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GRUNDSÄTZLICHES/268: Versprechen auf dem Papier (ai journal)


amnesty journal 06/07/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Versprechen auf dem Papier

Gebrochene Versprechen, ungebrochene Entschlossenheit: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist heute so wichtig wie vor 60 Jahren. Ihr Anliegen verlieren die Staaten aber zu oft aus den Augen. Ein Auszug aus dem Vorwort des Amnesty-Reports 2008.


Als die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen vor 60 Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten, bewiesen sie mit dieser Einigung auf einen umfassenden Katalog von Grundrechten große Weitsicht und Führungsstärke. Im Lauf der Zeit wurde jedoch das gemeinsame Ziel aus den Augen verloren, und heute sind die Menschenrechte für die Staaten eher etwas Trennendes als etwas Verbindendes. Die zahlreichen Krisen in unserer Welt erfordern gemeinsame, abgestimmte Maßnahmen der Staaten zum Schutz der Menschenrechte, doch das Verhalten der alten und der neuen Mächte im eigenen Land wie jenseits seiner Grenzen geben wenig Anlass zur Zuversicht. Grund zu Optimismus gibt die Tatsache, dass sich eine globale Zivilgesellschaft formiert hat, welche die Trennung zwischen Reich und Arm, zwischen Nord und Süd, zwischen einer religiösen und einer säkularen Welt ablehnt und von den Regierungen geschlossenes Handeln fordert. (...)

Die Verfasser der Menschenrechtserklärung waren überzeugt, dass nur ein multilaterales System globaler Werte mit Gleichheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt, den Herausforderungen gewachsen sein würde. Mit echter politischer Führungsstärke hielten sie dem Druck der sich unversöhnlich gegenüber stehenden Weltanschauungen stand. Sie weigerten sich, eine hierarchische Abstufung vorzunehmen und die freie Meinungsäußerung, die Bildung, das Verbot der Folter und die soziale Sicherheit als höher- oder minderwertigere Rechte zu klassifizieren. Sie hatten erkannt, dass unsere kollektive Sicherheit wie auch unser ungeteiltes Menschsein auf zwei Grundlagen beruhen - der universellen Gültigkeit der Menschenrechte - alle Menschen sind frei und gleich geboren - und ihrer Unteilbarkeit - alle Rechte, gleich ob wirtschaftlicher, sozialer, bürgerlicher, politischer oder kultureller Natur, müssen mit dem gleichen Engagement erfüllt werden.

In den darauf folgenden Jahren wich diese Führungsstärke leider einer einseitigen Interessenspolitik. Die beiden Supermächte betrieben mit den Menschenrechten ein Spiel, in dem es um die eigene ideologische und geopolitische Vorherrschaft ging. Die eine Seite verweigerte die Anerkennung der bürgerlichen und politischen Rechte, die andere spielte die Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte herunter. Die Menschenrechte wurden nicht als Mittel zur Sicherung von Würde und Wohlergehen der Menschen eingesetzt, sondern für strategische Zwecke instrumentalisiert. Die neu entstandenen unabhängigen Staaten, die in den Sog der Konflikte der Supermächte gerieten, mussten entweder einen Kampf um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führen, oder sie entschieden sich von vornherein für eine autoritäre Staatsform.

Nach dem Ende des Kalten Krieges kam Hoffnung auf für die Wahrung der Menschenrechte, doch sie wurde zunichte gemacht durch den Ausbruch ethnischer Konflikte und den Zerfall mehrerer Staaten, die eine Woge humanitärer Katastrophen mit massiven und brutalen Menschenrechtsverletzungen auslösten. Andere Teile der Welt mussten derweil Korruption, unfähige Regierungen und weit verbreitete Straflosigkeit für die Täter von Menschenrechtsverletzungen erdulden.

Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 wurde die Menschenrechtsdebatte erneut zum trennenden Element zwischen "westlicher" und "nicht-westlicher" Welt. So trug sie zur Einschränkung der Grundfreiheiten bei, schürte Ängste und Misstrauen zwischen Regierungen und Völkern und verstärkte Diskriminierung und Vorurteile.

Die Kräfte der Globalisierung brachten neue Versprechen mit sich, aber auch neue Herausforderungen. Während die politischen Führer unserer Welt immer wieder ihre Entschlossenheit zur Ausrottung der Armut bekräftigten, haben sie kaum Interesse für die Menschenrechtsverstöße gezeigt, die Armut weiter verstärken. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ein Versprechen auf dem Papier geblieben.

Im Rückblick erstaunt vor allem die Einigkeit, mit der die UNO-Mitgliedstaaten seinerzeit ihr gemeinsames Ziel verfolgten. Bei der Abstimmung in der Generalversammlung am 10. Dezember 1948 zur Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gab es keine einzige Gegenstimme. Heute, angesichts vieler dringlicher Menschenrechtskrisen, fehlt uns eine solche gemeinsame Vision der führenden Politiker für die Bewältigung der Probleme unserer immer gefährlicher, unsicherer und ungleicher werdenden Welt.

Die politische Landschaft sieht heute anders aus als vor 60 Jahren. Die Zahl unabhängiger Staaten ist viel größer als 1948, und einige ehemalige Kolonien treten neben ihren Kolonialherren als globale Akteure auf. Können wir erwarten, dass sich auch heute wieder alte und neue Mächte zusammentun und die Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte erneuern? Die Lage im Jahr 2007 gab keinen Anlass zum Optimismus. Werden neue politische Führungskräfte und der Druck der Zivilgesellschaft in diesem Jahr für Verbesserungen sorgen? (...)

Es wird viel davon geredet, dass die Armut nachhaltig bekämpft werden müsse, doch es fehlt am konkreten politischen Handlungswillen. Mindestens zwei Milliarden Menschen auf dieser Erde leben nach wie vor in Armut, im dauernden Überlebenskampf um sauberes Wasser, Nahrung und Wohnraum. Der Klimawandel wird uns alle berühren, am schmerzlichsten aber wird er die Ärmsten unter uns treffen - sie werden ihr Land, ihre Nahrungsgrundlage und ihren Lebensunterhalt verlieren. Im Juli 2007 war die Hälfte der Wegstrecke zu den Millennium-Entwicklungszielen der Vereinten Nationen zurückgelegt. Die Realisierung dieser Ziele würde zwar nicht alle Probleme lösen, aber ein Stück weit dazu beitragen, dass sich für viele Menschen in den Entwicklungsländern Gesundheitsfürsorge, Lebensbedingungen und Bildungsangebote bis zum Jahr 2015 verbessern. Wir befinden uns allerdings noch lange nicht auf der Zielgeraden, um diese Mindestzielsetzungen zu erfüllen, und bedauerlicherweise spielen die Menschenrechte dabei keine ausreichende Rolle. Verstärkte Bemühungen sind hier dringend erforderlich.

Und wo sind die politisch Verantwortlichen, die der geschlechtsspezifischen Gewalt Einhalt gebieten? In nahezu allen Regionen der Welt werden Frauen und Mädchen zu Opfern sexueller Gewalt. Im kriegsgeschüttelten Darfur sind Vergewaltigungen an der Tagesordnung, und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Auch in den USA bekommen viele Opfer sexueller Übergriffe aus den armen, marginalisierten indigenen Bevölkerungsgruppen weder ihre Rechte zugesprochen, noch werden sie von den Behörden ausreichend geschützt. Die Politik muss dafür sorgen, dass die Frauen und Mädchen ihre Rechte auch einfordern können.

Dies sind globale Herausforderungen mit einer menschlichen Dimension. Sie erfordern globale Lösungsansätze. Die international anerkannten Menschenrechte bieten das beste Rahmenwerk dafür, denn in ihnen manifestiert sich der globale Konsens über die hinzunehmenden Grenzen und die nicht hinzunehmenden Defizite der Politik der Regierungen und ihrer praktischen Umsetzung.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat als Blaupause für aufgeklärte politische Führung heute noch die gleiche Bedeutung wie 1948. Unsere Regierungen müssen sich wieder auf die Menschenrechte besinnen.

Die Menschen sind unruhig, sie sind verbittert und enttäuscht, und wenn sich die Kluft zwischen ihren Forderungen nach Gleichheit und Freiheit und der Untätigkeit ihrer Regierungen weiter vergrößert, werden sie nicht länger schweigen oder nachgeben. Der Unmut der Menschen in Bangladesch über den drastischen Anstieg der Reispreise, der Aufruhr in Ägypten über die Brotpreise, die gewalttätigen Ausschreitungen nach den Wahlen in Kenia und die Demonstrationen in China über Zwangsräumungen und Umweltskandale sind nicht nur Ausdruck der Besorgnis über wirtschaftliche und soziale Entwicklungen. Es sind Anzeichen dafür, dass es an der Basis nachhaltig rumort, weil die Regierungen ihr Versprechen, für Gerechtigkeit und für Gleichheit zu sorgen, nicht gehalten haben.

In einem Ausmaß, wie es 1948 nicht vorstellbar war, hat sich heute eine globale Bürgerbewegung herausgebildet, die von den politischen Führern die Wahrung und Förderung der Menschenrechte verlangt. Juristen im schwarzen Anzug in Pakistan, Mönche in safranfarbenen Roben in Myanmar: Am 17. Oktober 2007 haben 43,7 Millionen Menschen ihre Stimme erhoben und lautstark Taten zur Bekämpfung der Armut gefordert - die eindrucksvolle Demonstration einer globalen Bürgerschaft, die fest entschlossen ist, sich für die Menschenrechte stark zu machen und ihre politischen Führer in die Verantwortung zu nehmen. (...)

60 Jahre nach der Verabschiedung der Erklärung der Menschenrechte ist die Kraft der Menschen, Hoffnung zu säen und den Wandel herbeizuführen, sehr lebendig. Das Bewusstsein für die Menschenrechte hat den ganzen Erdball ergriffen.

Die politischen Führer dieser Welt übersehen das zu ihrem eigenen Schaden.


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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2008, S. 26-28
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2008