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ASIEN/265: Der Preis des Fortschritts (ai journal)


amnesty journal 01/2013 - Das Magazin für die Menschenrechte

Der Preis des Fortschritts

Von Michael Gottlob



Im indischen Bundesstaat Chhattisgarh geraten indigene Gemeinden zwischen die Fronten eines Bürgerkriegs. Den Behörden gelten sie schnell als Unterstützer der maoistischen Guerilla, wenn sie Umweltschäden und Enteignungen infolge industrieller Großprojekte kritisieren.


In Indien kämpfen Angehörige indigener Völker um die Anerkennung und Durchsetzung ihrer Rechte, während staatliche und private Investoren große Infrastrukturprojekte verfolgen und nach Bodenschätzen suchen. So stoppte im August 2010 der indische Umweltminister Pläne des Rohstoffkonzerns Vedanta Resources, der im Gebiet der Dongria Kondh im Bundesstaat Orissa Bauxit abbauen wollte. Das Erz aus den Niyamgiri Hills sollte eine nahegelegene Aluminiumraffinerie versorgen, die auf die sechsfache Kapazität erweitert werden sollte. Gegen die Entscheidung des Ministers legte die Orissa Mining Corporation, ein staatlicher Joint-Venture-Partner von Vedanta Resources, im April 2011 Einspruch beim Obersten Gerichtshof Indiens ein (siehe Amnesty Journal 2/2012).

Wie das Gericht entscheiden wird, ist nicht nur für die Dongria Kondh von großer Bedeutung, sondern für die Adivasi-Gemeinschaften in ganz Indien. Denn in ihren Siedlungsgebieten liegen einige der wichtigsten Rohstoffvorkommen des Landes. Zu den Adivasis, den "Ureinwohnern" Indiens, zählen mehr als 80 Millionen Menschen - sie machen einen Großteil der indigenen Völker der Welt aus. Die indische Verfassung sichert ihnen besonderen Schutz zu. Um ihre politische Partizipation und gesellschaftliche Integration zu garantieren, sind für sie Parlamentssitze und Stellen im öffentlichen Dienst reserviert. Entwicklungsprojekte sollen ihre Lebensbedingungen verbessern.

Doch gerade diese Projekte wirken sich oft eher negativ auf die Situation der Adivasis aus. Seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 sind rund zehn Millionen Indigene im Zuge der Entwicklungspolitik aus ihrer Heimat vertrieben worden. Dabei dürfen die Siedlungsgebiete der Adivasis, die sogenannten "scheduled areas", gar nicht an Nicht-Adivasis verkauft und auch vom Staat nur für öffentliche Zwecke beansprucht werden. Das indische System der kommunalen Selbstverwaltung ist seit 1996 auf Adivasi-Gebiete ausgedehnt worden und vor jedem Landkauf durch den Staat müssen die Dorfräte oder Dorfversammlungen konsultiert werden. Was jedoch geschehen soll, wenn die Regierungspläne dort abgelehnt werden, ist nicht genau festgelegt. Oft genug ignorieren die Behörden eine Ablehnung des Dorfrats einfach.

Indien gehört nicht zu den Unterzeichnern der ILO-Konvention 169 und es hat auch der UNO-Erklärung über die Rechte indigener Völker von 2007 nur unter Vorbehalt zugestimmt. Im offiziellen Sprachgebrauch sind die Adivasis "scheduled tribes" ("Registrierte Volksstämme"). Andererseits hat Indien internationale Abkommen wie den Zivilpakt, den Sozialpakt, die Antirassismuskonvention und die ILO-Konvention 107 ratifiziert, die den von Investitionsprojekten Betroffenen ein Recht auf Konsultation und Kompensation einräumen.

Dass der Landerwerb für öffentliche Zwecke geregelt werden muss, wird von der Regierung durchaus anerkannt. Der "Land Acquisition Act", der noch aus der Kolonialzeit stammt, wird derzeit überarbeitet und im Parlament debattiert. Strittig ist vor allem, ob zu den öffentlichen Zwecken auch Großinvestitionen von Privatunternehmen zählen, für die der Staat Land ankauft. Doch selbst im Falle einer eindeutigen gesetzlichen Regelung sieht die Situation vor Ort oft völlig anders aus. Korruption ist weit verbreitet, viele Minen arbeiten ohne Konzession.

Besonders dramatisch ist die Situation in Chhattisgarh, einem an Orissa grenzenden Bundesstaat, der erst im November 2000 als eine Art "Homeland" für Indigene gegründet wurde. Ein Drittel der 20 Millionen Einwohner sind Adivasis. Auch hier gibt es große Vorkommen von Steinkohle, Eisenerz, Bauxit und anderen Rohstoffen, denen das Interesse indischer und internationaler Investoren gilt. Die Behörden des derzeit von der Indischen Volkspartei (BJP) regierten Bundesstaates gehen hart gegen Proteste vor, die sich gegen drohende Enteignungen richten.

Bereits auf krititische Äußerungen reagieren die Behörden mit repressiven Maßnahmen. Dies mussten im Mai 2011 die beiden Umweltaktivisten Ramesh Agrawal und Harihar Patel erfahren, die sich gegen die Umweltverschmutzung durch bestehende Industrieanlagen gewandt und vor möglichen Gefahren durch neue Anlagen gewarnt hatten. Beide sind mittlerweile wieder frei, auch aufgrund einer Eilaktion von Amnesty.

Agrawal und Patel kritisierten den Ausbau eines Kohlekraftwerks des Unternehmens Jindal Steel and Power, im Zuge dessen Land enteignet werden sollte. Aus einem amtlichen Prüfbericht ging hervor, dass mit dem Ausbau der Anlage begonnen worden war, bevor die Behörden die notwendige Genehmigung erteilt hatten. Agrawal erwirkte daraufhin einen vorläufigen Baustopp. Als anschließend Klage gegen die Verzögerungen eingereicht wurde, kamen die beiden Aktivisten in Haft.

Die Anklage lautete auf "üble Nachrede", "Störung der öffentlichen Ordnung" und "Erzeugung von Unruhen und Panik". Tatsächlich ist es ein weitverbreitetes Mittel, Kritiker und friedliche Demonstranten zu kriminalisieren, um legitimen Protest zu unterbinden. Oft werden Menschenrechtsverteidiger in die Nähe der Naxaliten gerückt, einer maoistischen Guerillagruppe, die sich als Vorkämpfer für die Adivasis ausgibt und mittlerweile große Teile Zentralindiens kontrolliert. Ihr Schwerpunkt sind die waldreichen Gebiete im Süden Chhattisgarhs. Zur Bekämpfung der Guerillagruppe werden nicht nur Truppen der Central Reserve Police Force eingesetzt, sondern auch die private Miliz Salwa Judum, die inzwischen vom Obersten Gerichtshof verboten wurde. Der Miliz gehören teilweise auch Adivasis an, ebenso wie der maoistischen Guerilla.

Auf diese Weise geraten Adivasis leicht zwischen die Fronten des Bürgerkriegs und gelten entweder als Terroristen oder als Verräter. Infolge der Kämpfe zwischen Maoisten und paramilitärischen Verbänden wurden in Chhattisgarh seit 2005 mindestens 800 Menschen getötet und mehr als 30.000 Adivasis aus ihren Gebieten vertrieben.

Ein mutiger Adivasi-Aktivist, der die Menschenrechtsverletzungen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure dokumentiert hat, ist Kartam Joga. Das gewählte Mitglied der lokalen Selbstverwaltung von Dantewada listete mehr als 500 Fälle von Tötungen, sexueller Nötigung, Vergewaltigung, Zerstörung von Adivasi-Dörfern und massenhafter Vertreibung auf. Bei den Behörden hat er sich besonders unbeliebt gemacht, weil er die Verantwortlichen vor dem Obersten Gerichtshof Indiens zur Rechenschaft ziehen wollte. Er wurde seinerseits mit mehreren Klagen überzogen, die ihn mit Anschlägen der Naxaliten auf Polizeieinheiten in Verbindung brachten. Zur Zeit befindet er sich in Haft, ist aber von den meisten Anklagepunkten freigesprochen worden.


Der Autor ist Sprecher der Indien-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.

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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2012/Januar 2013, S. 38-39
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2013