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AFRIKA/191: Auf der Flucht (ai journal)


amnesty journal 01/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

Auf der Flucht

Dürre und steigende Lebenmittelpreise haben am Horn von Afrika zu einer dramatischen Hungerkatastrophe geführt. In Kenia sind die Flüchtlingslager hoffnungslos überfüllt, während Somalia wegen des Bürgerkriegs von Hilfslieferungen abgeschnitten ist.

von Franziska Ulm und Kristina Schmidt


Die Nahrungsmittelknappheit am Horn von Afrika hat in den vergangenen Monaten dramatische Ausmaße angenommen. Eine lang anhaltende Dürre und Missernten bei gleichzeitig steigenden Lebensmittelpreisen haben laut den Vereinten Nationen zur größten Hungerkatastrophe in der Region seit 20 Jahren geführt. Der bewaffnete Konflikt in Somalia trägt zusätzlich zur Verschärfung der Lage bei. Die andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Rebellengruppen, Warlords, Clanchefs und Truppen der somalischen Übergangsregierung sowie der Afrikanischen Union machen insbesondere die Gegend in Süd- und Zentralsomalia unsicher und erschweren die Arbeit von Hilfsorganisationen. Hilfslieferungen von humanitären Organisationen müssen wegen der prekären Sicherheitslage immer wieder eingestellt werden. Zudem verhindert die Piraterie vor der Küste Somalias, dass die hungerleidende Bevölkerung über den Seeweg mit Hilfsgütern versorgt werden kann.

Allein innerhalb Somalias befinden sich rund 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Mehr als 900.000 Somalier wurden inzwischen vom UNHCR als Flüchtlinge in den angrenzenden Nachbarstaaten registriert. Hinzu kommen jene, die unregistriert in den Nachbarländern leben.

Von dieser Entwicklung ist vor allem Kenia betroffen, das im Vergleich zu den anderen Nachbarländern Somalias die meisten Menschen aufgenommen hat - eine halbe Million Flüchtlinge wurden dort inzwischen registriert. In dem ursprünglich für 90.000 Personen ausgelegten Lager Dadaab, im Nordosten Kenias, leben mittlerweile mehr als 460.000 Flüchtlinge. Und täglich kommen im Schnitt rund tausend neue Hilfesuchende dazu.

Das Camp, das schon seit über zwei Jahrzehnten existiert, besteht eigentlich aus den drei Lagern Ifo, Dagahaley und Hagadera. Um der ständig wachsenden Zahl von Flüchtlingen zu begegnen, wurde inzwischen eine Erweiterung des Ifo-Lagers eröffnet. Dorthin werden vor allem jene gebracht, die nur noch außerhalb der Flüchtlingslager Platz fanden. Bis Ende November soll ein viertes Lager, Kambioos, fertiggestellt sein, das 90.006 Flüchtlingen Platz bietet und die anderen Camps entlasten soll. Das UNHCR hat bereits mit der Verlegung von Flüchtlingen nach Kambioos begonnen.

Einige Flüchtlinge warten seit mehreren Monaten auf ihre Aufnahme in das Camp. Neuankömmlinge werden im besten Fall notdürftig unter Plastikplanen und Moskitonetzen untergebracht, in denen sie kaum vor der heißen Sonne oder vor schlechtem Wetter geschützt sind. Die Situation ist angespannt, Nahrungsmittel sind knapp, die sanitären Einrichtungen sowie die Infrastruktur sind angesichts der Überfüllung unzureichend. Die medizinischen Einrichtungen haben ihre Kapazitätsgrenze längst erreicht. Das Angebot an psychosozialer Betreuung und Beratung ist angesichts der Schwere der Traumata, die die große Mehrheit der aus Somalia kommenden Flüchtlinge erlitten hat, verschwindend gering.

Wegen der Überfüllung haben auch Unsicherheit und Kriminalität zugenommen. Somalische Flüchtlinge und humanitäre Organisationen melden Diebstähle, sexuelle Gewalt und Zwangsverheiratungen von Minderjährigen. Es gibt in den Lagern nicht genügend Polizisten, die die Sicherheit der Bewohner garantieren könnten. Daneben berichten Flüchtlinge auch von Übergriffen durch kenianische Sicherheitskräfte in den Lagern und in deren Umgebung, die weitgehend ungeahndet bleiben.

Manche Flüchtlinge leben schon seit ihrer Geburt im Camp. Das Leben außerhalb der Lager ist vielen von ihnen fremd. Dies liegt zum Teil daran, dass es ohne besondere Genehmigung nicht erlaubt ist, Dadaab zu verlassen. Wollen Flüchtlinge das Lager verlassen, so müssen sie einen Passierschein beantragen. Diesen erhalten zum Beispiel Schüler und Studenten, die nachweislich über ein Stipendium oder einen Platz in einer schulischen Einrichtung außerhalb des Lagers verfügen, oder Personen, die eine medizinische Versorgung benötigen, die in den Camps nicht verfügbar ist. Zudem kann aus familiären Gründen ein Passierschein beantragt werden. Flüchtlingen, die das Lager ohne Erlaubnis verlassen, droht die Inhaftierung oder Abschiebung durch die kenianischen Behörden.

Trotz der anhaltenden Krise im Nachbarland entschied sich die kenianische Regierung im Jahr 2007, die Grenze zu Somalia zu schließen. Daraufhin wurde auch das vom UNHCR verwaltete Transitzentrum für Flüchtlinge in Liboi geschlossen, einer Stadt im Norden Kenias, die 15 Kilometer von der somalischen Grenze entfernt liegt. Das Transitzentrum diente dazu, ankommende Flüchtlinge aus Somalia zu registrieren und ihnen eine Erstversorgung zu bieten, um der Verbreitung von Krankheiten vorzubeugen. Seit der Schließung des Transitzentrums müssen somalische Flüchtlinge aus eigener Kraft das rund 80 Kilometer entfernte Lager in Dadaab erreichen. Auf ihrem beschwerlichen Weg sind sie auf offener Straße nicht selten Übergriffen von Kriminellen, aber auch von kenianischen Sicherheitskräften ausgesetzt.

Insgesamt gelang es der kenianischen Regierung nicht, durch die Grenzschließung den Flüchtlingsstrom aus Somalia einzudämmen. Es hat sich für die kenianischen Behörden als unmöglich erwiesen, die 682 Kilometer lange Grenze effektiv zu überwachen.

Im Oktober 2009 erhielt Amnesty International Berichte, dass kenianische Sicherheitskräfte somalische Flüchtlinge für die Ausbildung zu Soldaten der somalischen Übergangsregierung rekrutieren würden. Der Verteidigungsminister in Nairobi gab zwar zu, dass Kenia die Übergangsregierung in Somalia durch die Ausbildung von somalischen Staatsbürgern für eine "paramilitärische Polizei" unterstützt habe, widersprach jedoch Berichten, dass Flüchtlinge unter den Rekruten gewesen seien.

Aber auch außerhalb der Lager ist das Leben für somalische Flüchtlinge nicht einfach. Somalische Asylbewerber müssen in Nairobi mit langwierigen Verfahren rechnen. Die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfolgt durch das UNHCR, das hierfür ein eigenes Verfahren anwendet. Wegen der großen Anzahl von Flüchtlingen, die auf ihre Registrierung warten, kommt es zu teilweise langwierigen Verzögerungen des Registrierungsverfahrens, das bis zu einem Jahr dauern kann.

Viele Somalier lassen sich jedoch gar nicht beim UNHCR registrieren. Einige sind sich ihres Rechts auf Asyl gar nicht bewusst. Andere befürchten, auf dem Weg zum UNHCR-Büro von der Polizei verhaftet und abgeschoben zu werden. Die kenianischen Nichtregierungsorganisationen, die kostenlose juristische Hilfe anbieten, erreichen die Flüchtlinge, die in der Illegalität leben, kaum. Hinzu kommt die Befürchtung vieler Kenianer, dass mit den Flüchtlingen auch die Konflikte aus dem Nachbarland sowie Kriminelle ins Land gelangen könnten. Dennoch ist die Hilfsbereitschaft für die somalischen Flüchtlinge in der kenianischen Bevölkerung sehr groß. Nach dem Ausbruch der Hungerkrise in Somalia spendeten Kenianer binnen zwei Wochen über drei Millionen Dollar für ihre Unterstützung.

Wegen der anhaltend schlechten Sicherheitslage in Somalia empfiehlt das UNHCR allen Ländern, in denen somalische Flüchtlinge Asyl suchen, einen gruppenorientierten Schutzansatz zu verfolgen. Das bedeutet, dass Abschiebungen nach Süd- und Zentralsomalia grundsätzlich unterlassen werden sollten, davon ausgehend, dass alle Personen, die sich in diesen Regionen aufhalten, bedroht sind.

Die verheerende, lebensbedrohliche Situation in Somalia scheint bei Teilen der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten zu sein. Denn trotz der Empfehlungen für einen Abschiebestopp nach Süd- und Zentralsomalia vom UNHCR und von Amnesty International wurden immer wieder somalische Flüchtlinge in ihre Heimat abgeschoben.

Kenianische Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Sicherheitskräfte des Landes in der Grenzregion Tausenden von somalischen Flüchtlingen die Einreise verweigern, bzw. sie zurückschicken. Im Jahr 2009 wurden mindestens 93 Asylsuchende nach Somalia abgeschoben. Im November vergangenen Jahres wurden über 3.000 Somalier von kenianischen Sicherheitskräften nach Somalia zurückgedrängt, obwohl die Flüchtlinge bereits vom UNHCR registriert wurden. Sie waren vor gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der regierungskritischen al-Shabaab-Miliz und der regierungsnahen Ahlu Sunna Wal Jamaa-Miliz geflohen.

Die kenianischen Behörden verweigern somalischen Flüchtlingen damit immer wieder das Recht auf Asyl. Doch Kenia ist nicht das einzige Land, das gegen das internationale Prinzip des "Non-Refoulement" verstößt. Auch Länder wie Schweden, Kanada, Großbritannien oder die Niederlande haben in der Vergangenheit versucht, Flüchtlinge nach Somalia abzuschieben.

Erst im Juni diesen Jahres urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Verfahren zweier somalischer Asylsuchender gegen Großbritannien, dass die britischen Behörden die Somalier nicht abschieben dürfen. Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung damit, dass jeder Flüchtling, der in die Bürgerkriegsgebiete Somalias abgeschoben werde, allein wegen der Unsicherheit vor Ort permanent dem Risiko von Misshandlung oder Lebensgefahr ausgesetzt sei und es ohne enge familiäre Beziehungen auch keine Möglichkeit zur Flucht innerhalb Somalias gebe.

Die große Zahl an Flüchtlingen, die Kenia, aber auch Äthiopien und Jemen in den vergangenen 20 Jahren aufgenommen haben, stellt für die genannten Länder eine große finanzielle, personelle und gesellschaftliche Herausforderung dar. Länder wie Deutschland, Australien oder die USA könnten Verantwortung übernehmen und die Erstaufnahmeländer entlasten, indem sie sich an dem Resettlement-Programm des UNHCR beteiligten. Bislang nehmen jedoch lediglich Australien, Neuseeland, Schweden und die USA somalische Flüchtlinge über Resettlement-Programme auf. In den vergangenen Jahren konnte dadurch lediglich ein Drittel der somalischen Flüchtlinge aus dem Resettlement-Programm an Drittstaaten vermittelt werden.

Darüber hinaus ist die internationale Gemeinschaft gefordert, die langfristige Finanzierung der Flüchtlingslager des UNHCR sicherzustellen und den Flüchtlingen eine Perspektive aufzuzeigen. Einige Flüchtlinge leben seit zwei Jahrzehnten in Dadaab und könnten auch die nächsten 20 Lebensjahre dort verbringen. Denn eine Lösung der Konflikte in Somalia ist nicht in Sicht. Damit diese Menschen nicht wieder vergessen werden, bis die nächste Katastrophe die Schlaglichter auf die Region am Horn von Afrika lenkt, muss die internationale Gemeinschaft jetzt die Weichen für ein Leben in Würde in den Flüchtlingslagern stellen.


Franziska Ulm ist Afrika-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion. Kristina Schmidt war mehrere Jahre für Amnesty tätig und hat einige Zeit in Kenia gelebt.


NON-REFOULEMENT
Das Prinzip des Non-Refoulement verbietet die Ausweisung, Auslieferung, Abschiebung, Zurückweisung oder andere Art der Rückführung einer Person in ein Land oder Territorium, in dem für die Person ein reales Risiko besteht, verfolgt zu werden oder ernsthaft zu Schaden zu kommen. Dieses Prinzip wird im Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) von 1951 und einer Vielzahl anderer internationaler Instrumente beschrieben. Außerdem wird das Prinzip des Non-Refoulement weithin als eine Norm des Völkergewohnheitsrechts angesehen.


44 MILLIONEN
Weltweit sind fast 44 Millionen Menschen auf der Flucht. Das UNHCR betreut Flüchtlinge und stellt dabei fest, dass einige Flüchtlinge besonders schutzbedürftig sind. Dazu gehören z.B. Kinder, kranke oder alte Menschen. Sie haben nicht die Perspektive, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Bei ihnen greift das sogenannte Resettlement-Programm. Das UNHCR vermittelt bei diesem Programm besonders schutzbedürftige Flüchtlinge unmittelbar aus ihrer Herkunftsregion in sichere Staaten, wo sie dauerhaft Aufnahme finden.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Flucht vor der Miliz. Der 45-jährige Maolim Adow Maolim unterrichtete in einer Koran-Schule in Somalia und hielt sich einige Rinder, als die al-Shabaab-Miliz die Macht im Land übernahm. Seine anfängliche Sympathie für die Miliz aufgrund seiner religiösen Einstellung änderte sich schnell. Sie zog durch die Dörfer und raubte das Vieh. Wer sich wehrte, risikierte getötet zu werden. Maolim hat zwei Ehefrauen und neun Kinder zu versorgen. Während der Dürre wurde die Versorgung immer schwieriger. Als die Miliz internationalen Hilfsorganisationen untersagte, Nahrungsmittel in die Hungerregionen zu liefern, floh er mit seiner Familie nach Dadaab. Mit seinen mitgebrachten Schreibtafeln unterrichtet er dort mittlerweile wieder als Koran-Lehrer.

Ohne Kühe gibt es keine Zukunft. Die 23-jährige Rahmo Ibrahim Abdi lebt mit ihren vier Kindern und ihrem Mann in Dadaab. Ursprünglich wollte sie Somalia nicht verlassen, auch als die meisten ihrer Nachbarn bereits nach Kenia geflüchtet waren. "Wir hatten früher hundert Kühe, mehr als die meisten Familien in unserer Gegend. Doch als die Kühe starben, hatten wir keine andere Wahl als das Land zu verlassen." Zuvor mussten sie die al-Shabaab um Erlaubnis fragen. "Wir erklärten ihnen, dass wir hungrig sind und nicht mehr wissen, wie wir uns ernähren sollen. Dann ließen sie uns gehen." Nach der mühseligen Fahrt nach Kenia erhalten ihre Kinder Nahrungsmittelhilfe vom UNHCR und erholen sich wieder.

Allein in der Wüste. Der 46-jährige Ali Maolim Hassan arbeitete in Somalia als Bauer. Auf seinen Feldern pflanzte er mit seiner Familie unter anderem Mais und Bohnen an, zudem hielt er Vieh. Wegen der Dürre musste er gemeinsam mit seiner Frau und seinen acht Kindern nach Kenia fliehen. Er verkaufte seinen Besitz und bezahlte damit die Fahrtkosten bis an die Grenze. Kurz bevor sie ein Flüchtingscamp erreichten, raubte der Fahrer sie aus und ließ sie in der Wüste zurück. Schließlich gelangte die Familie nach Dadaab. "Es ist jetzt ok - wir sind hier", sagt er.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2011/Januar 2012, S. 30-34
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2012