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ASIEN/248: Londoner Afghanistan-Konferenz - Rechtsstaatliche Strukturen Voraussetzung für Sicherheit


Pressemitteilung vom 25. Januar 2010

Amnesty-Forderungen an die Afghanistan-Konferenz am 28.01. in London

Londoner Afghanistan-Konferenz: Rechtsstaatliche Strukturen sind Voraussetzung für Sicherheit


Berlin, 25.01.2010 - Konsequenter Schutz von Zivilisten, kompromisslose Untersuchung von zivilen Todesfällen bei Kampfhandlungen, transparente Handhabung von Entschädigungen und die angemessene Beteiligung der Afghanen selbst - das sind Kernforderungen von Amnesty International an die internationale Afghanistan-Konferenz am 28. Januar in London. "Der Schutz der Zivilbevölkerung und die Einhaltung der Menschenrechte müssen in London ganz oben auf der Tagesordnung stehen", sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. "Wir hoffen, dass Außenminister Guido Westerwelle hier zu seinem Wort steht. Außerdem muss die afghanische Zivilgesellschaft in London angemessen Gehör finden."

Amnesty forderte den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai auf, mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft vorrangig das Problem der Straflosigkeit anzugehen. Karsai besucht am 26./27. Januar Deutschland. "Wer in Menschenrechtsverletzungen verstrickt ist, darf kein Volksvertreter werden oder öffentliche Ämter bekleiden; das sollte die Bundesregierung gegenüber Karsai ansprechen", sagte Lüke. "Die Kandidaten für die anstehenden Parlamentswahlen müssen daraufhin überprüft werden." Auch die Beschwerdekommission des Parlaments muss gestärkt werden. Dort sind seit 2004 zwar tausende Beschwerden über Parlamentarier eingegangen, denen Menschenrechtsverletzungen und Verbindungen zu Milizen vorgeworfen werden. Diesen wird jedoch nicht nachgegangen.

"Polizei, Justiz, Gefängnisse - viel ist in diesen Bereichen bisher schief gelaufen, und nur wenige Erfolge sind zu verzeichnen" sagte Lüke weiter. "Hier ist ein größeres Engagement erforderlich, das sich klar an den Menschenrechten orientiert." Amnesty begrüßt, dass sich die Bundesregierung stärker beim Aufbau der Polizei in Afghanistan engagieren will. "Genauso wichtig wie mehr Geld und Ausbilder sind aber die Inhalte der Ausbildung: Sie muss ein grundlegendes Verständnis der Menschenrechte und der polizeilichen Pflichten und Beschränkungen gegenüber den Bürgern vermitteln. Außerdem brauchen wir ein Monitoring nach der Ausbildung, damit der Effekt nicht sofort wieder verpufft."

Auch für die Behandlung von Gefangenen fordert Amnesty International ein wirksames Monitoring. "Die ISAF-Truppen sollten keine Festgenommenen an afghanische Behörden überstellen, solange die Gefahr von Folter und Misshandlung besteht."


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Londoner Afghanistan-Konferenz - Deutschlands Engagement ist gefragt

Amnesty International Deutschland, Human Rights Watch und medica mondiale rufen entsprechend ihres jeweiligen Mandates die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 in London für die Umsetzung der folgenden Forderungen einzusetzen:

Stärkung der Eigenverantwortung und Partizipation der Afghanen und Afghaninnen Zentraler Punkt der Konferenz sollte es sein, die Anliegen und Forderungen der Afghaninnen und Afghanen selbst zu hören und diese in die zu verabschiedenden Strategien aufzunehmen. Die Stärkung der Eigenverantwortung der afghanischen Bevölkerung muss Ziel jeden Engagements sein. Folgende Maßnahmen sind dafür von Bedeutung:

Im Vorfeld der Konferenz muss sichergestellt werden, dass die afghanische Zivilgesellschaft als Konsultationspartner zu der Konferenz eingeladen wird und eine wichtige Rolle einnimmt. Insbesondere Vertreterinnen von lokalen Frauenorganisationen sollten gehört werden und die Interessen der Afghaninnen zu allen Themen einbringen können. Auch in weiteren, für die Zukunft Afghanistans wichtigen Strategieprozessen und Verhandlungen mit extremistischen Gruppierungen sollte die afghanische Zivilgesellschaft frühzeitig eingebunden und ihre Anliegen ernst genommen werden. Insbesondere lokale Frauenorganisationen sollten hier berücksichtigt werden. Frauenrechte sollten nicht zum Spielball politischer Interessen gemacht werden.

Die Partizipation gerade von Frauen an politischen Prozessen wie z.B. den Wahlen und an Friedensgesprächen sollte durch Bildungsangebote, Austauschprogramme und weiteren Maßnahmen gefördert werden. Das National Solidarity Programme (NSP), das eines der erfolgreichsten und wichtigsten Programme für die Stärkung der Eigenverantwortung und nachhaltigen Entwicklung ist, sollte weiter unterstützt werden. Die Einbeziehung lokaler Frauenorganisationen ist ein Hauptziel des NSP, Engagement in diesem Bereich sollte weiterhin gezielt gefördert werden.

Die afghanische Regierung muss mit Unterstützung der Vereinten Nationen und anderer Geberländer mit besonderem Augenmerk die Sicherheit von Kandidatinnen und Wählerinnen bei den Parlamentswahlen 2010 gewährleisten. Zudem sollten adäquate Maßnahmen ergriffen werden, um die Beteiligung von Frauen an diesen Wahlen sicherzustellen.


Stärkung des Polizeiaufbaus

Die Bundesregierung sollte sich bei der Londoner Afghanistan-Konferenz für verstärkte Anstrengungen beim Polizeiaufbau einsetzen, und von deutscher Seite sollte mehr als bisher geplant investiert werden. Der Schutz der Bürger muss in den Mittelpunkt der Polizeiarbeit gerückt werden. Folgende Maßnahmen sind für den Aufbau einer nach rechtsstaatlichen Prinzipien arbeitenden Polizei von besonderer Bedeutung:

Die Polizeiausbildung sollte nicht von Übungen zur Aufstandsbekämpfung oder paramilitärischem Training dominiert werden; der Fokus sollte vielmehr auf einer grundlegenden Ausbildung hinsichtlich der gesetzlichen polizeilichen Pflichten liegen.

Menschenrechte sollten als zentraler Teil der Aus- und vor allem auch Fortbildung gelehrt werden. Die Menschenrechtsbildung sollte praxisnah und landesweit nach einheitlichen Standards erfolgen. In besonderer Weise berücksichtigt werden sollten Gender- und Frauenrechtsthemen. Bei einem auf die Ausbildung folgenden Monitoring sollten die Einhaltung von Menschenrechten bzw. rechtsstaatlicher Prinzipien ein zentrales Thema sein.

Es sollte mit Priorität die Einsetzung einer Ombudsperson verfolgt werden, um eine funktionierende und transparent arbeitende Beschwerdestelle für die Bevölkerung zu schaffen. Die Stelle sollte von Polizisten begangenen Menschenrechtsverletzungen nachgehen bzw. auch im Fall von Untätigkeit der Polizei bei Menschenrechtsverletzungen durch Dritte aktiv werden.

Folter und Misshandlungen durch Polizeibeamte muss mit einer Null-Toleranz-Strategie begegnet werden. Entsprechende Vorfälle müssen strafrechtlich geahndet werden.

Die afghanische Polizei muss durch einen erhöhten Frauenanteil aufgestockt und Polizeistationen, zu denen ausschließlich Frauen Zugang haben, (Family Response Units) sollten durch spezielle Trainings, gezielte Betreuung und Förderung sowie durch Monitoring ihrer Arbeit gefördert werden.

Polizeikräfte müssen angemessen bezahlt werden. Korruption bei der Polizei sollte bestraft und korrupte Polizisten aus der Polizei entlassen werden.


Gefängnisaufbau

Die Bundesregierung sollte im Rahmen der Londoner Konferenz sowohl gegenüber der afghanischen Regierung, aber auch der Internationalen Gemeinschaft darauf drängen, dass zügig erhebliche Verbesserungen im bislang völlig vernachlässigten Bereich des Gefängnisaufbaus und zum Vorgehen bei Inhaftierungen erreicht werden. Kernpunkte dafür sind:

Die UN-Mindeststandards zur Behandlung von Gefangenen müssen in afghanischen Gefängnissen umgesetzt werden.

Menschenrechtsprinzipien und deren praktische Umsetzungen müssen Eingang in die Reform des inländischen Geheimdienstes National Directorate of Security (NDS) finden.

Unabhängige Beobachter für das Gefängnissystem - wie etwa die Afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes - sollten uneingeschränkten Zugang zu allen Haftanstalten, auch der des NDS, erhalten.

ISAF sollte keine festgenommenen Personen an afghanische Behörden überstellen, solange die Gefahr von Folter und Misshandlungen in afghanischem Gewahrsam gegeben ist. Für Personen, die bereits übergeben wurden, muss ein Monitoring erfolgen.


Straflosigkeit/Transitional Justice

Durch die mangelnde Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen besteht weiterhin ein Klima der Straflosigkeit in Afghanistan, das weitere Menschenrechtsverletzungen fördert. Die Bundesregierung sollte hier auf entschiedeneres Vorgehen Afghanistans, aber auch der Internationalen Gemeinschaft drängen. Konkrete Maßnahmen sind:

Die afghanische Regierung sollte zur Wiederbelebung des "Action Plan on Justice, Peace and Reconciliation" aufgefordert werden.

In Zusammenarbeit mit dem afghanischen Parlament sollte darauf hingearbeitet werden, die Rücknahme der Amnestieresolution zu erreichen.

Es sollte ein funktionierender Mechanismus zur Überprüfung von Kandidaten für hochrangige öffentliche Ämter eingerichtet werden, inwieweit sie in Menschenrechtsverletzungen verstrickt waren oder sind. Ein solches Vetting muss im Vorfeld der Parlamentswahlen 2010 stattfinden.

Zivilgesellschaftliche Organisationen, die an der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, zur Versöhnung oder zur Unterstützung von Opfern arbeiten, sollten verstärkt Unterstützung erhalten.

Beschäftigungsverhältnisse mit privaten Vertragspartnern, die in Verbindung mit vergangenen und aktuellen Menschenrechtsverbrechen stehen, sollten beendet werden.

Für eine spätere Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen sollten Tatorte untersucht und mögliches Beweismaterial sichergestellt werden.


Schutz von Zivilisten

Seit dem Sturz der Taliban sind in einem vergleichbaren Zeitraum noch nie so viele Zivilisten (nach UN-Angaben mind. 1013) umgekommen wie im ersten Halbjahr 2009. Viele durch extremistische Gruppen wie z.B. die Taliban, viele aber auch durch internationale Truppen (31%). Die Bundesregierung sollte sich zu einem verbesserten Schutz der afghanischen Zivilbevölkerung im Rahmen der Londoner Konferenz für die Umsetzung der folgenden Empfehlungen einsetzen:

Die neue ISAF-Direktive zum Schutz der Zivilbevölkerung muss konsequent umgesetzt werden.

Es muss ein transparenter und landeseinheitlicher Untersuchungsmechanismus entwickelt werden, anhand dessen jeder Fall der Tötung oder Verwundung eines Zivilisten sowie Fälle von Eigentumsbeschädigungen durch internationale Truppen umfassend untersucht werden.

Es sollte ein transparenter und einheitlicher Mechanismus zur Entschädigung für Tötungen, Verwundungen und Eigentumsbeschädigungen geschaffen werden.


Stärkung der Rechte der Frauen und Mädchen

Die Internationale Gemeinschaft muss ihr Versprechen einlösen, gerade für die Frauen und Mädchen in Afghanistan eine Verbesserung ihrer Situation zu erreichen. Um dies zu gewährleisten, müssen die folgenden Maßnahmen ergriffen werden:

Die afghanische Regierung und die Geberländer sollten der Förderung und dem Schutz von Frauenrechten beim Wiederaufbau des Landes und in ihren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Strategien eine zentrale Stellung einräumen.

Die afghanische Regierung sollte dazu gedrängt werden, die staatliche Registrierung von Ehen leichter zugänglich und obligatorisch zu machen.

Der afghanische Präsident sollte die Freilassung aller Frauen und Mädchen anordnen, die wegen des Vorwurfs, sie seien "von Zuhause weggelaufen", inhaftiert sind. Ein solcher Straftatbestand existiert nicht im afghanischen Recht. Zudem sollten sie eine offizielle Entschuldigung sowie eine Entschädigung erhalten.

Die afghanische Regierung sollte mit Unterstützung der Geber die Anzahl und die geographische Verbreitung von Mädchenschulen verbessern.

Es sollten mehr Sekundarschulen für Mädchen gebaut und das Anwerben und die Ausbildung von Lehrerinnen beschleunigt werden.

Es muss mit der afghanischen Regierung darauf hingearbeitet werden, dass eine konsequente strafrechtliche Verfolgung von Gewaltverbrechen gegen Frauen stattfindet. Die afghanische Regierung sollte mit Unterstützung der internationalen Geber eine groß angelegte Kampagne starten, die klarstellt, dass Vergewaltigung eine Straftat ist und die entsprechendes Bewusstsein bei den Exekutivorganen, Richtern, Beamten, dem Parlament und der afghanischen Öffentlichkeit schafft.

Die Bundesregierung sollte sich an der Finanzierung des UNIFEM-Fonds zu Elimination of Violence Against Women (EVAW), aus dem auch UNIFEM in Afghanistan Gelder bezieht, und des Fonds für Menschenrechtsverteidigerinnen (Urgent Response Fund) beteiligen.


Korruptionsbekämpfung

Von Seiten der Internationalen Gemeinschaft muss sichergestellt werden, dass keine unmittelbare Unterstützung für und Zusammenarbeit mit korrupten War-Lords und Provinzfürsten erfolgt. Afghanische Kooperationspartner müssen vor der Zusammenarbeit diesbezüglich genau überprüft werden.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 25. Januar 2010
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2010