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AKTION/519: Urgent Action - Russische Föderation - Zwangsräumungen in Grosny


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-022/2011, AI-Index: EUR 46/005/2011, Datum: 4. Februar 2011 - gs

RUSSISCHE FÖDERATION
Zwangsräumungen in Grosny


DUTZENDE FAMILIEN IN GROSNY

In Grosny, der Hauptstadt der Republik Tschetschenien, haben die dortigen Behörden zahlreiche Familien aus ihren "vorübergehenden" Unterkünften vertrieben. Zahlreichen weiteren Menschen droht schon bald ein ähnliches Schicksal.

Am 14. Januar 2011 drangen bewaffnete und maskierte Männer in ein Wohnheim (obschezhitie) ein, in dem 100 Familien lebten, und teilten den BewohnerInnen offenbar unter Verweis auf einen Erlass des Präsidenten mit, sie müssten die Unterkunft räumen. Seitdem ist in Grosny weiteren Familien in mindestens sechs solcher Unterkünfte ebenfalls die Zwangsräumung angedroht worden. Den meisten wurde eine Frist von 48 Stunden gesetzt. Ersatzunterkünfte bot man ihnen nicht an. Die BewohnerInnen sollen Platz machen für Familien aus der Stadt Argun, die aus ihren dortigen Wohnungen vertrieben worden sind. Nach den beiden Kriegen in Tschetschenien in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zählten die Wohnheime zu den ersten Wohnanlagen, die man dort wieder in Stand gesetzt hatte. Sie sollten Binnenflüchtlingen, die ihr Hab und Gut verloren hatten, vorübergehend eine Bleibe bieten. In Ermangelung anderweitigen Wohnraums leben jedoch auch heute noch zahlreiche Familien in diesen Wohnheimen. Da es gesetzlich vorgeschrieben ist, den Wohnsitz anzumelden, sind die meisten der in den Wohnheimen lebenden Menschen jedoch unter ihrer früheren Adresse registriert. Diesen Umstand nutzen die Behörden Berichten zufolge als Vorwand, um die Menschen zu vertreiben und sie wieder dahin zurückzuschicken, "wo sie hergekommen sind". In einem kürzlich ausgestrahlten Fernsehinterview bezeichnete der vom Kreml ernannte tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow Familien, die sich gegen die Räumungen zur Wehr setzen, als unkooperativ und "undankbar".

Nach Angaben der russischen Nichtregierungsorganisation Memorial, die sich für die Menschenrechte engagiert, sind zwischen dem 14. und 21. Januar 62 Familien aus den Wohnheimen vertrieben worden. Es handelt sich vielfach um Familien mit Kindern oder um Familien, die auf eine Nachricht männlicher Angehöriger warten, welche seit Ende des Kriegs als vermisst gelten. Viele der Familien müssen ihren Lebensunterhalt mit weniger als 170 US-Dollar im Monat bestreiten, manchen stehen sogar nur 30 US-Dollar zur Verfügung. Zahlreiche weitere Familien müssen ebenfalls damit rechnen, in allernächster oder doch zumindest absehbarer Zeit vertrieben zu werden.

Vertreibungen wie die in Grosny verstoßen gegen innerstaatliches und internationales Recht. Gleichwohl scheuen die von Vertreibung betroffenen Menschen meist davor zurück, Beschwerde einzulegen und sich mit rechtlichen Mitteln gegen das Handeln der tschetschenischen Behörden zur Wehr zu setzen. Wer diesen Schritt wagt, muss damit rechnen, dass die Behörden Druck ausüben mit dem Ziel, ihn wieder rückgängig zu machen. Von einigen der von Zwangsräumung betroffenen Menschen sollen bewaffnete MitarbeiterInnnen der Polizeibehörden verlangt haben, schriftlich zu bestätigen, dass sie ihre Unterkünfte freiwillig verlassen haben.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Die Republik Tschetschenien ist seit 1994 Schauplatz zweier bewaffneter Konflikte gewesen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist in Tschetschenien eine Unabhängigkeitsbewegung entstanden, zu deren Niederschlagung Truppen der russischen Föderation in die Region entsandt wurden. Im Zuge daraufhin ausbrechender Kampfhandlungen wurde die tschetschenische Hauptstadt Grosny nahezu vollständig zerstört, und mehrere andere Städte in der Region wurden schwer beschädigt. Zahlreiche Menschen verloren ihre Wohnungen oder sonstiges Eigentum, tausende wurden intern vertrieben. Auch mehrere Jahre nach Beendigung der offenen Kampfhandlungen haben noch immer einige Menschen nicht in ihre Heimatorte zurückkehren können. Amnesty hat zudem erfahren, dass zahlreiche Menschen, die für den Verlust ihrer Wohnung finanziell entschädigt worden sind, bis zur Hälfte der Entschädigungsleistung für Bestechungsgelder wieder haben abgeben müssen. Viele Familien sind gänzlich ohne Entschädigung geblieben. Die Behörden im Nordkaukasus verfolgen die Politik, Binnenflüchtlinge wieder an ihren ursprünglichen Wohnorten anzusiedeln. Dabei werden Fragen nach Sicherheit sowie wirtschaftlichen und anderen Belangen nicht immer ausreichend berücksichtigt. So forderte beispielsweise im April 2006 der damalige tschetschenische Ministerpräsident Ramsan Kadyrow, die Behelfsunterkünfte für Binnenvertriebene zu schließen. Sie seien, so der Ministerpräsident, "ein Nährboden für Kriminalität, Drogenkonsum und Prostitution". Seitdem sind viele der Unterkünfte geschlossen oder in Wohnheime umbenannt worden, und die restlichen könnten möglicherweise ebenfalls bald ihren Betrieb einstellen. Amnesty hat bereits Besorgnis über die rechtswidrige Zwangsräumung von Binnenflüchtlingen geäußert.


EMPFOHLENE AKTIONEN

SCHREIBEN SIE BITTE E-MAILS, FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

- Ich bitte Sie eindringlich, Zwangsräumungen in den obschezhities in Grosny zu unterbinden, bis den dort lebenden Menschen angemessene Ersatzunterkünfte bereitgestellt werden.

- Ich fordere Sie auf, dafür Sorge zu tragen, dass keine Person unter Missachtung rechtsstaatlicher Verfahren, ohne angemessene Vorankündigung und Absprachen und ohne Bereitstellung einer angemessenen Ersatzunterkunft aus ihrer Wohnung vertrieben wird.

- Ich verweise auf die UN-Richtlinien für Binnenflüchtlinge, in denen es heißt, dass Binnenflüchtlinge das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard einschließlich Unterkunft und Grundversorgung besitzen und vor willkürlicher Vertreibung geschützt werden müssen.


APPELLE AN

PRÄSIDENT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
Dmitry A. Medvedev
Ul. Ilyinka, 23
Moscow 103132
RUSSISCHE FÖDERATION
(korrekte Anrede: Dear President Medvedev)
Fax: (007) 495 9102134 (Auskunftsbüro)
E-Mail: http://eng.letters.kremlin.ru/send

MINISTERPRÄSIDENT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
Vladimir V. Putin
Krasnopresnenskaia nab. d.2, str.2
Moscow 103274
RUSSISCHE FÖDERATION
(korrekte Anrede: Dear Prime Minister Putin)
Fax: (007) 495 6055243


KOPIEN AN

PRÄSIDENT DER REPUBLIK TSCHETSCHENIEN
Ramzan Kadyrov
Presidential Administration
Ulitsa Garazhnaya, 10
Grozny 8-8712
Republik Tschetschenien
(korrekte Anrede: Dear President Kadyrov)
Fax: (007) 8712 224553
E-Mail: http://www.chechnya.gov.ru/page.php?r=118

BOTSCHAFT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
S. E. Herrn Vladimir M. Grinin
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@Russische-Botschaft.de


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort.
Schreiben Sie in gutem Russisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 18. März 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY

- Urging the authorities to halt any further evictions of people from obschezhities in Grozny until such time as adequate alternative accommodation can be provided.

- Urging the authorities to ensure that no one is being evicted without due process, adequate notice, consultation and ensuring that all those affected have access to adequate alternative accommodation.

- Stressing UN-Guiding Principles on Internally Displaced Persons that such persons have the rights to an adequate standard of living, including basic shelter and housing, and ensure protection against arbitrary displacement.


Nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial sind die derzeitigen rechtswidrigen Zwangsräumungen auf ein groß angelegtes Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekt in der Stadt Argun zurückzuführen, mit dem am 21. Januar 2011 begonnen wurde. Im Zuge des Projekts sind mehrere Privathäuser abgerissen und einige der BesitzerInnen in staatliche Wohnblocks umgesiedelt worden. Deren BewohnerInnen wiederum sollen gezwungen worden sein, sich in Grosny in den Wohnheimen für Familien eine neue Unterkunft zu besorgen. Und den bislang dort lebenden Menschen droht nun die Zwangsräumung ohne eine angemessene Alternativunterkunft. Ihnen wurde nahegelegt, in die Dörfer zurückzukehren, in denen sie amtlich registriert sind, obwohl ihre dortigen Wohnungen nach wie vor zerstört sind. Die dortigen Behörden wurden Berichten zufolge angewiesen, für die betroffenen Menschen vorübergehend Wohnraum zu schaffen. Von der Regierung in Grosny erhielten sie jedoch keinerlei Unterstützung. Obdachlose Familien versuchen, vorübergehend bei FreundInnen und Familienangehörigen unterzukommen. Diese Möglichkeit steht jedoch nicht allen offen und mehrere Familien haben nach vorliegenden Meldungen keine Anlaufstelle. Sie sind gezwungen, trotz der bitteren Winterkälte mit ihren Habseligkeiten unter freiem Himmel auszuharren.


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-022/2011, AI-Index: EUR 46/005/2011, Datum: 4. Februar 2011 - gs
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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Fax: 030/42 02 48 - 330
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2011