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REZENSION/698: Henrik Paulitz - Kriegsmacht Deutschland? (SB)


Henrik Paulitz


Kriegsmacht Deutschland?

Informationen und Handlungsempfehlungen zu den brandgefährlichen "internationalen Erwartungen" an Deutschland



Drei Stunden lang diskutiertem am 18. August hinter verschlossen Türen in Schloß Meseberg bei Berlin Angela Merkel und Wladimir Putin. Im Anschluß gab es keine Pressekonferenz und es wurden gegenüber der wartenden Presse auch keine Angaben gemacht, worüber die Regierungschefs Deutschlands und Rußlands gesprochen haben, wenngleich vor dem Treffen die Stichworte North-Stream-2, Syrien und die Ostukraine gefallen waren. Eine ungewöhnliche Begegnung also, auf die zwei Tage später ein aufsehenerregender Gastkommentar von Heiko Maas im Handelsblatt folgte, in dem Merkels Außenminister forderte, die EU "zu einer tragenden Säule der internationalen Ordnung" samt Europäischem Währungsfonds und unabhängigem Swift-System zu machen. Deutschland werde nicht mehr zulassen, daß die USA "über unsere Köpfe hinweg zu unseren Lasten handelt", so der SPD-Politiker.

Aktueller Anlaß dessen, was German-Foreign-Policy.com am 23. August kurz und bündig als "Berlins Kampfansage" titulierte, war der rücksichtslose Kurs in der Außen- und Sicherheitspolitik, den die USA unter ihrem 45. Präsidenten Donald Trump fahren. Zu den Provokationen aus Washington, die seit Januar 2017 Freunde und Feinde Amerikas erleben mußten, gehören vor allem der Ausstieg der USA sowohl aus dem Pariser Klimabkommen als auch dem Atomabkommen mit dem Iran. Beide Verträge wurden 2015 unter Beteiligigung der Regierung Barack Obama geschlossen. Das Dokument von Paris unterzeichneten im Interesse der ganzen Menschheit die Vertreter aller 193 UN-Mitgliedsstaaten. Den Joint Comprehensive Plan Of Action (JCPOA) mit dem Iran beschlossen die fünf ständigen UN-Vetomächte, also China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und die USA, plus Deutschland.

In der neuen Militärdoktrin der USA hat der "Wettbewerb der Großmächte" den "Antiterrorkrieg" als oberste Priorität abgelöst. Zu den Konkurrenten, welche die Noch-Supermacht USA kleinzuhalten gedenkt, gehören nicht nur China und Rußland, darunter fällt auch die von Deutschland angeführte EU. Das hat Trump mit seinem Tweets und seinen aggressiven Auftritten bei den NATO-Gipfeln in diesem und im vergangenen Frühjahr mehr als deutlich gemacht. Muß Deutschland deshalb auch "Kriegsmacht" werden mit allem was dazugehört? Und was gehörte überhaupt dazu, wollte Berlin den Fehdehandschuh Washingtons aufheben? In dem höchst lehrreichen Buch "Kriegsmacht Deutschland?" geht Henrik Paulitz von der Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung diesen gewichtigen und beunruhigenden Fragen nach.

Daß Deutschland schon länger keine "Friedensmacht mitten in Europa" mehr ist, zeigen die Bundeswehreinsätze in Somalia, Jugoslawien, Afghanistan und Mali. Dennoch herrscht in der deutschen Politik und Öffentlichkeit weiterhin der Hang zur militärischen Zurückhaltung, was eine nachvollziehbare Folge zweier verlorener Weltkriege ist. Dagegen gibt es starke Kräfte, die im Dauerchor verlangen, daß Deutschland die selbstauferlegten Ketten endlich sprengt und als Militärkoloß wieder die Weltbühne betritt. In seinem Buch legt Paulitz frei, wer alles hinter der These steckt, Deutschland müsse endlich die "internationalen Erwartungen" erfüllen. In der Regel sind es bezahlte Claquere und "Fellows" irgendwelcher Stiftungen und Denkfabriken, die ihre Einnahmen zum nicht geringen, wenn nicht sogar größten Teil von der Rüstungsindustrie beziehen.

Deutschland ist größte Waffenexportnation der EU. Seine Rüstungsfabrikanten schielen auf künftige Märkte und steigende Gewinne. Hinter der Ideologie von "Verantwortung", "Ordnung" und "Stabilität" verbirgt sich das Überlebensinteresse zu Lasten anderer. Nicht umsonst hat Papst Franziskus 2017 die internationalen Rüstungsbauer und -verkäufer als "Händler des Todes" kritisiert, die aus Motiven der Profitmaximierung den Krieg verewigen würden. Seit mehr als 16 Jahren führen die USA, Deutschland und die anderen NATO-Mächte in Afghanistan Krieg. Vom versprochenen Wiederaufbau ist dort nichts festzustellen, von "Frieden" ganz zu schweigen.

Detailliert legt Paulitz die Argumente der vermeintlichen deutschsprachigen Experten im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik frei und entlarvt sie als nicht minder hohl als diejenigen ihrer amerikanischen und englischen Gesinnungsgenossen. Im Buch präsentiert er eine aufschlußreiche Zahl: Schon 2008 war in der deutschen Öffentlichkeit die Zustimmung zum Militäreinsatz in Afghanistan Umfragen zufolge auf ganze 14 Prozent gesunken. Zehn Jahre später ist die Bundeswehr immer noch am Hindukusch stationiert. Wofür? Um Deutschland zu verteidigen, wie es einst Peter Struck formulierte? Das glaubt niemand.

Seit Jahren werden die europäischen NATO-Staaten von den USA aufgefordert, mehr für die Rüstung auszugeben. Seit dem Jugoslawienkrieg beschweren sich die Amerikaner darüber, die europäischen Armeen seien ineffektiv, hätten viel Personal, aber keine nennenswerte Schlagkraft. Das Argument haben deutsche Politiker für ihre Zwecke instrumentalisiert. Paulitz zitiert den früheren Bundesaußenminister Sigmar Gabriel aus dem Jahr 2017 mit der Behauptung, die EU-Staaten tätigten "45 Prozent der Verteidigungsausgaben der USA", hätten aber "im Vergleich nur 15 Prozent der Effizienz aufzuweisen". Die These, die Mars-Anhänger in den USA bekämen "more bang for the buck" als die Venus-anbetenden Wirklichkeitsverweigerer in Europa, ist nicht neu, doch sie überzeugt im Grunde niemanden außer notorische Kriegstreiber wie John McCain und Robert Kagan. Woran bemißt man eine derart bellizistische Kategorie wie "bang for the buck"? An den mehr als eine Million Irakern, die ihr Leben infolge des Anti-Saddam-Hussein-Feldzugs der amerikanischen, australischen und britischen Streitkräfte 2003 verloren haben? Oder vielleicht doch an den 179 Afghanen, die bei einem einzigen Bombenangriff im afghanischen Kundus 2009 auf Befehl des deutschen Obersten Georg Klein ins Jenseits befördert wurden?

Paulitz will mit seinem Buch die öffentliche Debatte um Krieg und Frieden anregen und versachlichen. Diejenigen, die friedenspolitisch argumentieren und sich für Diplomatie und nicht-kriegerische Wege der Konfliktlösung stark machen, hat er mit einer ganzen Fülle an Fakten und Argumenten munitioniert. Dafür gebührt ihm ein großes Lob, denn es geht hier um sehr viel. Wie US-Präsident John F. Kennedy bei seiner Rede 1961 vor der UN-Generalversammlung in New York warnte: "Die Menschheit muß dem Krieg ein Ende setzen, sonst setzt der Krieg der Menschheit ein Ende."

25. August 2018


Henrik Paulitz
Kriegsmacht Deutschland?
Informationen und Handlungsempfehlungen zu den brandgefährlichen
"internationalen Erwartungen" an Deutschland
Akademie Bergstraße, 2018
Illustrationen: Sibylle Reichel
102 Seiten
ISBN: 978-3-981-852516


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