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AKTION/735: Urgent Action - Großbritannien - Drohende Zwangsräumung


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-245/2011, AI-Index: EUR 45/013/2011, Datum: 15. August 2011 - gs

Großbritannien
Drohende Zwangsräumung


BIS ZU 86 FAMILIEN

Bis zu 86 nicht sesshaften Familien (Travellers), die derzeit in der Siedlung Dale Farm leben, droht die Zwangsräumung. Sollte die Räumung stattfinden, würden viele der bislang dort lebenden Menschen obdachlos oder blieben ohne eine angemessene Unterkunft. Am 4. Juli forderte die zuständige Behörde des Bezirks Basildon (Basildon Council) 86 in der Siedlung Dale Farm in Cray's Hill in Essex lebende Familien auf, die von ihnen bewohnten Grundstücke bis zum 31. August zu räumen. Von der Aufforderung sind zwischen 300 und 400 Menschen betroffen, die sich ohne Genehmigung dort angesiedelt hatten. In der entsprechenden Mitteilung heißt es, dass "während der Räumungen die Strom- und Wasserversorgung eingestellt" wird. Die Räumung müsse auch das Entfernen von Wohnwagen und anderen mobilen Unterkünften, den Abriss von Gebäuden und das Umgraben befestigter Bodenflächen beinhalten. Nach Angaben örtlicher Nichtregierungsorganisationen sind die Räumungsbefehle lediglich an die Wohnwagentüren geheftet und den betroffenen Familien nicht persönlich zugestellt oder ausgehändigt worden. Viele der Familien erklärten, sie seien des Lesens und Schreibens nur bedingt mächtig und hätten deshalb den von der Behörde im April verteilten Fragebogen nicht lesen und in seiner gesamten Dimension nicht begreifen können. Sollte die Räumung wie angedroht durchgeführt werden, stünden den bisherigen BewohnerInnen von Dale Farm keine angemessenen Ersatzunterkünfte zur Verfügung. Sie hätten keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen; die Kinder könnten keine Schule besuchen und schwer kranke Menschen nicht umfassend medizinisch betreut werden. Viele der BewohnerInnen fürchten, obdachlos zu werden. Angehörige der ethnischen Gruppe der Irish Travellers beklagen, auf breiter Front diskriminiert zu werden, und sind in Sorge, keine ihren kulturellen Gepflogenheiten gerecht werdende Unterkunft zu finden, falls es auf dem Verhandlungsweg zu keiner Einigung kommt. Mit den von der angedrohten Räumung betroffenen Menschen haben keine Beratungen über etwaige alternative und ihrer Kultur gemäße Wohnmodelle stattgefunden. Einigen sind konventionelle Wohnungen angeboten werden, die zu beziehen sie jedoch abgelehnt haben. Bislang hat die Behörde nicht allen der von Räumung betroffenen Menschen eine ihrer Kultur entsprechende Unterkunft angeboten. Am 5. August 2011 riefen der UN-Sonderberichterstatter über das Recht auf angemessenes Wohnen und die Unabhängige Expertin für Minderheitenfragen zum Abschluss einer an internationalen Menschenrechtsstandards orientierten Vereinbarung über die Umsiedlung der bis zu 86 Familien auf. Beide UN-ExpertInnen wiesen ausdrücklich auf die besonderen Bedürfnisse der schätzungsweise 110 betroffenen Kinder sowie der schwer erkrankten oder unter einer Behinderung leidenden Menschen hin.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Die Irish Travellers sind eine aus Irland stammende Volksgruppe, die nach britischem Recht als ethnische Gruppe anerkannt und geschützt ist. Viele der Irish Travellers leben in Wohnwagen - entweder mit offizieller Genehmigung auf dafür vorgesehenen Plätzen oder ohne behördliche Erlaubnis auf anderen Grundstücken. Gesetzesänderungen Mitte der 1990er Jahre, mit denen örtliche Behörden aus der Pflicht zur Bereitstellung von Plätzen für die Wohnwagen der Travellers entlassen wurden, haben dazu geführt, dass viele Travellers nun auf dafür nicht autorisiertem Gelände oder in dauerhaft angemieteten Wohnungen leben. Mit der Gesetzesnovelle wurden zudem die Befugnisse der Polizei erweitert, Travellers aus einem breiten Spektrum von Ländereien wie etwa Gemeindeland oder Autobahnrastplätzen zu vertreiben. Ähnlich wie Angehörige der in Großbritannien lebenden Roma und Gypsies sehen sich Travellers weitreichender Diskriminierung und erheblichen Hindernissen bei der umfassenden Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wie die auf Wohnraum, Schulbildung und Gesundheit ausgesetzt. Von Nichtregierungsorganisationen, internationalen Vereinigungen und Regierungen durchgeführte Studien haben nachgewiesen, dass in Großbritannien Roma, Gypsies und Travellers diskriminiert und ausgegrenzt werden.

Dale Farm ist die größte Traveller-Siedlung in Großbritannien. Sie befindet sich auf Ländereien, bei deren EigentümerInnen es sich um Travellers, Roma und Gypsies handelt. Das Gelände darf als Wohnraum genutzt werden und ist von der Behörde Basildon Council als Wohngebiet ausgewiesen worden. Demjenigen Teil von Dale Farm, aus dem nun bis zu 400 irische Travellers die Zwangsräumung droht, ist aufgrund örtlicher Bebauungsbeschränkungen die Nutzung als Wohngebiet versagt geblieben. Einige Menschen leben dort schon seit mehr als elf Jahren. Sie berichteten Amnesty International, niemals zuvor an einem Ort derart lange gewohnt zu haben. VertreterInnen von Amnesty International hielten sich im April und erneut im Mai in Dale Farm auf, nachdem die Behörden Basildon Council im März eine "Ortsbegehung" beschlossen hatte. Die Delegierten sprachen mit mehreren in Dale Farm wohnenden Travellers, Mitgliedern örtlicher Nichtregierungsorganisationen, VertreterInnen der Vereinigung Dale Farm Housing Association und Mitgliedern von Verbänden der Gypsies und Travellers. Die GesprächspartnerInnen gaben ihrer Befürchtung Ausdruck, dass die Zwangsräumung von Dale Farm den Kindern die Möglichkeit nimmt, weiterhin ihre langjährige Schule zu besuchen. Unter Umständen müssten sie sich in ein ganz neues Schulumfeld einleben, in dem die Gefahr der Diskriminierung gegeben sein könnte. An schweren Krankheiten leidende BewohnerInnen von Dale Farm äußerten die Befürchtung, in anderer Umgebung sei möglicherweise ihre medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet. Familien mit Kleinkindern wiederum treibt die Sorge um, dass sie zukünftig von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten sein könnten. Mehrere BewohnerInnen von Dale Farm erklärten, ihnen sei keine ihren kulturellen Bedürfnissen gerecht werdende Wohnalternative angeboten worden. Sie fürchten um den Zusammenhalt ihrer Großfamilien, wenn einige von ihnen nicht mehr in Wohnwagen, sondern in Häusern leben.


EMPFOHLENE AKTIONEN: SCHREIBEN SIE BITTE FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

- Bitte geben Sie Ihr Vorhaben der Zwangsräumung der Siedlung Dale Farm auf und schneiden Sie die Wohnwagen nicht von der Wasser- und Stromversorgung ab.

- Ich fordere Sie hiermit auf, regionalen und internationalen Menschenrechtsstandards zum Schutz vor Zwangsräumungen gerecht zu werden und sicherzustellen, dass geplante Räumungen nicht den internationalen und innerstaatlichen Verpflichtungen der örtlichen Behörden zur Verhinderung von Diskriminierung zuwiderlaufen.

- Ich bitte Sie, mit den BewohnerInnen von Dale Farm auf dem Verhandlungsweg eine Einigung anzustreben, die ihnen wirkliche Mitspracherechte zugesteht. Im Fall einer nicht abzuwendenden Räumung muss sichergestellt sein, dass die BewohnerInnen angemessene und ihrer kulturellen Identität gerecht werdende Ersatzunterkünfte beziehen können.


APPELLE AN

LEITER DER BEHÖRDE BASILDON COUNCIL
Bala Mahendran, Basildon Borough Council
The Basildon Centre, St. Martin's Square
Basildon, Essex SS14 1DL, GROSSBRITANNIEN
(korrekte Anrede: Dear Mr. Mahendran / Sehr geehrter Herr Mahendran)
Fax: - (00 44) 1268 294 747
E-Mail: bala.mahendran@basildon.gov.uk

SPRECHER DER BEHÖRDE
Tony Ball, Basildon Borough Council
The Basildon Centre, St. Martin's Square
Basildon, Essex SS14 1DL, GROSSBRITANNIEN
(korrekte Anrede: Dear Councillor Ball / Sehr geehrter Herr Ball) Fax: (00 44) 1268 294 350
E-Mail: membersupport@basildon.gov.uk


KOPIEN AN

PARLAMENTARISCHER UNTERSTAATSSEKRETÄR
Bob Neill MP, Department for Communities and Local Government, Eland House
Bressenden Place, London SW1E 5DU
GROSSBRITANNIEN
Fax: (00 44) 303 444 3986
E-Mail: bob.neill@communities.gsi.gov.uk

BOTSCHAFT DES VEREINIGTEN KÖNIGREICHS GROßBRITANNIEN UND NORDIRLAND
S.E. Herrn Simon Gerard McDonald
Wilhelmstr. 70, 10117 Berlin
Fax: 030-2045 7579
E-Mail: info@britischebotschaft.de


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 8. September 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE SEND APPEALS IMMEDIATELY

- urging the local authority to stop the planned forced evictions at Dale Farm and to refrain from cutting off water and electricity supplies to those caravans identified for eviction;

- calling on the authorities to comply with regional and international human rights standards on evictions; and to ensure that any proposed enforcement is in accordance with the local authority's anti-discrimination obligations under domestic and international law and;

- calling on the authorities to work towards a negotiated settlement with those living at Dale Farm which includes genuine consultation and, if an eviction is unavoidable, to ensure they have adequate alternative housing which allows them to express their cultural identity.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN - FORTSETZUNG

Laut Völkerrecht dürfen Zwangsräumungen nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn sämtliche Alternativen ausgeschöpft sind und eine wirkliche Konsultation mit den betroffenen Gemeinschaften stattgefunden hat. Die Behörden sind verpflichtet, ausreichende Fristen zu wahren, Rechtsmittel zuzulassen, angemessene und den kulturellen Besonderheiten der betroffenen Gemeinschaften Rechnung tragende Ersatzunterkünfte bereit zu stellen sowie Entschädigungen zu leisten. Sie müssen sicherstellen, dass keine Person infolge der Räumung obdachlos oder anderweitig in ihren Menschenrechten verletzt wird.

Amnesty International hat gegenüber den örtlichen Behörden und der britischen Regierung ihre Bedenken gegen die Zwangsräumung von Dale Farm erläutert. Basildon Council versicherte daraufhin, die Behörde werde keine Räumung dulden, "die einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellt oder in irgendeiner Weise nicht mit geltendem Recht vereinbar ist". Auf die Frage, wie die Behörde ihren Verpflichtungen aus internationalen und regionalen Abkommen und Standards zum Schutz der Menschenrechte nachzukommen gedenkt, blieben die VertreterInnen von Basildon Council eine Antwort schuldig. Die britische Regierung erarbeitet derzeit neue Planungsrichtlinien, die den Behörden vor Ort vermutlich stärkere Befugnisse zur Zwangsräumung übertragen werden. In Berichten hieß es, die geplante Räumung und die damit einhergehenden Maßnahmen könnten Kosten von bis zu 18 Millionen Britischen Pfund (gut 20 Millionen Euro) verursachen. SprecherInnen der Travellers erklärten, das Land sei für einen Bruchteil der Summe dem Basildon Council für andere Nutzungszwecke angeboten worden. Ihren Antrag, das Grundstück zur Unterbringung von BewohnerInnen der Siedlung Dale Farm zu nutzen, habe die Behörde jedoch abgelehnt. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung hat sich gegen die geplante Zwangsräumung von Dale Farm gewandt. Im März 2011 stattete eine auf der Grundlage des Rahmenabkommens zum Schutz nationaler Minderheiten tätige Arbeitsgruppe des Europarats der Siedlung Dale Farm einen Besuch ab.


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-245/2011, AI-Index: EUR 45/013/2011, Datum: 15. August 2011 - gs
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
Telefon: 030/42 02 48-306
Fax: 030/42 02 48 - 330
E-Mail: presse@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2011