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MITTELAMERIKA/112: Jamaikas Gewaltkultur (ai journal)


amnesty journal 08/09/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Teil der Gewaltkultur

Jamaika hat einen mutmaßlichen Drogenboss an die USA ausgeliefert. Während der Jagd auf ihn starben über 70 Menschen. Ein Symptom für die Gewaltkultur in dem karibischen Inselstaat.

Von Klaus Naßhan


Am Ende ging alles ganz schnell: Christopher Coke, genannt "Dudus", verzichtete auf Rechtsmittel und wurde am 24. Juni 2010, zwei Tage nach seiner Festnahme, an die USA ausgeliefert. Die US-Justiz sieht in Coke einen der "weltweit gefährlichsten" Figuren im Drogen- und Waffenhandel. Viele Bewohner des Stadtteils Tivoli Gardens von Kingston, der Hauptstadt Jamaikas, sehen in ihm dagegen ihren Wohltäter. Er war dort der unumstrittene Chef, der "Don". Als Polizisten und Soldaten Ende Mai Tivoli Gardens umstellten, um ihn zu verhaften, bauten die Bewohner Barrikaden, und seine Anhänger brannten zwei Wachen nieder.

Die Geschichte der Karibikinsel ist von Gewalt geprägt: Wahlkämpfe endeten regelmäßig mit Hunderten von Toten. Die Partei, die gerade an der Regierung war, ließ neue Stadtteile bauen und verteilte die Wohnungen unter ihren Anhängern. So entstanden Parteihochburgen, die "Garrissons" (Festungen) genannt werden. In den Garrissons der Oppositionspartei investierte die jeweilige Regierung nicht, die Viertel verwahrlosten. Ein Vakuum, das Banden ausfüllten. Neben ihren kriminellen Aktivitäten, wie Drogenschmuggel, Mord und Vergewaltigung, sorgen sie, wie Coke in Tivoli Gardens, auch für Strom- und Wasserversorgung, Arbeit und Lebensmittel.

Die Polizei wird von vielen als Teil der Gewaltkultur des Landes empfunden. In der vergangenen Dekade erschossen Polizisten in Jamaika über 2.000 Menschen, allein im vergangen Jahr 253. Lediglich vier Polizisten wurden verurteilt. Die Polizei spricht meist von Schießereien mit bewaffneten Banden, oft deutet aber vieles darauf hin, dass die Opfer unbewaffnet waren. Erst im März 2010 reagierte das Parlament auf die anhaltende Kritik und beschloss die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Verfolgung von Straftaten durch Polizisten. Auch Amnesty fordert seit langem eine solche Kommission. Es bleibt abzuwarten, ob sie die Möglichkeiten bekommt, effektiv zu arbeiten.

Auch die Ereignisse bei der Jagd auf Coke zeigen, dass eine konsequente Bekämpfung der rechtswidrigen Polizeigewalt dringend notwendig ist. Nach offiziellen Angaben starben bei der Erstürmung von Tivoli Gardens drei Sicherheitskräfte und 73 Zivilisten. Der Public Defender, ein parlamentarischer Ombudsmann, der Beschwerden über Polizeiübergriffe untersuchen soll, erklärte dazu im "Jamaica Observer": "Uns liegen Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen und Polizeiübergriffe vor, einschließlich der Zerstörung von Eigentum und Misshandlungen." Auch die Organisation "Jamaicans for Justice" hat Fälle dokumentiert, in denen die Umstände auf eine gezielte Tötung durch die Polizei hinweisen. Amnesty International und lokale Menschenrechtsorganisationen fordern eine unabhängige Untersuchung aller Todesfälle und Übergriffe.

Coke selbst fanden die Soldaten und Polizisten während der Erstürmung von Tivoli Gardens nicht. Er wurde Tage später festgenommen, angeblich als er sich auf dem Weg zur US-Botschaft befand, um sich selbst auszuliefern.


Der Autor ist Sprecher der Ländergruppe zur englischsprachigen Karibik der deutschen Amnesty-Sektion.


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2010, S. 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2010