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NAHOST/225: Verschwindenlassen und Folter in jemenitischen Gefängnissen


Amnesty International - 12. Juli 2018

Verschwindenlassen und Folter in jemenitischen Gefängnissen


Amnesty fordert eine Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen im Jemen. Die für Folter und Verschwindenlassen Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Auch ein Jahr nach der Aufdeckung eines Netzwerks von Geheimgefängnissen im Süden Jemens herrscht noch immer Straflosigkeit und weiterhin werden Menschen in diesen gefangen gehalten. Darauf weist Amnesty International in einem neuen Bericht hin.

Der Bericht "God only knows if he's alive" dokumentiert schwere Menschenrechtsverletzungen wie systematisches Verschwindenlassen, Folter und andere Formen der Misshandlung, die größtenteils straffrei begangen werden und bei denen es sich möglicherweise um Kriegsverbrechen handelt.

Systematisches Veschwindenlassen

Die Recherchen belegen, wie Sicherheitskräfte der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und des Jemen, die sich außerhalb der Kontrolle ihrer Regierungen bewegen, unzählige Männer willkürlich festnehmen und inhaftieren, bevor diese dann dem Verschwindenlassen zum Opfer fallen. Viele dieser Männer wurden gefoltert und einige sind vermutlich im Gewahrsam gestorben.

"Für die Familien der inhaftierten Männer ist dies ein nie endender Alptraum, von den VAE unterstützte Truppen sind dafür verantwortlich, dass ihre Angehörigen dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen sind. Wenn die Familien wissen wollen, wo ihre Verwandten festgehalten werden oder ob sie überhaupt noch am Leben sind, reagieren die Behörden mit Schweigen oder Einschüchterungsversuchen."
Tirana Hassan Direktorin des Krisenreaktionsteams von Amnesty International

"In den vergangenen Wochen sind zahlreiche Inhaftierte freigelassen worden, darunter auch einige der 'Verschwundenen'. Zuvor waren sie lange Zeit ohne Anklage festgehalten worden, teils sogar bis zu zwei Jahre. Dies zeigt, wie wichtig es ist, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und sicherzustellen, dass die Betroffenen eine Entschädigung einfordern können", sagt Tirana Hassan, Direktorin des Krisenreaktionsteams von Amnesty International.

Seit die VAE im März 2015 in den Konflikt eingetreten sind, haben sie verschiedene lokale Truppen zusammengestellt, ausgebildet, ausgestattet und finanziert. Diese sind bekannt als "Sicherheitsgürtel" und "Elitetruppen". Die VAE haben außerdem Allianzen mit jemenitischen Sicherheitskräften gebildet, ohne die entsprechenden Führungskräfte auf Regierungsebene zu involvieren.

Amnesty International untersuchte die Fälle von 51 Männern, die zwischen März 2016 und Mai 2018 in den Regionen Aden, Lahidsch, Abyan, Hadramaut und Schabwa von diesen Truppen in Gewahrsam genommen wurden. Die meisten dieser Männer fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. 19 von ihnen sind nach wie vor "verschwunden". Amnesty sprach mit 75 Personen, darunter ehemalige Inhaftierte und Verwandte von nach wie vor "verschwundenen" Personen sowie auch Aktivistinnen und Aktivisten aber auch Regierungsangestellten.

Familienangehörige tappen im Dunkeln

Die Familien der Inhaftierten berichteten Amnesty International von ihrer verzweifelten Suche nach Informationen über Ihre Angehörigen. Seit fast zwei Jahren halten die Mütter, Ehefrauen und Schwestern der "Verschwundenen" Proteste ab und wenden sich mit Anfragen an die verschiedenen Regierungsabteilungen und Staatsanwaltschaften, Sicherheitsbehörden, Gefängnisse, Stützpunkte der Militärkoalition sowie an die verschiedenen Einrichtungen, die sich mit Beschwerden über Menschenrechtsverstöße befassen.

Die Schwester eines 44-jährigen Mannes, der Ende 2016 in Aden festgenommen wurde, sagte Amnesty International: "Wir haben keine Ahnung, wo er ist, und weiß der Himmel, ob er überhaupt noch am Leben ist. Unser Vater starb vor einem Monat an einem gebrochenen Herzen. Er starb, ohne zu wissen, wo sein Sohn ist. Wir wollen einfach nur wissen, welches Schicksal unser Bruder erlitten hat. Wir wollen einfach nur seine Stimme hören und wissen, wo er ist. Wenn er etwas verbrochen hat, gibt es dafür nicht Gerichte? Er soll zumindest vor Gericht gestellt werden, und wir sollten ihn besuchen können. Wofür gibt es denn Gerichte? Warum lässt man ihn und viele andere einfach so verschwinden?"

Einige Familien sagten, sie seien von Privatpersonen darüber informiert worden, dass ihre Verwandten im Gewahrsam gestorben seien, doch als sie bei der Führungsriege der von den VAE unterstützten jemenitischen Truppen nachfragten, habe man dies abgestritten.

"Wenn sie einfach nur bestätigen könnten, dass mein Bruder am Leben ist, wenn wir ihn einfach nur sehen könnten - mehr wollen wir gar nicht. Aber niemand gibt uns Informationen. Meine Mutter stirbt jeden Tag hundert Tode. Sie wissen einfach nicht, wie sich das anfühlt."
Schwester eines Mannesder im September 2016 festgenommen wurde und daraufhin dem Verschwindenlassen zum Opfer fiel

Es wird befürchtet, dass der Mann zu denen gehört, die im Gewahrsam gestorben sind.

Folter in emiratisch und jeminitisch geführten Hafteinrichtungen

Der neue Amnesty-Bericht dokumentiert außerdem den weit verbreiteten Einsatz von Folter und anderen Formen der Misshandlung in jemenitisch und emiratisch geführten Hafteinrichtungen. Personen, die derzeit inhaftiert sind oder sich in der Vergangenheit im Gewahrsam befanden, sowie auch deren Familien berichteten über schockierende Misshandlungen wie etwa Schläge, Elektroschocks und sexualisierte Gewalt. Eine Person gab an, dass ein Mitgefangener nach mehrmaligen Folterungen in einem Leichensack weggetragen worden sei.

"Ich habe Dinge gesehen, die ich nie wieder sehen möchte. An diesem Ort kann man nicht einmal die Sonne sehen", so ein ehemaliger Insasse der berüchtigten Hafteinrichtung Waddah Hall in Aden, die unter der Leitung eines örtlichen Antiterrorkommandos steht. "Sie haben alle möglichen Anschuldigungen [gegen mich] erhoben. Sie fingen an, mich zu schlagen... Dann ließen sie mich eines Nachts plötzlich frei und sagten, sie hätten mich mit jemandem verwechselt: 'Personenverwechslung, Entschuldigung'. Als müssten sie sich für nichts rechtfertigen, nach allem, was ich durch die Elektroschocks erlitten habe."

Ein weiterer ehemaliger Gefangener sagte, dass Angehörige emiratischer Truppen auf einem Stützpunkt in Aden so lange einen Gegenstand in seinen Anus einführten, bis er blutete. Er gab außerdem an, in einem Loch im Boden festgehalten worden zu sein, aus dem nur sein Kopf herausschaute. Er habe nicht auf die Toilette gehen können, sondern musste seine Notdurft an Ort und Stelle verrichten.

"Wir hörten immer Berichte über Folter und dachten 'Nie im Leben, das gibt es nicht wirklich' - bis ich es am eigenen Leib erfahren musste."
Anonymer Folterbetroffener

Tod nach Folter

Amnesty International hat den Fall eines Mannes dokumentiert, der von den emiratisch unterstützten Elitetruppen des Gouvernements Schabwa in seinem Haus festgenommen wurde und wenige Stunden später vor dem Haus seiner Familie abgeladen wurde - in kritischem Zustand und mit eindeutigen Folterspuren am Körper. Er starb kurz nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus.

"Die VAE agieren im südlichen Jemen in einem undurchsichtigen Umfeld und scheinen eine Art parallele Sicherheitsstruktur geschaffen zu haben, in der schwere Menschenrechtsverstöße komplett straffrei begangen werden können", sagt Tirana Hassan:

"Dieses Rechenschaftsvakuum macht es den Familien der Betroffenen noch schwerer, die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung anzufechten. Die jemenitische Staatsanwaltschaft hat versucht, ihre Kontrolle über einige der Gefängnisse durchzusetzen, doch die emiratischen Truppen haben Entlassungsbescheide der Staatsanwaltschaft mehrfach ignoriert oder stark verzögert."

Vorwand der Terrorismusbekämpfung

Die VAE spielen eine Schlüsselrolle in dem von Saudi-Arabien angeführten Militärbündnis, das seit März 2015 in den bewaffneten Konflikt im Jemen involviert ist.

Die VAE geben an, mit dem 'Sicherheitsgürtel' und den Elitetruppen den 'Terrorismus' bekämpfen zu wollen, unter anderem durch die Festnahme von Mitgliedern der bewaffneten Gruppen Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) und Islamischer Staat (IS). Kritikerinnen und Kritiker sagen allerdings, dass viele Festnahmen auf unbegründetem Verdacht beruhen und persönlichen Fehden geschuldet sind.

Unter den bisher Festgenommenen befinden sich zahlreiche Personen, die das Militärbündnis und die Vorgehensweise der emiratisch unterstützten Sicherheitskräfte kritisieren, so zum Beispiel Gemeindesprecherinnen und - sprecher, Aktivistinnen und Aktivisten und Medienschaffende sowie Unterstützerinnen und Unterstützer und Mitglieder der Oppositionspartei al-Islah, dem Arm der Muslimbruderschaft im Jemen.

Auf offener Straße verschleppt

Auch Verwandte von mutmaßlichen AQAP- und IS-Mitgliedern wurden ins Visier genommen, ebenso wie Männer, die das Militärbündnis eingangs bei der Bekämpfung der Huthis unterstützt hatten, nun aber als Bedrohung wahrgenommen werden.

Augenzeugenberichten zufolge wurden viele dieser Personen von ihren Arbeitsplätzen abgeholt oder auf offener Straße verschleppt, und in manchen Fällen bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt. Andere wurden in nächtlichen Razzien von Sicherheitskräften mit Gesichtsmasken und Schusswaffen Zuhause abgeholt.

Weibliche Familienangehörige von Inhaftierten und von "verschwundenen" Personen, die seit zwei Jahren in Aden und al-Mukalla Proteste abhalten, wurden von den Behörden eingeschüchtert und angegriffen.

Unabhängige Untersuchungen notwendig

Trotz aller Gegenbeweise haben die VAE wiederholt bestritten, an rechtswidrigen Inhaftierungen im Jemen beteiligt zu sein. Gleichzeitig sagte die jemenitische Regierung vor einem UN-Expertengremium aus, dass sie keine Kontrolle über die Sicherheitskräfte habe, die von den VAE ausgebildet und unterstützt werden.

"Letztlich müssen diese Menschenrechtsverletzungen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt im Jemen begangen werden, als Kriegsverbrechen untersucht werden. Sowohl die jemenitische als auch die emiratische Regierung müssen umgehend Maßnahmen ergreifen, um diesen Verstößen einen Riegel vorzuschieben, und sie sollten denjenigen Familien Rede und Antwort stehen, deren Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne vermisst werden."
Tirana Hassan, Direktorin des Krisenreaktionsteams von Amnesty International

"Auch die Partner der VAE bei der Terrorismusbekämpfung, wie etwa die USA, müssen sich diesen Foltervorwürfen stellen, unter anderem durch die Untersuchung der Rolle von US-Personal bei den im Jemen im Gewahrsam begangenen Menschenrechtsverstößen und durch das Zurückweisen von Informationen, die durch Folter oder andere Misshandlung erlangt worden sein könnten", sagt Tirana Hassan.


Der Amnesty-Bericht: "God only knows if he's alive" (PDF, 1.43 MB) ist zu finden unter:
https://www.amnesty.de/sites/default/files/2018-07/Amnesty-Bericht-Jemen-Kriegsverbrechen-Juli2018.PDF

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Quelle:
Mitteilung vom 12. Juli 2018
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/jemen-verschwindenlassen-und-folter-jemenitischen-gefaengnissen
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2018

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