amnesty journal 10/11/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte
Roma in Europa
Zahlen, Fakten, Kurzberichte
VERFOLGTE MINDERHEIT
Frankreich. Die Roma durften noch einige Habseligkeiten zusammenpacken, dann walzte ein Bulldozer ihre Unterkünfte nieder. Rund 20 Roma wurden Ende August in Lille festgenommen, die Hälfte davon Kinder. Ihnen wird illegales Kampieren auf städtischem Gelände vorgeworfen. Kurz zuvor vertrieb die Polizei in Marseille 40 Roma aus einer ehemaligen Lagerhalle und riss das Gebäude ab. In vielen französischen Städten spielen sich derzeit ähnliche Szenen ab. Im Juli hatte der französische Präsident Nicolas Sarkozy nach Ausschreitungen gegen die Polizei erklärt, das Verhalten "verschiedener fahrender Leute und Roma" stelle ein Problem dar. Die Regierung will deshalb die Hälfte der landesweit etwa 300 illegalen Lager auflösen und Roma im Fall von Straftaten "nahezu umgehend" abschieben. Bereits in den ersten beiden Wochen nach dieser Ankündigung wurden 40 Lager geräumt und rund 700 Roma nach Bulgarien und Rumänien abgeschoben.
Ungarn. In Ungarn steht derzeit eine Gruppe von Rechtsextremisten vor Gericht, die im vergangenen Jahr an verschiedenen Orten sieben Häuser in Brand steckten und dabei zahlreiche Schüsse abfeuerten. Ein fünfjähriges Kind und fünf Erwachsene wurden dabei getötet, fünf weitere Personen schwer verletzt - allesamt Angehörige der Roma. Die Ermittler halten es für ausreichend erwiesen, dass die Morde systematisch geplant waren.
Dänemark. Wegen "Bedrohung der öffentlichen Ordnung" hat Dänemark im Juli 23 rumänische Roma ausgewiesen und mit mehrjährigem Einreiseverbot belegt. Ihr Verbrechen: Sie hatten teils in einer nicht verschlossenen Fabrik übernachtet, teils illegal dort kampiert. Diese Vergehen stünden in keinem Verhältnis zur Strafe, kritisieren Rechtsexperten. Nun wollen die Ausgewiesenen den dänischen Staat wegen Verletzung ihrer Rechte als EU-Bürger verklagen.
GLOSSAR
Die Roma hatten nie einen eigenen Staat. Das Zusammengehörigkeitsgefühl basiert deshalb nicht auf ihrer geografischen Herkunft, sondern auf gemeinsamer Tradition, der Sprache und der Kultur. Romanes heißt die Sprache der Roma. Sie wird heute von rund zwei Drittel aller Roma als erste Muttersprache gesprochen. Die meisten Roma sind zweisprachig. Roma oder Rroma: Beide Schreibweisen sind korrekt. Die Schreibweise mit dem Doppel-R ist ursprünglich dem Sanskrit entlehnt. Roma werden häufig auch als "Zigeuner" bezeichnet. Der Begriff ist aber zumeist abwertend gemeint und wird von den Roma abgelehnt. Die Sinti sind eine Gruppe der Roma, die ebenfalls indische Wurzeln haben und vor allem in West- und Mitteleuropa leben. Dem nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma fielen in ganz Europa rund eine halbe Million Menschen zum Opfer.
WAS MACHT AMNESTY?
Amnesty International wendet sich in mehrfacher Hinsicht gegen die Diskriminierung von Roma. So kritisierte Amnesty die Segregation im slowakischen Bildungssystem, die zu einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Roma-Kindern auf Sonderschulen für geistig Behinderte führt. Die slowakische Regierung hat mittlerweile Maßnahmen angekündigt, um die Benachteiligung von Minderheiten im Bildungssystem zu bekämpfen. "Es ist das erste Mal, dass eine slowakische Regierung politischen Willen zeigt, gegen die ethnische Diskriminierung im Bildungswesen anzugehen, und diesen Zustand als Missstand im System ansieht", sagte dazu Barbora Cernusakova, Slowakei-Expertin bei Amnesty International. Auch die tschechischen Behörden haben auf einen Amnesty-Bericht über die Diskriminierung von Roma-Kindern im Schulsystem reagiert und wollen nun Reformen in Angriff nehmen. Amnesty kritisierte in dem Bericht, dass Roma-Kinder in vielen Orten Tschechiens in Sonderschulen eingeschult werden. Das tschechische Bildungsministerium lobte den Bericht und verpflichtete sich dazu, die sogenannten "Praxisgrundschulen" anzuweisen, nur noch Kinder mit "leichter geistiger Behinderung" aufzunehmen. "Alle anderen Kinder gehören in gewöhnliche Grundschulen", sagte die Ministerin Miroslava Kopicova in einer offiziellen Stellungnahme. Amnesty kritisiert zudem die oft menschenunwürdigen Wohnverhältnisse von Roma, wie beispielsweise in der zentralrumänischen Stadt Miercurea Ciuc. Auch in der serbischen Hauptstadt Belgrad bereiten die Behörden nach einer Serie rechtswidriger Zwangsräumungen gegenwärtig die Vertreibung einer weiteren informellen Roma-Siedlung vor. Mindestens 70 Häuser sollen abgerissen werden. Den dort ansässigen Familien droht deswegen die Obdachlosigkeit. Die Stadtverwaltung plant, alle informellen Roma-Siedlungen abzureißen, hat aber kein Konzept zum Schutz der Menschenrechte der Bewohner vorgestellt. Amnesty hat dagegen kürzlich eine Eilaktion gestartet.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die drohende Abschiebung von in Deutschland lebenden Roma in den Kosovo. Angehörige der Minderheit werden dort bis heute schwer diskriminiert. Sie haben große Schwierigkeiten, Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung zu erhalten. Sie besitzen in vielen Fällen keine Ausweispapiere, was zusätzlich zu ihrem Ausschluss aus der Gesellschaft beiträgt. Es existieren keine Anzeichen dafür, dass sich die Lage der Roma in naher Zukunft verbessern wird. Amnesty hat daher die Innenminister der Bundesländer aufgefordert, von einer zwangsweisen Rückführung der Roma in den Kosovo abzusehen und ihnen weiterhin in Deutschland Schutz zu gewähren.
Weitere Informationen auf www.amnesty.de/wohnen
Roma in Europa
Geschätzte Einwohnerzahl je Land und Bevölkerungsanteil
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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2010, S. 28-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2010