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GRUNDSÄTZLICHES/251: Kann man zu Toleranz erziehen? (ai journal)


amnesty journal 6/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Alle gegen alle
Kann man zu Toleranz erziehen? Dort, wo Vorurteile alltäglich sind, engagieren sich Jugendliche an einer Berliner Schule gegen Rassismus und Diskriminierung.

Von Rebekka Rust


Hier leben so viele Ausländer. Man weiß gar nicht mehr, in welchem Land man wohnt", sagt eine türkische Schülerin. Vehement widerspricht die 14-jährige Fatma *: "Ich würde mir keine Sorgen machen wegen der vielen Ausländer. Wir sind alle gleich, egal woher wir kommen. "Doch ihre Mitschülerin merkt an: "Wenn ich Deutsche wäre, würde ich so denken. In Kreuzberg leben schließlich mehr Ausländer als Deutsche."

Es ist Donnerstagnachmittag. Die Arbeitsgemeinschaft gegen Rassismus einer Schule im Berliner Stadtteil Kreuzberg hält ihr wöchentliches Treffen ab. Die Schüler lesen Zitate vor, in denen es um "Überfremdung", Kinderreichtum von Ausländern und deutsche Sitten geht. Sie sollen überlegen, welche Vorurteile hinter den Aussagen stecken. Der Lehrer Mark Schubert * leitet die AG, in der sich zwei Palästinenser, eine Vietnamesin und drei Türkinnen aus der achten Klasse engagieren. Zu ihnen gehört auch Fatma, die im Gegensatz zu ihren türkischen AG-Mitstreiterinnen kein Kopftuch trägt. Schubert unterstützt sie dabei, über Toleranz, Vorurteile und die Menschenrechte zu diskutieren. "amnesty international hat mich geprägt", sagt Schubert, der bereits in den siebziger Jahren eine ai-Gruppe gründete. In seiner Arbeit versucht er bis heute, das Thema Menschenrechtsbildung zu integrieren.

"Ausländer vermehren sich wie Karnickel", liest eine Schülerin vor und sagt: "Eine deutsche Freundin von mir hat auch fünf Kinder. "Mit kritischer Miene merkt Fatma an: "Ich bin Einzelkind und Türkin. Jeder soll die Freiheit haben, so viele Kinder zu bekommen, wie er will."

Aufmerksam verfolgt Schubert die Diskussion. Der kräftige Mann mit dem Schnauzbart ist seit Anfang der Achtziger Jahre Lehrer an der Schule. Als er von einer süddeutschen Kleinstadt unbedingt nach Berlin-Kreuzberg ziehen wollte, fragte ihn die Sekretärin der Senatsschulverwaltung verwundert: "Was wollen Sie denn da?" Schubert hatte genug vom Leben in der schwäbischen Provinz. "Ich muss immer mitmischen", lacht er. "Kreuzberg ist für mich der richtige Ort."

Dönerbuden und türkische Geschäfte säumen die Straßen im multikulturellen Kreuzberg. Nur in den Berliner Stadtteilen Wedding und Neukölln leben ähnlich viele Ausländer. Das spiegelt sich auch an der Schule wider: Von den Schülern hat die Hälfte einen Migrationshintergrund, in einigen Klassen sind es sogar 90 Prozent. Deutsche Eltern schicken ihre Kinder daher lieber auf andere Schulen. Ein Teufelskreis: Aus Angst, den Ruf weiter zu verschlechtern, weigert sich die Schule brisante Themen wie "Rassismus und Diskriminierung" öffentlich zu thematisieren. Das wäre "schulpolitisch fatal", heißt es. Lehrer wie Schubert stehen dadurch vor enormen Schwierigkeiten. Zwar darf er sich an seiner Schule in einer AG gegen Rassismus und Diskriminierung engagieren. Offen über die Themen sprechen darf er aber nicht.

Bei seinen Aktivitäten orientiert sich Schubert an der Menschenrechtsbildung von ai. Gemäß Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", fordert ai, dass Toleranz und Wertschätzung der Vielfalt einen zentralen Stellenwert in der Bildung erhalten - ein Ziel, das auch im Berliner Schulrecht enthalten ist. "Mit unserem pädagogischen Ansatz möchten wir auf Einstellungen und Handlungen einwirken", erläutert Sandra Reitz, ai-Expertin für Menschenrechtsbildung. Neben Standards für die Menschenrechtsbildung an Schulen hat ai auch Unterrichtsmaterialien für Lehrer entworfen. "Eine wichtige Rolle spielen offen geführte Diskussionen, Rollenspiele und das Sich-Hineinversetzen in andere", so Reitz. "Was jedoch in den Schulen an Menschenrechtsbildung passiert, hängt noch zu sehr von einzelnen, engagierten Lehrern ab."

Von Lehrern wie Mark Schubert. Gemeinsam mit Schülern aus der AG gegen Rassismus hat er zahlreiche Aktionen wie Filmvorführungen, Diskussionsrunden, Rollenspiele, Theaterworkshops und ein Anti-Rassismus-Seminar organisiert. Trotzdem kommen Schubert manchmal Zweifel, ob diese Aktivitäten die Probleme lösen können. "Die Situation hat sich verändert. Rassismus ist unterschwellig in unser Alltagsverständnis eingegangen." Zudem beobachte er eine neue Form von Antisemitismus. Oft berichten ihm Kollegen von Aussagen, die Schubert als "typische Hamas-Sprüche" bezeichnet: "Die Juden sollen ins Meer gehen", "Juden sind Schweine", oder "Warum sollen die Juden einen eigenen Staat haben?" Beschimpfungen mit "du Jude" und "du Opfer" seien an der Tagesordnung. Diesen Antisemitismus habe er bei seinen Schülern noch nicht thematisiert - aus Unsicherheit, wie er es am besten ansprechen könne. Hinzu kommen Feindseligkeiten nicht nur von "den Deutschen" gegenüber "den Ausländern": Türken und Araber beschimpfen sich, Polen beschimpfen die Türken, Russen wettern gegen die Araber, und Griechen gegen die Türken. In der Hierarchie ganz unten stehen die Schwarzen.

Schuberts Beobachtungen decken sich mit Ergebnissen einer Studie über "rechtsextreme Phänomene" in den Stadtteilen Friedrichshain-Kreuzberg, die in Berlin einen Bezirk bilden. Zwar ist Kreuzberg nach Auskunft von Gunter Kolbeck, Kriminalhauptkommissar des Landeskriminalamts Berlin, kein "kriminalgeographischer Raum rechtsextremistischer Bestrebungen". Schwerpunkte rechter Gewalt seien die Bezirke Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Pankow. Doch die Studie, die 2003 vom "Zentrum Demokratische Kultur" herausgegeben wurde, bestätigt einen alltäglichen Rassismus in Kreuzberg. Dieser bleibe zumeist unterschwellig - so, wie es für die schweigende Mehrheit typisch ist. Öffentlich zeige er sich vor allem in der Diskriminierung von Schwarzen.

Die Ergebnisse der Studie dokumentieren zudem einen Antisemitismus, der in allen sozialen und ethnischen Segmenten der Bevölkerung vertreten ist. "Jüdische Schüler werden in der Schule gemobbt und geschlagen", bestätigt auch Helga Seyb von der Organisation "ReachOut - Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus und Rassismus" in Kreuzberg. 95 Opfer rechtsextremer, rassistischer oder antisemitischer Gewalt hat Reachout 2006 berlinweit betreut. Die Zahl der Übergriffe sei in den vergangenen Jahren stark angestiegen, 26 gab es bereits in diesem Jahr. "Es gibt in Berlin keinen sicheren Bezirk mehr", lautet die Einschätzung von ReachOut - und das gelte auch für ganz Deutschland.

Die Organisation dokumentiert Übergriffe in einer "Chronik rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt", die weit über das hinaus geht, was in der Statistik des Landeskriminalamts erwähnt wird. Für das "Multikulti-Viertel" Kreuzberg werden in der Chronik im vergangenen Jahr zwei rassistisch motivierte Gewalttaten aufgeführt: Am 2. September fragten zwei Jugendliche ein junges Paar, ob sie "Kanaken" seien und bewarfen sie anschließend mit Glasflaschen. Beide wurden am Kopf verletzt und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Am 28. November wurde eine 27-jährige Türkin rassistisch beleidigt und geschlagen.

Dabei ist es ein Mythos, dass Taten wie diese nur von Jugendlichen ausgehen. ReachOut betont, dass die meisten Täter junge Erwachsene sind, die in der Regel in Gruppen von mindestens zwei Personen angreifen. Zudem gehen die Vorfälle immer seltener auf das Konto von organisierten Neonazis, die man auch an ihrem Äußeren erkennen kann. Statt Springerstiefel und Glatze sind bei rechtsextremen Jugendlichen heute sogar das Palästinenser-Tuch und das Che-Guevara-T-Shirt "in" - Kleidungsstücke, die früher der linken Jugendkultur zugerechnet werden konnten. Die Konsequenz: Es ist schwer, rassistische Motive hinter einer Tat zu erkennen. So beobachten die Mitarbeiter von ReachOut seit Jahren Prozesse, in denen scheinbar "normale" Jugendliche nur eine Bewährungsstrafe erhalten. "Selbst dann, wenn sie bedauern, dass der Ausländer, den sie zusammengeschlagen haben, noch am Leben ist", sagt Seyb. Oft würde die Strafe auf Bewährung damit begründet, das Opfer sei eben zur falschen Zeit am falschen Ort und die Tat nicht geplant gewesen.

ReachOut fordert daher seit langem, gerade diejenigen zu sensibilisieren und weiterzubilden, die mit Jugendlichen zu tun haben. "Sie müssen erkennen, was in den Köpfen der jungen Menschen vorgeht. Es reicht nicht mehr aus, nach Glatzen und Hakenkreuz-Symbolen Ausschau zu halten", sagt Seyb. Pädagogen befinden sich nach Einschätzung der Organisation in einer Schlüsselposition. Sie sollten engagierten Schülern den Rücken stärken und sie unterstützen, Aktionen gegen Rassismus und Diskriminierung ins Leben zu rufen.

Schuberts AG-Mitglieder stehen inzwischen breitbeinig und gestikulierend vor ihren Mitschülern und imitieren die schwarzen Rapstars, die sie aus Video-Clips kennen: "Wir sind aus Kreuzberg, wir sind hip und geil. Antirassismus, das ist unser Style", rappen sie im Chor. Später schauen die Schüler einen Film an, in dem eine alte Frau einen Schwarzen rassistisch beschimpft. Sie diskutieren, wie man mit einer solchen Situation umgehen könnte. Die Ideen reichen von: "Ich würde der alten Frau sagen, sie soll den Mund halten", bis hin zu: "Wenn die so alt wäre wie ich, würde ich sie schlagen."

Gewalt als Lösung der Probleme? Die lebhafte Fatma möchte schon lang mehr tun als nur zu diskutieren. Sie hat die Idee, Szenen auf dem Schulhof zu spielen, in denen es zu diskriminierenden Äußerungen und zu Gewalt kommt. Die Schüler sollen nicht wissen, dass die Szenen gespielt sind - und selbst entscheiden, ob und wie sie eingreifen.

* Name von der Redaktion geändert.


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Berlin-Mitte, 3. Februar 2006: Drei Frauen werden in der Rosenthaler Straße in der Nähe des Hackeschen Marktes von einem Mann, der zu einer Gruppe von sechs Männern und zwei Frauen gehört, gegen eine Hauswand gestoßen und sexistisch beleidigt. Erst jetzt registrieren die betroffenen Frauen, dass die Täter eindeutig wie Skinheads gekleidet sind. Passanten bleiben ebenfalls stehen, bis sich die Skinheads entfernt haben.

Berlin-Kreuzberg, U-Bahnhof Hallesches Tor, 25. Mai 2006: Ein 31-jähriger Mann libanesischer Herkunft wird aus einer Gruppe von neun Männern rassistisch beleidigt und mit einer Flasche beworfen. Die Täter werden kurzzeitig festgenommen.


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Menschenrechtsbildung

Im Forum Menschenrechte hat ai die "Standards der Menschenrechtsbildung an Schulen" entworfen. Sie legen fest, was Schüler über die Menschenrechte wissen sollten und welche Werte und Fähigkeiten sich daraus ergeben. Derzeit arbeitet das Forum Menschenrechte an Standards für die Erwachsenenbildung. Für 2008 sind Aktionen zum 60-jährigen Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geplant. Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage der ai-Arbeitsgruppe Menschenrechtsbildung. Dort stehen Unterrichtsmaterialien zum Download bereit: www.amnesty.de/de/2910.


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Quelle:
amnesty journal, Juni 2007, S. 12-14
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2007