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GRUNDSÄTZLICHES/278: "Warlords kennen keine Konventionen" (ai journal)


amnesty journal 08/09/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Warlords kennen keine Konventionen"

Regionen ohne staatliche Kontrolle stellen die Menschenrechtspolitik vor neue Herausforderungen.
Ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Thomas Risse.


FRAGE: Was zeichnet einen zerfallenen Staat, einen "Failed State" aus?

THOMAS RISSE: Ein zerfallener Staat ist ein Staat, in dem staatliche Institutionen praktisch nicht mehr existieren. Folglich sind dort politische Entscheidungen und Rechtsstaatlichkeit nicht durchsetzbar. Das betrifft zum Beispiel Somalia. Das Land hat zwar in Mogadischu eine Regierung, aber deren Reichweite geht nicht weit über das Regierungsgebäude hinaus. Somalia wird trotzdem international anerkannt und hat einen Sitz in der UNO-Generalversammlung.

Es gibt aber nur sechs oder sieben zerfallene Staaten. Sinnvoller ist es, von Räumen begrenzter Staatlichkeit zu sprechen. Damit beziehen wir Staaten mit Regionen oder Politikfeldern ein, in denen die Rechtsdurchsetzungsfähigkeit nicht gewährleistet und/oder das Gewaltmonopol nicht durchsetzbar ist. Das ist ein fast flächendeckend verbreitetes Phänomen. So ist der Nordosten Kenias eine solche Region, während Kenia ansonsten ein normales Entwicklungsland ist. Und selbst entwickelte Wohlstandsgesellschaften haben Räume begrenzter Staatlichkeit. Es gibt in Berlin Orte, in die sich die Polizei nicht mehr traut.

FRAGE: Sind zerfallene Staaten oder Räume begrenzter Staatlichkeit eine neue Erscheinung?

THOMAS RISSE: Nein, im Gegenteil: Historisch und auch im zeitgenössischen Vergleich gibt es mehr Räume begrenzter Staatlichkeit als konsolidierte moderne Staaten. Neu ist jedoch die Art und Weise, wie man über das Thema redet. Das hängt mit den Anschlägen vom 11. September 2001 zusammen. Danach ging man davon aus, dass zerfallene Staaten ein Problem für die internationale Politik sind, weil sich dort terroristische Gruppen festsetzen könnten. Diese Annahme hat sich aber als falsch erwiesen. Internationale terroristische Netzwerke haben sich kaum in solchen Staaten niedergelassen, weil dort keine Infrastruktur existiert, die sie aufnehmen könnte. Al-Qaida hat sich unter der Taliban-Herrschaft in Afghanistan festgesetzt. Das Land war damals vielleicht extrem autoritär, aber nicht zerfallen.

FRAGE: In Ruanda gab es auf Initiative der Bevölkerung Prozesse gegen Verantwortliche des Völkermords von 1994. Können in Räumen begrenzter Staatlichkeit auch positive Entwicklungen stattfinden?

THOMAS RISSE: Natürlich, das zeigen auch die somalischen Provinzen Somaliland und Puntland. Dort existieren quasi-staatliche Institutionen, die teilweise auf sogenannte "traditionelle" Strukturen aufbauen. Dörfliche Gemeinschaften übernehmen das Justizwesen, sorgen für soziale Ordnung und garantieren unter Umständen auch die Einhaltung der Menschenrechte. Diese Provinzen leben seit 15 Jahren ohne Zentralregierung und dennoch einigermaßen gut. Gewaltvorkommnisse sind im Vergleich zu anderen Bürgerkriegsregionen unerheblich. Es gibt eine wirtschaftliche Entwicklung, Infrastruktur und ein Gesundheitswesen.

FRAGE: Ist "Failed State" also ein politischer Kampfbegriff? Die Liste dieser Staaten wird ja von dem US-Think-Tank "The Fund for Peace" erstellt.

THOMAS RISSE: Das ist in der Tat ein Problem. Aus der Tatsache, dass die staatlichen Institutionen extrem schwach sind und das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr existiert, wird jedenfalls viel zu schnell gefolgert, dass die soziale Ordnung zusammengebrochen ist und deshalb nur Chaos, Anarchie und Gewalt herrschen.

FRAGE: Dennoch ist es in vielen dieser Staaten um die Menschenrechte sehr schlecht bestellt. Was heißt das für die internationale Menschenrechtspolitik?

THOMAS RISSE: Wir haben es mit zwei Problemen zu tun. Erstens: Auch wenn eine Regierung formal existiert, ist diese nicht in der Lage, die Menschenrechte zu garantieren. Es geht also nicht mehr ums Wollen, sondern ums Können. Die internationale Menschenrechtspolitik konzentriert sich aber meist auf Fälle, bei denen die staatliche Regierung nicht will. Alle Initiativen drehen sich darum, wie man eine autoritäre Regierung dazu bringt, die Menschenrechte einzuhalten. Doch was tun, wenn die Regierung nicht kann, selbst wenn sie wollte?

Und damit sind wir beim zweiten Problem. Internationale Menschenrechtsnormen gehen davon aus, dass die Vergehen von staatlichen Akteuren ausgeübt werden. In diesen Staaten sind aber oft nichtstaatliche, private Akteure für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, und die Täter werden von der Regierung nicht mehr daran gehindert, die Menschenrechte zu verletzen. Das betrifft zerfallene Staaten ebenso wie Räume begrenzter Staatlichkeit. Die Akteure können marodierende Banden, Milizen, Privatarmeen und Warlords sein. Oder auch Unternehmen, die in den Gebieten investieren und sich nicht um soziale Belange kümmern oder die Umwelt verschmutzen.

FRAGE: Das verändert auch die Bedingungen für die Arbeit von Amnesty International.

THOMAS RISSE: Ja, auch Amnesty-Kampagnen gehen im Allgemeinen davon aus, dass man es mit funktionierender Staatlichkeit zu tun hat. Dahinter steckt die Idee: Autoritären Diktaturen und anderen brutalen Regimes muss ein Ende gesetzt werden. Existiert erst ein liberales oder demokratisches System, wird die Regierung die Menschenrechte schon durchsetzen. Alles ist eine Frage des Wollens. Wenn es aber oft eine Frage des Könnens ist, ob Menschenrechte durchgesetzt werden, stellen sich die Probleme anders.

Viele Instrumentarien der Menschenrechtspolitik müssen also überdacht werden. Petitionen an Regierungen oder Anklagen gegen staatliche Institutionen helfen nicht weiter. Man muss sich überlegen, wie man staatliche Akteure dazu befähigt, Menschenrechte durchzusetzen. Und wir müssen uns fragen, wie man nichtstaatliche Akteure dazu bringt, die Menschenrechte einzuhalten. Im Bereich privater Unternehmen gibt es jetzt ein Instrumentarium im Rahmen der Normen von Unternehmensverantwortlichkeit. Das reicht vom Global Compact der Vereinten Nationen bis zu vielfältigen Verhaltenskodizes. Das Problem ist: Wie können Unternehmen dazu gebracht werden, die Normen auch einzuhalten, die sie unterschrieben haben?

FRAGE: Und wie kann man Banden, Warlords oder Terrorgruppen dazu bringen, die Menschenrechte nicht zu verletzen oder sich an die Genfer Konvention zu halten?

THOMAS RISSE: Das ist sehr schwierig. Warlords haben ja keine internationalen Abkommen unterschrieben. Es gibt ein interessantes Forschungsergebnis US-amerikanischer Kolleginnen und Kollegen. Demnach haben Rebellenorganisationen, die kurz davor sind, die staatlichen Institutionen zu übernehmen, durchaus Interesse, sich an die Menschenrechte und an das humanitäre Völkerrecht zu halten. Sie gehen schließlich davon aus, den Staat künftig zu führen und müssen vor der internationalen Gemeinschaft als anständige Akteure dastehen. Sehr wichtig sind zudem funktionierende Zivilgesellschaften. Dazu gehören nicht nur Organisationen wie Amnesty, sondern vor allem lokale Initiativen, die Menschenrechte einklagen und Verbindungen zur internationalen Gemeinschaft herstellen.

FRAGE: Können NGOs denn vor Ort überhaupt noch agieren?

THOMAS RISSE: Wenn wir es mit Bürgerkriegsregionen zu tun haben, in denen das Ausmaß an Gewalt sehr groß ist, dann können transnationale NGOs dort kaum mehr arbeiten. Ist die Gewalt nicht so stark präsent, übernehmen NGOs, internationale Organisationen oder Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit westlicher Staaten manchmal Funktionen von Staatlichkeit. Sie stellen Infrastruktur bereit oder kümmern sich um Aufgaben des Gesundheitswesens. Sie übernehmen also Governance-Funktionen.

FRAGE: Und können so auch zu Helfern von Warlords, Banden oder Terrorgruppen werden.

THOMAS RISSE: Dieses Risiko besteht natürlich. Wenn die Regierung nicht über das Gewaltmonopol verfügt, muss man sich mit den lokalen nichtstaatlichen Akteuren verständigen. Es gibt den berühmten Fall von Sierra Leone. Da konnte eine internationale NGO trotz des Bürgerkriegs flächendeckend Kinderimpfungen durchsetzen, und das zu einem Zeitpunkt, als der Staat faktisch nicht mehr vorhanden war. Das Einzige, was noch existierte, waren religiöse Missionsgemeinschaften, Kirchen etc. Mit Hilfe dieser Gruppen hat es die NGO geschafft, mit Banden und Milizen Waffenstillstände auszuhandeln und Impfungen durchzuführen. Aber das bedeutet natürlich, dass man mit den Gewaltakteuren kooperieren muss.


Thomas Risse
Der Professor für Internationale Politik im Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin ist Sprecher des Sonderforschungsbereichs 700, der sich mit "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" beschäftigt.

Interview: Wolf-Dieter Vogel


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2009, S. 40-41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2009