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ASIEN/240: Wahlen in Indien - Amnesty zieht ernüchternde Bilanz bei Menschenrechten


Pressemitteilung vom 14. April 2009

Wahlen in Indien: Amnesty zieht ernüchternde Bilanz bei Menschenrechten


BERLIN, 14.04.2009 - Gemessen an den Versprechen vor der Amtsübernahme im Jahr 2004 ist die Bilanz der derzeitigen Regierungskoalition in Indien aus menschenrechtlicher Sicht ernüchternd. Darauf wies Amnesty International heute in einem Kurzbericht zum Land anlässlich der bevorstehenden Wahlen hin. Die Regierung der United Progressive Alliance (UPA: Kongresspartei und Verbündete) unter Premierminister Manmohan Singh stellt sich ab dem 16. April 2009 der Entscheidung der Wähler. Der Ausgang der Wahlen scheint offener denn je. Die Menschenrechtsorganisation führt zahlreiche Menschenrechtsverletzungen während der vergangenen Jahre auf, darunter widerrechtliche Tötungen, unverhältnismäßige Gewaltanwendung seitens der Polizei, Gewalt gegen Frauen und Schikanen gegen Menschenrechtsverteidiger.

Amnesty International kommt zu dem Schluss, dass die vorhandenen institutionellen Mechanismen den Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte nicht sicherstellen konnten. Gleiches gilt auch für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte: Die rasche Entwicklung einiger Wirtschaftszweige hat in den städtischen Gebieten hohe Erwartungen geweckt. Gleichzeitig führte der Aufkauf von Land und anderen Ressourcen für Industrie- und Entwicklungsprojekte in mehreren Bundesstaaten zu Protesten: So wird marginalisierten Bevölkerungsgruppen das Recht verwehrt, über geplante Projekte mitzubestimmen, und sie werden immer wieder Opfer von Zwangsumsiedlungen.


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Zur Lage der Menschenrechte in Indien

Eine aktuelle Kurzinformation von Amnesty International anlässlich der Wahlen in Indien am 16.04.2009

Indien ist ein Land mit reicher Kultur und vielfältigen Traditionen. Seit der Unabhängigkeit 1947 haben sich demokratische und rechtsstaatliche Strukturen verfestigt. Mit seiner aufstrebenden Wirtschaft gilt es als eine zukünftige Großmacht. Doch steht Indien in dieser Entwicklung vor großen Herausforderungen. Einige Akteure versuchen ihre Ziele auf Kosten anderer durchzusetzen. In diesem Konfliktfeld entladen sich politische und soziale Spannungen oft in blutigen Gewalttaten. Sozial schwache und marginalisierte Gruppen, Frauen, Dalits (Unberührbare), Adivasis (Stammesangehörige) und religiöse Minderheiten werden bedroht oder benachteiligt. Über 300 Millionen Menschen leben in Armut. Die Menschenrechte werden in vielerlei Hinsicht verletzt. Die Todesstrafe ist weiterhin in Kraft.


SICHERHEITSGESETZGEBUNG

Sicherheitsgesetze wie der 'Armed Forces (Special Powers) Act 1958' begünstigen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Das Gesetz ist in den zu "Unruhegebieten" erklärten Bundesstaaten des Nordostens (Manipur, Nagaland, Assam usw.) sowie in Jammu und Kaschmir in Kraft und verleiht staatlichen Sicherheitskräften die Befugnis zu unverhältnismäßigem Gewaltgebrauch. Widerrechtliche Tötungen, Verschwindenlassen und Folter bleiben weitgehend straffrei, es kommt nur in seltenen Fällen zu Untersuchungen.

Nach den Anschlägen von Mumbai im November 2008 ist das seit 1967 bestehende Antiterrorgesetz (Unlawful Activities (Prevention) Act) auf eine Weise verschärft worden, die internationale Menschenrechtsstandards verletzt. So werden z.B. "terroristische Handlungen" nur sehr vage definiert, die Untersuchungshaft für Terrorismusverdächtige wurde auf bis zu 180 Tagen ausgedehnt und in manchen Fällen gilt die Unschuldsvermutung nicht.


MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER

Menschenrechtsverteidiger sind immer wieder Schikanen, Folter und Misshandlungen durch Polizeikräfte ausgesetzt. Zum Beispiel der Anwalt Parvez Imroz, Begründer eines Vereins zur Aufklärung des Schicksals von "Verschwundenen" in Kaschmir, ist ständigen Bedrohungen ausgesetzt. Binayak Sen, ein Arzt und Verteidiger der Rechte der Adivasis im Bundesstaat Chhattisgarh, ist seit Mai 2007 nach dem drakonischen Chhattisgarh Special Public Security Act (2006) inhaftiert. Auch Menschen, die sich für die Landrechte von Kleinbauern und für Umweltschutz einsetzen, werden immer wieder Opfer von Misshandlungen durch die Polizei oder durch private Milizen.


STRAFLOSIGKEIT

Menschenrechtsverletzungen werden dort begünstigt, wo sie nicht gerichtlich verfolgt werden. Die Ahndung der widerrechtlichen Tötung von mehr als 2.000 Personen durch die Polizei im Punjab (1984-94) wird bis heute verschleppt. Im Bundesstaat Gujarat wird den meisten Opfern und Überlebenden der Pogrome von 2002, in denen Tausende von Muslimen attackiert und mehr als 2.000 getötet wurden, die Gerechtigkeit verweigert. Hoffnung gibt ein Gerichtsurteil vom Januar 2008, in dem 12 Täter zu langen Haftstrafen verurteilt und die Verstrickung der Polizei in die Vertuschung der Taten bewiesen wurde.


WIRTSCHAFTLICHE, SOZIALE UND KULTURELLE RECHTE

Die Realisierung wirtschaftlicher Großvorhaben geht häufig mit der Verletzung von Menschenrechten (z.B. dem Recht auf Wohnen) einher. Interessen und Rechte der betroffenen Bevölkerung (oft Adivasis und Dalits) werden missachtet. Kompensationszahlungen für Umsiedlungen bzw. Zwangsräumungen sind unzureichend, werden verzögert oder bleiben ganz aus. Wie die Auseinandersetzungen um Staudammprojekte (z.B. Narmada), den Bau von Fabriken (z.B. in Nandigram, Westbengalen) und die Förderung von Bodenschätzen (z.B. in Orissa) verdeutlichen, wird friedlichem Protest von staatlicher Seite oft mit übermäßiger Härte begegnet. Neue gesetzliche Regelungen, wonach die Betroffenen ein Recht auf Information über geplante Industrieprojekte haben, werden von den Behörden in der Regel ignoriert.

Die Opfer des Giftgasunglücks in Bhopal 1984 warten bis heute vergebens auf ausreichende medizinische Betreuung, Versorgung mit unkontaminiertem Wasser sowie angemessene Entschädigungszahlungen.


TODESSTRAFE

Auch wenn es seit August 2004 keine Hinrichtung mehr gegeben hat, hält Indien doch an der Todesstrafe fest und hat im Dezember 2008 in der UN-Generalversammlung gegen eine Resolution zur Einführung eines weltweiten Hinrichtungsmoratoriums gestimmt. Obwohl die Regierung angibt, dass die Todesstrafe "nur noch äußerst selten" verhängt werde, wurden 2008 mindestens 70 Menschen zum Todes verurteilt, im Jahr 2007 waren es mehr als 100 Personen. Nach einem umfassenden Bericht der indischen Sektion von Amnesty International aus dem Jahr 2008 erscheint die Verhängung der Todesstrafe oft willkürlich, ähnliche Verbrechen können sehr unterschiedliche Urteile nach sich ziehen.


MINDERHEITEN

Nicht nur Muslime, auch Christen sind in der letzten Zeit zunehmend zu Opfern der Gewalt geworden. Nach der Ermordung eines Hinduführers in Orissa im August 2008 waren die christlichen Gemeinden des Gebiets in den darauffolgenden Monaten einer Welle der Gewalt seitens hindu-nationalistischer Gruppen ausgesetzt, die mindestens 25 Todesopfer forderte. Auch in anderen Bundesstaaten kommt es immer wieder zu Gewalt gegen Minderheiten. Im westlichen Karnataka kam es zur Zerstörung christlicher Zentren; ethnische Minderheiten und Migranten waren besonders in Assam und Maharashtra Ziele von Übergriffen.


AMNESTY INTERNATIONAL FORDERT DIE INDISCHE REGIERUNG AUF:

alle gewaltlosen politischen Gefangenen unverzüglich und bedingungslos freizulassen;
alle politischen Gefangenen zügig und in fairer Weise vor Gericht zu stellen;
alle Vorwürfe im Zusammenhang mit Folterungen, Vergewaltigungen, Todesfällen im Gewahrsam und extralegalen Hinrichtungen vollständig und unabhängig untersuchen zu lassen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen;
alle Todesurteile umzuwandeln und die Todesstrafe abzuschaffen;
Anti-Terror-Gesetze in Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards zu bringen;
dafür Sorge zu tragen, dass Menschenrechtsverteidiger in Indien ihre wichtige Arbeit zukünftig ohne Furcht vor Schikane, Bedrohung und Verfolgung und ohne Gefahr für Leib und Leben tun können;
die Massaker im Unionsstaat Gujarat unabhängig und vollständig aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 14. April 2009
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2009