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MITTELAMERIKA/107: Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Nicaragua kritisiert


Pressemitteilung vom 28. Juli 2009

Amnesty International kritisiert Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Nicaragua

Totalverbot kriminalisiert Ärzte und bringt Frauen und Mädchen in Gefahr
Neuer Amnesty-Bericht vorgestellt


Seit einem Jahr ist in Nicaragua ein Gesetz in Kraft, das jegliche Form des Schwangerschaftsabbruches unter Strafe stellt. Dies gilt auch, wenn das Leben und die Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist und bei Schwangerschaften durch Vergewaltigung. Sowohl den Frauen und Mädchen, die ihre Schwangerschaft abbrechen lassen, als auch den praktizierenden Ärzten drohen Gefängnisstrafen. Diese werden für medizinisches Personal auch dann verhängt, wenn bei der Behandlung von Schwangeren dem Fötus unbeabsichtigt Schaden zugefügt wird. Die Bedrohung kriminalisiert zu werden, kann Ärzte davon abhalten, den Schwangeren die notwendige schnelle, angemessene und oft lebensrettende Hilfe zukommen zu lassen.

In den Jahren 2005 bis 2007 wurden 1.247 Mädchen in Nicaragua Opfer von Vergewaltigung oder Inzest, bei 198 (16%) von ihnen war eine Schwangerschaft die Folge. Die überwältigende Mehrheit dieser Schwangeren (172, entsprechend 87%) war erst zwischen 10 und 14 Jahren alt. Viele von ihnen müssen in so einem Fall die Schule verlassen. Das gilt erst recht für jene, die in Armut leben: Junge Mädchen in Armut zahlen den höchsten Preis für die Gesetzesänderung.

Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ohne jegliche Ausnahme führt in erhöhtem Maße zu Leiderfahrungen auf Seiten schwangerer Frauen und Mädchen. Das gilt insbesondere für jene, die wegen lebensbedrohender Krankheiten behandelt werden müssen, denen schwangerschaftsbedingte Komplikationen drohen, die Behandlung nach einer Fehlgeburt benötigen, sowie auch für Opfer von Vergewaltigungen. Das Gesetz verweigert ihnen medizinische Hilfe gerade in Situationen, in denen sie von Traumatisierung bedroht sind und dieser Hilfe in besonderer Weise bedürfen.

Das Verhindern von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit vermeidbaren Fällen von Müttersterblichkeit und Schädigung von Müttern ist weltweit eines der zentralen Ziele der neuen Amnesty-Kampagne "Mit Menschenrechten gegen Armut" (internationaler Titel "Demand Dignity").


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Nicht einmal, wenn ihr Leben auf dem Spiel steht

Wie das Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen in Nicaragua Ärzte kriminalisiert und Frauen und Mädchen in Gefahr bringt


BERLIN, 28.07.2009 - Das neue Strafgesetzbuch von Nicaragua, das im Juli 2008 in Kraft trat, stellt jegliche Form des Schwangerschaftsabbruches unter Strafe. Es sieht Gefängnisstrafen vor sowohl für Ärzte, die Abtreibungen vornehmen als auch für Frauen und Mädchen, die darum nachsuchen und sie erhalten.

Vorher erlaubte das Gesetz, im Falle von Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter oder auch bei Schwangerschaft als Folge einer Vergewaltigung, Ausnahmen vom Abtreibungsverbot zu machen. Unter dem neuen Gesetz ist das nun vorbei, mit schlimmen Folgen für betroffene Frauen und behandelnde Ärzte. Die Gesetzesänderung kam zustande aus wahltaktischen Überlegungen, dem Druck der Kirchen nachzugeben - gegen massive Proteste seitens medizinischer Organisationen und der Ärzteschaft. "Früher wurde keine Frau zu einer bestimmten Art medizinischer Behandlung gezwungen. (...) Sie hatte immer das Recht zu sagen. 'Mir ist das Risiko bewusst, ich verstehe, dass ich sterben könnte, aber ich entscheide mich dafür, die Schwangerschaft fortzuführen.' (...) Wenn andererseits eine Frau mir sagte 'es macht mich traurig, diese Schwangerschaft zu verlieren, aber ich möchte doch diese Krebstherapie haben', dann war ich in der Lage, ihr Recht auf Leben zu respektieren." (Ein Arzt in Nicaragua beim Interview mit Amnesty International, November 2008)

Nach dem neuen Gesetz werden Gefängnisstrafen für medizinisches Personal bereits dann verhängt, wenn dieses bei der Behandlung von schwangeren Frauen und Mädchen dem Fötus unbeabsichtigt einen Schaden zufügt. Somit stellt die Bedrohung, kriminalisiert zu werden, für Ärzte ein Hindernis dar, wenn es darum geht, den Schwangeren die notwendige schnelle, angemessene und oft lebensrettende Hilfe zukommen zu lassen.

"Wir können unsere Lizenz zur Berufsausübung, unseren Ruf und unsere Freiheit verlieren, nur weil wir so gehandelt haben, wie es notwendig war." (Ein Arzt in Nicaragua beim Interview mit Amnesty International, Oktober 2008)

Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ohne jegliche Ausnahme führt in erhöhtem Maße zu Leiderfahrungen auf Seiten schwangerer Frauen und Mädchen. Das gilt besonders für jene, die wegen lebensbedrohender Krankheiten behandelt werden müssen, denen schwangerschaftsbedingte Komplikationen drohen, die Behandlung nach einer Fehlgeburt benötigen, sowie auch für Überlebende von Vergewaltigungen. Das Gesetz verweigert ihnen medizinische Hilfe gerade in Situationen, in denen sie von Traumatisierung bedroht sind und dieser Hilfe in besonderer Weise bedürfen. "Wenn ich die Möglichkeit hätte, von den verantwortlichen Personen etwas zu fordern, dann wäre es dies: Hört auf die Worte von Vergewaltigungsopfern und vertraut ihnen. (...) Ich würde sie auffordern damit aufzuhören, ihnen die Option auf eine sichere Beendigung ihrer Schwangerschaft zu verweigern." (Zitat einer Mutter eines vergewaltigten Kindes).

In den Jahren 2005 bis 2007 wurden einer Statistik zufolge 1.247 Mädchen in Nicaragua Opfer von Vergewaltigung oder Inzest, bei 198 (16%) von ihnen war eine Schwangerschaft die Folge. Die überwältigende Mehrheit dieser Schwangeren (172, entsprechend 87%) war erst zwischen 10 und 14 Jahren alt.

Viele von ihnen müssen in so einem Fall die Schule verlassen. Das gilt erst recht für jene, die in Armut leben: Junge Mädchen in Armut zahlen den höchsten Preis für die Gesetzesänderung!

Kriminalisierung verhindert zudem keine Schwangerschaftsabbrüche, sondern treibt deren Durchführung in die "Hinterhöfe" mit hohen Risiken für Gesundheit und Leben der Frauen.

Unter den UN Millennium Entwicklungszielen haben sich die Behörden von Nicaragua verpflichtet, die Rate der Müttersterblichkeit bis zum Jahre 2015 um 75 % zu senken. Das Verbot aller Formen des Schwangerschaftsabbruchs untergräbt die Verpflichtung der Regierung von Nicaragua, diese Schlüssel-Zielsetzung zu erreichen. Amnesty International fordert deshalb die Verantwortlichen in Nicaragua auf:

1. die einschlägigen Artikel 143, 145, 148 und 149 des neuen Gesetzbuches wieder aufzuheben;

2. sicherzustellen, dass Frauen und Mädchen, die um Schwangerschaftsabbruch nachsuchen oder ihn erhalten keiner Strafverfolgung ausgesetzt werden;

3. sicherzustellen, dass medizinisches Personal nicht deshalb kriminalisiert wird, weil es Dienstleistungen für sichere Schwangerschaftsabbrüche anbietet;

4. schwangeren Frauen und Mädchen bei Bedarf Zugang zu ermöglichen zu umfassender, lebensrettender Versorgung und - wenn medizinisch erforderlich - auch zu sicherem Schwangerschaftsabbruch;

5. sicherzustellen, dass Frauen und Mädchen, die schwanger wurden als Folge einer Vergewaltigung oder von Inzest, sowie jene, für die eine Fortführung der Schwangerschaft Gesundheit oder Leben bedroht, auf Wunsch Zugang zu sicheren Möglichkeiten einer Abtreibung erhalten;

6. sicherzustellen, dass alle Gesetze und Bestimmungen im Bereich der Fürsorge für Schwangere den Grundsätzen medizinischer Ethik und besten Standards der Gesundheitsversorgung genügen.

Das Verhindern von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit vermeidbaren Fällen von Müttersterblichkeit und Schädigung von Müttern ist weltweit eines der zentralen Ziele der neuen Amnesty-Kampagne "Mit Menschenrechten gegen Armut" (internationaler Titel "Demand Dignity").


Gunda Opfer (V.i.S.d.P.), Sprecherin der Themen-Koordinationsgruppe "Menschenrechtsverletzungen an Frauen" der Deutschen Sektion von Amnesty International (www.amnesty-frauen.de)

Quelle:
Digest "NOT EVEN WHEN HER LIFE IS AT STAKE - How the total abortion ban in Nicaragua criminalizes doctors and endangers women and girls - REPRODUCTIVE RIGHT IS A HUMAN RIGHT" Amnesty International, July 2009, Index AMR 43/004/2009

Titel des kompletten Berichtes:
"THE TOTAL ABORTION BAN IN NICARAGUA - WOMEN'S LIVES ENDANGERED, MEDICAL PROFESSIONALS CRIMINALIZED - REPRODUCTIVE RIGHT IS A HUMAN RIGHT" Amnesty International, July 2009, Index AMR 43/001/2009

Der englischsprachige Bericht "The total abortion ban in Nicaragua - women's lives endangered, medical professionals criminalized - reporductive right is a human right" (52 Seiten) steht im Internet unter folgendem Link zur Verfügung:
http://www.amnesty.de/files/Amnesty_International_Nicaragua_Bericht.pdf


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AMNESTY INTERNATIONAL ist eine von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen unabhängige Menschenrechtsorganisation. Amnesty kämpft seit 1961 mit Aktionen, Appellbriefen und Dokumentationen für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Die Organisation hat weltweit 2,2 Millionen Unterstützer. 1977 erhielt Amnesty den Friedensnobelpreis.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 28. Juli 2009
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2009