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MELDUNG/228: Syrien - UN-Sicherheitsrat muss nach Giftgasangriff handeln


Amnesty International - 5. April 2017

Syrien: UN-Sicherheitsrat muss nach Giftgasangriff handeln


05. April 2017 - Bei einem einem Luftangriff in der syrischen Provinz Idlib wurde vermutlich das Nervengas Sarin freigesetzt. Dies war bislang der tödlichste Angriff mit chemischen Kampfstoffen seit 2013. Amnesty International hat Dutzende Videos vom Ort des Geschehens geprüft und analysiert.

Wie Amnesty International vor dem Hintergrund eines Dringlichkeitstreffens des UN-Sicherheitsrates in New York am 5. April mitteilte, häufen sich die Hinweise, dass bei einem Luftangriff in Chan Scheichun in der nordsyrischen Provinz Idlib ein Nervengas zum Einsatz kam. Dabei wurden 70 Personen getötet.

Amnesty International fordert den Sicherheitsrat auf, unverzüglich eine Resolution zu verabschieden, die ein Verbot chemischer Kampfstoffe durchsetzen und es einfacher machen würde, die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

"Mitglieder des Sicherheitsrates, insbesondere Russland und China, haben den Tod von Zivilisten in Syrien bisher gefühllos ignoriert, indem sie immer wieder gegen Resolutionen stimmten, die Sanktionen gegen jene ermöglicht hätten, die in Syrien Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverstöße begehen", sagt Anna Neistat, Leiterin der Ermittlungsabteilung bei Amnesty International. "Der Sicherheitsrat muss sofort dafür stimmen, diesen Angriff zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Dies zu unterlassen, wäre eine Katastrophe und könnte Regierungen und bewaffnete Gruppen in Syrien weiter dazu ermutigen, Kriegsverbrechen gegen Zivilpersonen mit verbotenen wie konventionellen Waffen zu begehen."

Viele Opfer dieses Angriffs, der am Dienstag, den 4. April, gegen 6:30 Uhr Ortszeit erfolgte, scheinen im Schlaf vergiftet worden zu sein. Wie Fachleute für chemische Waffen, die mit Amnesty International zusammenarbeiten, bestätigten, waren die Opfer offenbar einem Nervengas bzw. einer phosphororganischen Verbindung wie Sarin ausgesetzt. Sie gehen nicht davon aus, dass Chlorgas verwendet wurde, wie es bei vorherigen Angriffen mit chemischen Waffen im bewaffneten Konflikt in Syrien der Fall war.

"Das ist der tödlichste Angriff mit chemischen Waffen in Syrien, seitdem der UN-Sicherheitsrat im September 2013 die Resolution 2118 zur Vernichtung von Syriens Chemiewaffen verabschiedet hat", so Anna Neistat. "Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen und die UN haben beide bestätigt, dass es seither sowohl aufseiten der Regierung als auch der anderen Kräfte mehrere Angriffe mit chemischen Waffen gegeben hat. Es ist schrecklich, dass bisher niemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde."

"Der Einsatz chemischer Waffen ist nach dem humanitären Völkerrecht streng verboten und stellt ein Kriegsverbrechen dar. Die internationale Gemeinschaft muss ihre Empörung zum Ausdruck bringen und alle zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergreifen, um das syrische Volk und die Menschen weltweit vor derartigen Gräueltaten zu schützen", sagt Anna Neistat.

Beweisvideos

Amnesty International konnte mehr als 25 Videos prüfen, die nach dem Chemiewaffenangriff gemacht wurden. Auf einigen Videos konnten Fachleute Opfer mit stark verkleinerten Pupillen ausmachen, die als klassisches Symptom für eine Vergiftung mit Nervengas gelten. Es liegen Berichte über medizinisches Personal mit Symptomen einer Sekundärexposition vor, was ebenfalls auf den Einsatz eines Nervengases hindeutet. Einige Videos zeigten Opfer ohne Zuckungen oder abrupte Bewegungen. Das sind, nach einhelliger Meinung der Sachverständigen Anzeichen einer schweren Vergiftung. In anderen hingegen, darunter auch Videos mit Kindern, sieht man die Betroffenen zittern. Ein Video, dessen Inhalt zusammen mit anderen verfügbaren Inhalten von Amnesty International bestätigt wurde, zeigt neun Kinder leblos auf der Ladefläche eines Kleinlasters liegend. Die kleinen Mädchen und Jungen sind nackt oder nur teilweise bekleidet. Ihre Körper weisen keinerlei sichtbare Verletzungen auf - ebenfalls ein Indiz für eine Vergiftung durch chemische Stoffe.

Einige Videos, die nach dem Angriff in medizinischen Einrichtungen gemacht wurden, zeigen Menschen, die wegen Atemproblemen behandelt werden, sowie weitere Bilder toter Kinder und Erwachsener. Auch sie weisen keine sichtbaren Spuren blutiger Wunden oder Verletzungen durch Bombensplitter auf.

Interviews mit medizinischen Fachkräften in Idlib

Amnesty International hat mit einem Krankenpfleger gesprochen, der am Morgen des Angriffs im Al-Rahma-Krankenhaus Dienst hatte. Er erinnert sich, gegen 6:20 Uhr, während seiner Kaffeepause, auf die Uhr geschaut haben. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles ruhig.

"Das Explosionsgeräusch war anders als sonst - meine Kollegen und ich dachten schon, dass [die Bombe] dieses Mal nicht hochgegangen war, weil es so dumpf klang, gar nicht nach einer Explosion. Ein paar Minuten später, so gegen 6:35 Uhr, wurden die ersten Opfer hereingebracht - und das ging dann so weiter bis ungefähr 9:00 Uhr. Es wurden sehr viele Menschen und Helfer hereingebracht, und wir Mediziner waren zu diesem Zeitpunkt nur zu viert.

Der Krankenpfleger beschreibt auch unbekannte Symptome:

"Der Geruch nach verfaultem Essen war bis in unsere Medizinstation zu riechen. Wir hatten vorher schon Chlorgasopfer, aber dies war ganz etwas ganz Anderes. Opfern lief Erbrochenes aus Nase und Mund, das eine dunkelgelbe bis braune Farbe hatte. Es gab Atemlähmungen - daran starben die Kinder schneller als die Erwachsenen. Wir haben es mit Injektionen versucht ... aber das hat einfach nicht funktioniert. Die Opfer konnten nicht schlucken, sie waren bewusstlos und zeigten absolut keine Reaktion."

Ein Arzt der chirurgischen Fachklinik in etwa 50 Kilometer Entfernung vom Angriffsort berichtete ebenfalls über den Vorfall.

"Zuerst wurden die Opfer in die nächstgelegenen Krankenhäuser gebracht, und so war es bereits etwa 8:00 Uhr, als sie zu uns kamen. Der Angriff hatte genau gegen 6:42 Uhr stattgefunden. Die Zahl der Opfer, darunter 70 Tote, hat mittlerweile etwa 400 erreicht, die auf die verschiedenen medizinischen Einrichtungen verteilt und zum Teil in die Türkei gebracht wurden. Die meisten Opfer, die zu uns kamen, lebten noch. Die, die bereits gestorben waren, kamen nicht mehr zu uns. Zwei Personen starben hier im Krankenhaus. Die Opfer trafen in unterschiedlichen Stadien ein - einigen von ihnen litten unter Muskel- und Atemlähmungen, wir haben versucht, sie mit Beruhigungsmitteln und Atropin zu behandeln. Aus Mund und Nase kam weißer Schaum. Einige waren vollkommen bewusstlos oder hatten starke Muskelschmerzen. Kinder sterben als Erstes, sie kommen nicht dagegen an. Wir hatten nur ein Kind; es hat überlebt, Gott sei Dank."

Hintergrund

Chan Scheichun ist eine Kleinstadt an der Straße nach Damaskus in der ländlichen Provinz Idlib, eine der wenigen Regionen im Nordwesten Syriens, die sich noch unter der Kontrolle der oppositionellen Kräfte befinden. In den vergangenen Monaten ist Idlib zum Sammelpunkt für alle geworden, die vor der Gewalt in Aleppo flüchten. Seit 2012 hat es hier vereinzelte Bombenangriffe durch die syrische Armee gegeben. In jüngster Zeit haben die Luftwaffenangriffe nach einer Überraschungsoffensive durch bewaffnete oppositionelle Gruppen in Hama zugenommen. Auch Flugzeuge der US-geführten Koalition haben im Regierungsbezirk Idlib Angriffe geflogen.

Amnesty International hat wiederholt an den UN-Sicherheitsrat appelliert, die Straflosigkeit endlich zu stoppen und die Lage in Syrien zur Strafverfolgung an den Internationalen Strafgerichtshof zu überweisen. Im Februar 2017 legten Russland und China ihr Veto gegen einen Resolutionsentwurf des Sicherheitsrats ein, der die Auferlegung von Maßnahmen nach Kapitel VII für den "unerlaubten Transfer chemischer Waffen oder jedweden Einsatz chemischer Waffen durch eine beliebige Partei in der Syrischen Arabischen Republik" vorsah. Dieser Angriff mahnt die Staaten Europas, dass im Zentrum aller Diskussionen zur Zukunft des Landes der Einsatz für Gerechtigkeit und die Aufarbeitung der Verbrechen stehen muss.

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Quelle:
Mitteilung vom 5. April 2017
https://www.amnesty.de/2017/4/5/syrien-un-sicherheitsrat-muss-nach-giftgasangriff-handeln?destination=startseite
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2017

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