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GRUNDSÄTZLICHES/280: Neue ai-Generalsekretärin - "Die Praxis hat mich überzeugt" (ai journal)


amnesty journal 08/09/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Die Praxis hat mich überzeugt"

Ein Gespräch mit Monika Lüke, der neuen Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.


FRAGE: Ihre Tätigkeit bei Amnesty beginnt zeitgleich mit der internationalen Amnesty-Kampagne zu Armut und Menschenrechten. Ein guter Einstieg?

MONIKA LÜKE: Ich halte unsere neue internationale Kampagne "Demand Dignity" für sehr wichtig, auch aufgrund der Erfahrungen, die ich in meiner vorherigen Arbeit in Kambodscha und Kenia gesammelt habe. Die Kampagne beruht auf der Erkenntnis, dass Armut häufig zu Menschenrechtsverletzungen führt und dass umgekehrt Menschenrechtsverletzungen häufig zu Armut führen, beziehungsweise Menschen darin gefangen halten. In der Entwicklungszusammenarbeit habe ich gelernt, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genauso existentiell sind wie die politischen und bürgerlichen Menschenrechte. Ich finde aber auch, dass wir nicht den Blick für andere Themen verlieren dürfen - etwa für Menschenrechtsverletzungen im Zuge des so genannten "Krieges gegen den Terror".

FRAGE: Waren Sie schon immer davon überzeugt, dass wirtschaftliche und politische Rechte gleich wichtig sind?

MONIKA LÜKE: Ich bin von meiner Ausbildung her klassische Juristin und noch mit der Blockkonfrontation aufgewachsen. So lernte ich im Westen zuerst die politischen Menschenrechte kennen. Für mich waren das Verbot der Todesstrafe oder das Grundrecht auf Asyl wichtige Themen. Die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte spielten in meiner Ausbildung nur am Rande eine Rolle. Es hieß immer, sie seien durch Gerichtsverfahren nicht in dem Maße durchsetzbar wie die politischen Rechte. Tatsächlich habe ich ihre große Bedeutung und die Gleichrangigkeit erst durch die praktische Arbeit, vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit in Kenia und Kambodscha, kennengelernt. Und das hat mich überzeugt.

FRAGE: Welche Erfahrungen haben Sie in diesen Ländern gesammelt?

MONIKA LÜKE: In Kenia habe ich im Wassersektor gearbeitet. In den Slums von Nairobi habe ich gesehen, wie die Menschen Wasser aus verseuchten Flüssen trinken mussten. Im Nordwesten Kenias haben viele Leute überhaupt keinen Zugang zu Wasser. Eigentlich müsste der Staat das Menschenrecht auf Wasser garantieren und für sauberes Trinkwasser sorgen. Immerhin haben ­Entwicklungshelfer dort Brunnen gebaut. Ausreichend ist das nicht. Eine Frau kann zwei Kanister tragen, etwa 40 Liter - für eine sechs- bis achtköpfige Familie ist das für einen Tag immer noch sehr wenig.

FRAGE: Welche Bedeutung hat der Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung?

MONIKA LÜKE: In Kambodscha müssen viele Familien betteln, weil die Eltern keine Schulausbildung erhalten haben. Die Roten Khmer haben fast alle gebildeten Menschen umgebracht - es reichte schon aus, dass jemand lesen konnte. Beinahe alle Väter meiner kambodschanischen Kollegen wurden damals ermordet. Es gab keine Lehrer und keine Chance auf Bildung. So hatten viele meiner kambodschanischen Kollegen immer noch große Schwierigkeiten mit dem Lesen. Es gab ja zunächst keine Schulen, sie mussten erst einmal für die Eltern arbeiten. Das Gleiche gilt für den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. In Kambodscha ist die medizinische Versorgung schlecht, die Müttersterblichkeit sehr hoch. Wer Geld hat, lässt sich in Vietnam oder Thailand behandeln.

FRAGE: In Kambodscha kommt es immer wieder zu rechtswidrigen Zwangsräumungen. Was konnten Sie davon beobachten?

MONIKA LÜKE: In Phnom Penh allein gab es nach Amnesty-Berichten in den letzten Jahren 70 Vertreibungen. Eines dieser Gebiete lag nicht weit von der Straße entfernt, in der ich wohnte. Ich fuhr mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Büro oft an einer der betroffenen Siedlungen vorbei. Als ich nach einer kurzen Reise zurückkam, war sie plötzlich verschwunden. Das passiert ständig. Manchmal trifft es nur zehn Familien, die auf einem Grundstück leben. In der Regel gehören diese Flächen staatlichen Banken oder der Armee.

FRAGE: Was verbindet so unterschiedliche Länder wie Kambodscha und Kenia?

MONIKA LÜKE: In beiden Ländern machen viele Menschen die Erfahrung, wie diskriminierend und ausschließend es sein kann, keinen Zugang zu Ressourcen wie Bildung und Gesundheitsversorgung zu haben. Sie wissen, was es bedeutet, wenn die Kinder nicht zur Schule gehen können. Sie wissen, was es bedeutet, wenn man krank ist und es sich einfach nicht leisten kann, zum Arzt zu gehen.

FRAGE: Sie sind Juristin. Wieso arbeiten Sie lieber in einer Menschenrechtsorganisation und nicht als Anwältin oder Richterin?

MONIKA LÜKE: Ich habe Jura nie studiert, um Richterin oder Anwältin zu werden. Mich hat das politische System der Bundesrepublik sehr interessiert, insbesondere die Verfassung und die Grundrechte. Da war für mich klar, dass ich im politischen Bereich tätig sein möchte. Während des Studiums faszinierte mich das Völkerrecht, eben weil es das Gebiet ist, in dem Recht und Politik ­ineinandergreifen.

FRAGE: Wann begannen Sie, sich für die Menschenrechte zu interessieren?

MONIKA LÜKE: In meiner Jugend war ich kirchlich engagiert. Ich beteiligte mich an der Bewegung gegen die Apartheid in Südafrika, aber auch an Aktionen für Abrüstung und an den Ostermärschen.

FRAGE: In den neunziger Jahren arbeiteten Sie auch bei einer Asylgruppe von Amnesty mit.

MONIKA LÜKE: Ja. Wir haben damals Asylbewerber beraten, Schriftsätze vorbereitet, Abschiebehäftlinge besucht und betreut. Ich habe erlebt, dass ehrenamtlicher Einsatz einen Unterschied für die Situation von Opfern von Menschenrechtsverletzungen machen kann. Ich freue mich, wieder mit den vielen aktiven Mitgliedern zusammenzuarbeiten. Schließlich sind sie es, die aus Amnesty erst eine lebendige und schlagkräftige Organisation machen.

FRAGE: Ihre Promotion beschäftigt sich mit der Immunität staatlicher Funktionsträger. In Kambodscha haben Sie die Konflikte um die Verfolgung von Staatsverbrechen direkt miterlebt. Sind die wenigen Prozesse angesichts der Dimension der Taten nicht ein Tropfen auf den heißen Stein?

MONIKA LÜKE: Das Rote-Khmer-Tribunal und die Diskussion darüber, wie sie in Kambodscha auch in den Medien stattfindet, ist der erste Schritt zur Aufarbeitung. Selbst wenn das Tribunal nach dem ersten Verfahren geschlossen werden sollte, ist allein die Tatsache, dass es diesen Prozess gibt, einmalig. Die Opfer haben zudem erstmalig das Recht, sich an dem Verfahren aktiv zu ­beteiligen. Wenn die Opfer eine Stimme bekommen, ist das ein Fortschritt und zeigt, dass sich die internationale Aufarbeitung fortentwickelt, gerade in Kambodscha.

FRAGE: Gibt es eine Tendenz hin zu einer internationaler Strafgerichtsbarkeit?

MONIKA LÜKE: Ich sehe eine kontinuierliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg: International wächst der Wille, besonders gravierende Verbrechen, wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen - dazu gehören mittlerweile auch Massenvergewaltigungen -, aufzuarbeiten. Dies kann nicht immer auf nationaler Ebene geschehen, wenn es beispielsweise keine unabhängige Justiz gibt oder Staaten sich weigern, die Verbrechen zu verfolgen. Dass nun seit einigen Jahren der internationale Strafgerichtshof existiert, ist ein großer Schritt. Nach vielen Verzögerungen und langen Debatten kam es zur Anklage gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Ich sehe da große Fortschritte.

FRAGE: Sie arbeiten jetzt für eine NGO. Welchen Einfluss haben Nichtregierungsorganisationen?

MONIKA LÜKE: Das kommt ganz darauf an. Eine NGO wie Amnesty hat den großen Vorteil, dass sie global ist. Wir haben weltweit über zwei Millionen Mitglieder und Unterstützer - das macht unsere Stärke aus. Wir können weltweit Mitglieder und Gruppen zu Aktionen mobilisieren. So erreichen wir eine breite, internationale Öffentlichkeit und können Missstände ans Licht zerren, die Regierungen lieber verschweigen würden. Darüber hinaus sind wir wegen der Qualität unserer Recherchen anerkannt und werden auch von vielen Regierungen als Quelle herangezogen. So können wir effektive politische Lobbyarbeit leisten.

FRAGE: Wo sehen Sie konkrete Erfolge der NGO-Arbeit?

MONIKA LÜKE: Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Entwicklung hin zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit wäre ohne Nichtregierungsorganisationen gar nicht zustande gekommen, in diesem Fall nicht ohne die Koalition für einen internationalen Strafgerichtshof, an der auch Amnesty maßgeblich beteiligt war. Auch die Anklage gegen al-Baschir hätte es ohne das ständige Mahnen und die Erinnerung sowie die Lobbyarbeit in der Öffentlichkeit nicht gegeben. Die Nebenklagen in Kambodscha wären ohne die kambodschanischen und internationalen NGOs nicht möglich gewesen, denn diesen Organisationen gelingt es, das Vertrauen der Opfer zu gewinnen. Das zeigt, wie wichtig die Arbeit von Amnesty ist.


Interview: Anton Landgraf


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2009, S. 80-81
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009