der Frau von der doppelten Unterdrückung, für die familiäre Reproduktion zuständig zu sein und in der Rüstungsproduktion Zwangsdienst an der Heimatfront zu leisten.

Die Herrenmenschen der Arbeitswelt mußten keine Nazis sein, um dem menschenfeindlichen Amalgam aus tayloristischer Rationalisierung und arbeitsreligiöser Unterwerfung das Wort zu reden. Wer nicht mithalten konnte, wurde als "Schwächlingstyp" ausgegrenzt und am besten der erbbiologischen Selektion überantwortet. Die Verherrlichung der Arbeit im kapitalistischen Lohnregime, also unter Inkaufnahme aller Widersprüche entfremdender Verwertungsorientierung, bereitete schon vor 1933 einer naturalistischen Ideologie den Boden, deren völkische Verabsolutierung auch aus christlichen Quellen schöpfte.

Die faschistische Arbeitsideologie mußte im Grunde nichts Neues erfinden. Die ideologischen Bausteine waren alle vorhanden: in der christlichen Tradition, in der protestantischen Arbeitsethik, in der katholischen Gehorsamshaltung, in der Arbeitsideologie der Arbeiterbewegung selbst, in der Verherrlichung und Heiligsprechung der Arbeit und der Abwertung aller, die nicht arbeiten konnten oder wollten. Ausgenommen waren die Wirtschaftsführer, die sich längst zu Arbeitshelden stilisiert hatten, ungeachtet ihrer mittlerweile an den Feudaladel erinnernden Lebensweise. Diesen Umstand zu kaschieren und Situation und Intention der Beherrschten umzudeuten, war Aufgabe der akademischen Zünfte. Die arbeitswissenschaftliche, arbeitsmedizinische und sozialhygienische Konzeptualisierung war gut vorbereitet: Der untergründige Hass und die Wut der Arbeitenden, die ihr Leben als eine einzige Schinderei erlebten, wurden auf das "raffende und nicht schaffende" Finanzkapital gelenkt, das als "jüdische Nicht-Arbeit" ettiketiert wurde.
(S. 145 f.)

Seine Analyse von der Bewertung des arbeitenden Menschen nach Maßgabe nicht nur rassistischer, sondern betriebs- und volkswirtschaftlicher Kriterien, seine Zurichtung auf Leistungsfähigkeit für Fabrik und Militär durch ein umfassendes biopolitisches Regime und seine finale Vernutzung durch die Verkleinerung der "Differenz von Lebensalter und Leistungsalter", so ein Arbeitsmediziner 1941, in Richtung Null läßt den hochmodernen Charakter der faschistischen Industriegesellschaft erkennen. Systematisch angelegte Bruchlinien zwischen Fach- und MassenarbeiterInnen, die doppelte Verwendung des Präventivbegriffes für Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für leistungsfähige deutsche ArbeiterInnen und als Mittel zur Selektion nicht leistungsfähiger "Schwächlinge" und "rassisch Unerwünschter", die millionenfache Einspeisung von Zwangsarbeit, die deutsche ArbeiterInnen in Aufsichts- und Befehlspersonen verwandelte, in die imperialistischen Ziele des NS-Staates und die Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern werden von Hien in ihrer Anschlußfähigkeit zur kapitalistischen Arbeitsideologie ausführlich dargestellt und analysiert.

Die Mehrheit der "Volksgenossen" trug die Ausgrenzungs-, Selektions- und Vernichtungspolitik mit, gleichsam auf dem ideologischen Polster der vermeintlichen Anerkennung ihrer Arbeit. Die Einsicht, dass sie im Grunde selbst entmündigt waren, wurde den scheinbar Aufgewerteten durch die verinnerlichte Affirmation des faschistischen Normensystems verstellt.
(S. 153)

Der Topos der Anerkennung, der sich in sozialtherapeutischen Kontexten großer Beliebtheit als Mittel der Integration von Ver- und Mißachtung betroffener Menschen erfreut, wird von Hien insofern in Frage gestellt, als er die Anerkennung für geleistete Arbeit unter den Bedingungen von Lohnarbeit in seiner widerspruchsbefriedenden Funktion herausstellt. Deutlich wird, wie sehr das NS-Regime bei allen Rückgriffen auf völkische Blut-und-Boden-Mythologien und rassistische Vernichtungsabsichten ein kapitalistisches Modernisierungsprojekt war, das in der Industriepolitik und Raumideologie der BRD fortlebte, ohne daß in ausreichendem Maße Aufklärung über diese beileibe nicht nur personellen Kontinuitäten geleistet wurde.


Atomisierung, Sozialkontrolle - Zukunft der Arbeitsgesellschaft

Im zweiten Teil erhalten die LeserInnen nicht nur wissenswerte Informationen wie etwa die Zahl von 500.000 Bergarbeitern, die noch Anfang der 1950er Jahre in Deutschland und Österreich unter Tage schufteten und dabei ihre Gesundheit ruinierten. Wolfgang Hien geht nun ausführlicher auf die zerstörerischen Folgen industrieller Entwicklung für die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen und die Auswirkungen auf eine von bislang unbekannten Chemikalien und anderen Giftstoffen kontaminierte sozialökologische Umwelt ein. Zusätzlich zur fortgesetzten Kritik an den Institutionen der Arbeitsmedizin setzt sich der Autor mit der systemkonformen Ignoranz von WissenschaftlerInnen auseinander, die die Kausalität industrieller Verschmutzung und daraus resultierender Schäden an Mensch und Natur notorisch leugnen, indem sie etwa auf die genetische Prädisposition Betroffener verweisen und gesamtgesellschaftliche Phänomene individualisieren.

Die mit der Zuwanderung sogenannter Gastarbeiter erfolgende Veränderung der Klassenzusammensetzung erschließt sich nicht nur in dem strukturellen Sozialrassismus, mit dem Menschen aus dem Süden Europas verächtlich gemacht wurden. Hien schildert auch, daß migrantische ArbeiterInnen auch aufgrund der Erfahrungen, die sie im Widerstand gegen repressive Regimes in ihren Herkunftsländern gemacht hatten, häufig aktiveren und solidarischeren Widerstand gegen die Zumutungen der Kapitalseite leisteten als die deutschen Belegschaften. Der spontane, mit einer Betriebsbesetzung einhergehende Streik türkischer Arbeiter gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Kölner Ford-Werken 1973 wurde zwar von einem "Bündnis aus Unternehmen, Betriebsrat, IG Metall, Landesregierung und Polizei" zerschlagen. Dem Autor ist es jedoch "wichtig zu zeigen, dass Leid und Wut in einen Schrei, in Widerstand und Kampf um menschliche Würde transformiert werden kann" (S. 191).

Nicht nur in Büros, auch in der Fabrik wurden Frauen in den 1950er Jahren auf eine Weise ausgebeutet, die die bürgerliche Verklärung der Fünfziger als zwar rückständige, aber gemütliche Zeit Lügen straft. An sogenannten Jugendbändern mußten Frauen schon ab dem Alter von 14 Jahren unter dem Vorwand, sie auszubilden, vollwertige Industriearbeit leisten, und auch in der DDR, wo die Emanzipation der Frau weiter fortgeschritten war, sicherten tradierte Rollenbilder die Dominanz des Mannes bei der Arbeit. Die in dem Kapitel "Die Mär von der humanisierten Arbeit" geführte Diskussion um die Ablösung des Fließbandes durch Gruppenarbeit gelangt zu dem Schluß, daß gegen die Logik kapitalistischer Rationalisierung keine Humanisierung der Arbeitswelt durchzusetzen ist, die nicht zuerst unternehmerischen Zielen unterworfen wäre. Dementsprechend bestreitet der Autor die Foucaultsche These von der Ablösung der Disziplinar- durch die Kontrollgesellschaft zumindest in Sicht auf eine neoliberale Arbeitsgesellschaft, in der zum Teil sogar mehr Körper und Geist auszehrende Arbeit als zuvor geleistet werden muß.

Das gilt auch für die euphemistisch verklärte Arbeit 4.0. Während die verbliebenen Reste solidarischer Mobilisierung in der Lohnabhängigenklasse durch die Atomisierung der IT-gestützten Jobkultur des Click- und Crowdworking rückstandslos eliminiert werden, erschließt sich den Betroffenen allmählich die psychophysisch nicht minder auszehrende Wirkung kognitiver Arbeiten an Bildschirm und Tastatur, an Smartphone und Handscanner. Zugleich wird das Fließband durch Heerscharen in ihrem Arbeitsverhalten permanent der algorithmischen Sozialkontrolle und Effizienzsteigerung unterworfener DienstleisterInnen mobil gemacht, bevor es vollends robotisiert und der Mensch zum Assistenten der Maschine dequalifiziert wird. Für die Re-Taylorisierung der Arbeitswelt bieten informationstechnische Systeme geradezu ideale Voraussetzungen, wird der arbeitende Mensch künftig doch nicht nur am verallgemeinerten Modell, sondern individuell wie im Verbund der betrieblichen Infrastruktur in Echtzeit vermessen, evaluiert und ausgesteuert.

Der globale Kapitalismus fordert von den Menschen mehr körperliche, kraft- und gesundheitzehrende Arbeit denn je, und die geforderten geistigen Leistungen sind nur zu erbringen, wenn durch körperliche Fitness sowie pharmakologisches und biotechnisches Enhancement die Voraussetzungen gegeben sind oder geschaffen werden. Was sich sagen lässt: Reine Körperpolitik wird zu einer Politik erweitert, die das Seelische und Geistige umfasst. Gefordert wird nicht mehr die bloße Verausgabung der Arbeitskraft, sondern die des ganzen Menschen. Das Neue ist die Ausbeutung der Persönlichkeit, ein Prozess, der mit dem Begriff der "Subjektivierung" belegt wurde. Die dem Kapitalismus immanenten Widersprüche - zwischen Profit und Allgemeinwohl, Quantität und Qualität, Wert und Nützlichkeit, Verausgabung und Selbstschutz, letztlich zwischen Kapital und Arbeit - werden in das Individuum verlagert.

Der Autor beläßt es nicht bei der Auflistung übergreifender Widerspruchskonstellationen, die sofort einleuchten. In der von ihm vollzogenen, wenn auch nicht explizit so genannten Klassenanalyse erhalten die LeserInnen Einblick in tradierte wie neue Bruchlinien innerhalb der ArbeiterInnenklasse. Gleiches gilt für das Nord-Süd-Verhältnis, das Wolfgang Hien im Lichte einer Kulturen und Kontinente übergreifenden Subsumtion der Lohnabhängigen unter das Interesse des Kapitals diskutiert. Exkurse zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen der globalen MassenarbeiterInnen zeigen zwar, daß die Überlebensbedingungen in der Bundesrepublik auch für das abgehängte Prekariat längst nicht so schlimm sind wie diejenigen pakistanischer Arbeiter, die aufgrund der beim Abwracken großer Schiffe auftretenden Gefahren und Kontaminierungen durchschnittlich nicht älter als 30 Jahre werden, oder der Näherinnen in Bangladesch, deren Körper nach wenigen Jahren in der Textilindustrie so ausgelaugt sind, daß sie als in Jahren junge Frauen nur noch von ihren Familien durchgebracht werden können.

Herrschaftstechnisch betrachtet können diese Abgründe an sozialem Elend geradezu zu Legitimationsfaktoren kapitalistischer Verfügungsgewalt geraten, wie die breite Restauration autoritärer und faschistoider Gesinnungen erkennen läßt. Um in der Bundesrepublik nicht den Flötentönen rechtsradikaler Verführer zum Opfer zu fallen, die das soziale Elend in der Fabrik der Welt ausblenden, um den eigenen Anspruch auf weiße und europäische Suprematie moralisch begründen zu können, bedarf es mehr als des bloßen Leidensdrucks der überflüssig Gemachten. In den letzten Kapiteln des zweiten Teils präsentiert der Autor verschiedene Entwürfe dessen, was zu tun sein könnte und was zu tun ist. Erfrischenderweise kommt die Streitbarkeit dabei nie zu kurz, woran die harmonistische Beschwichtigung herrschender Widerspruchslagen und Gewaltkonflikte, maßgeblich ihre sozialpartnerschaftliche und zivilgesellschaftliche Lesart, nur zerschellen kann.

Der Kapitalismus verdinglicht unsere Leiblichkeit zu monadisierenden, atomisierten Körpern, die sich im Marktkampf bewähren sollen. Die Zurichtung ist eine leib-seelische Verletzung. Aus dem Schmerz, sofern wir ihn zulassen, entsteht der Schrei, der uns zusammenführt, der Schrei, der uns auf eine neue Ebene der Subjektivität hebt. Es ist die immer wieder neue, immer wieder nötige Erschaffung des zuvor exponierten, beschädigten und gespaltenen Menschen. Die allgegenwärtigen Zurichtungen und Verführungen schneiden in unsere Hirne und Herzen, brutale ebenso wie smarte Gewalten lassen uns zerbrechen, und wir merken, dass ein Sich-wieder-Zusammenfügen ohne ein Wir unmöglich ist. Das heißt auch: Abschied nehmen von tradierten Illusionen einer starken, revolutionären Ich-Identität. Die Zumutung besteht in der Anerkennung unserer Selbstentfremdung, unserer Gespaltenheit, unserer Unterbrochenheit, unserer Zerrissenheit, unseres Mangels.
(S. 329 f.)

Auf 344 Seiten inklusive des Nachwortes von Karl Heinz Roth, der selbst kritische Abhandlungen über die Geschichte der Arbeit verfaßt hat und das vorliegende Buch in den Kontext sozialgeschichtlicher Literatur und sozialer Kämpfe einordnet, sowie eines umfangreichen Fußnotenapparates und Personenregisters initiiert "Die Arbeit des Körpers" eine umfassende und tiefgreifende Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft und ihrer historischen Formierung. Wolfgang Hien liefert dazu das empirische Datenmaterial, illustriert seine Kritik mit zeitgenössischen Zeugnissen aus Literatur und Wissenschaft und diskutiert Möglichkeiten eines linken Neubeginns auf der Höhe einer Zeit, in der die Gefahr der gesellschaftlichen Barbarisierung auch in den westlichen Metropolengesellschaften auf eine seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebte Weise gegenständlich geworden ist. Der Neigung, sich dem Handlungsdruck und der Sachzwanglogik dieser Entwicklung zu überantworten, stellen sich ambitionierte linke Buchprojekte wie dieses wirksam und entschieden entgegen.

2. Juli 2018


Wolfgang Hien
Die Arbeit des Körpers
Eine kritische Arbeitsgeschichte von der Hochindustrialisierung in Deutschland
und Österreich bis zur neoliberalen Gegenwart
mandelbaum kritik & utopie, Wien 2018
344 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978385476-677-3


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