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NAHOST/232: Saudi-Arabien - Fall Khashoggi, Türkei muss UN-Untersuchung fordern


Amnesty International - Pressemitteilung vom 18. Oktober 2018

Saudi-Arabien: Fall Khashoggi - Türkei muss UN-Untersuchung fordern


Die Türkei muss umgehend UN-Generalsekretär António Guterres auffordern, eine Untersuchung zum Verschwinden des Journalisten Jamal Khashoggi einzuleiten. Das fordert Amnesty International gemeinsam mit dem Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ), Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen heute [18.10.2018] in einer Pressekonferenz in New York.

BERLIN, 18.10.2018 - In einer gemeinsamen Erklärung forderten heute das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ), Human Rights Watch, Amnesty International und Reporter ohne Grenzen die Türkei dazu auf, sich bei UN-Generalsekretär António Guterres dringend für die Einleitung einer UN-Ermittlung einzusetzen. Gegenstand der Untersuchung soll die mögliche außergerichtliche Hinrichtung des bekannten saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi sein.

Die Untersuchung muss die Umstände und die Rolle Saudi-Arabiens rund um das Verschwindenlassen und die mögliche Tötung Khashoggis klären. Ihr Ziel muss sein, alle Personen zu identifizieren, die mitverantwortlich sind - von der Beauftragung über die Planung bis hin zur Ausführung.

"Die Türkei sollte die UN auffordern, zeitnah eine glaubwürdige und transparente Untersuchung einzuleiten", sagte Robert Mahoney, stellvertretender Leiter des Komitees zum Schutz von Journalisten in New York. "Die Beteiligung der UN ist der beste Schutz gegen eine Schönfärberei des Falls durch Saudi-Arabien oder Versuche anderer Regierungen, die Sache unter den Teppich zu kehren, damit ihre lukrativen Geschäfte mit Riad nicht gefährdet werden."

Die von dem geforderten UN-Ermittlungsteam gesammelten Belege sollten für eine künftige Strafverfolgung aufbewahrt werden. Die Ermittlungsgruppe sollte jeden Ort aufsuchen können, der für die Untersuchung notwendig ist, sich frei bewegen und potenzielle Zeugen oder Verdächtige ohne Einmischung befragen können. Das Team sollte zudem Empfehlungen zum weiteren Vorgehen machen, um all jene vor Gericht zu bringen, gegen die glaubwürdige und zulässige Beweise für eine Tatbeteiligung gefunden werden.

Vorgehen gegen kritische Stimmen

Seit Mohammad bin Salman im Juni 2017 zum saudi-arabischen Kronprinzen ernannt wurde, gehen die saudischen Behörden verschärft gegen kritische Stimmen vor. Auch das friedliche Engagement zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte wird systematisch unterdrückt. Gegen nahezu alle Menschenrechtsverteidiger und Kritiker im Land - darunter Geistliche, Journalisten und Akademiker - wurde kürzlich mit Festnahmen vorgegangen. Dem Verschwindenlassen von Khashoggi geht eine Verhaftungswelle voraus, die seit mehr als einem Jahr anhält und die sich gegen Journalisten richtet, die über Themen wie Korruption und Frauenrechte im Königreich berichten. Recherchen des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) ergaben, dass einige von ihnen ohne Anklage an geheimen Orten festgehalten werden. Auch die bekannten Menschenrechtsverteidigerinnen Loujain al-Hathloul, Iman al-Nafjan und Aziza al-Yousef sind unter den zahlreichen willkürlich Festgenommenen, die seit Monaten ohne Anklage festgehalten werden. Es wird befürchtet, dass sie von dem berüchtigten Sonderstrafgericht SCC, dessen Verfahren oft nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprechen, angeklagt werden könnten. Den Feministinnen und vielen anderen drohen sehr lange Gefängnisstrafen oder gar die Todesstrafe - lediglich weil sie friedlich ihre Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wahrnahmen.

Fehlende Unabhängigkeit

Die türkischen Behörden gaben bekannt, dass sie am 2. Oktober, also noch am Tag des Verschwindens von Khashoggi, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet hätten. Am 15. Oktober fand auch eine kriminaltechnische Untersuchung des saudi-arabischen Konsulats statt. Später erfuhren die Medien aus verschiedenen Quellen Einzelheiten über diese Untersuchung. So liegen Aussagen vor, dass es Audio- und Videomaterial gebe, das einen Mord an Khashoggi im Konsulat belegen könne. Am 15. Oktober beauftragte der saudi-arabische König die Staatsanwaltschaft mit der Untersuchung von Khashoggis Verschwinden. Doch angesichts einer möglichen Beteiligung saudischer Behörden am Verschwindenlassen und der möglichen Ermordung von Khashoggi sowie der fehlenden Unabhängigkeit des saudi-arabischen Strafjustizsystems steht die Unparteilichkeit einer solchen Untersuchung in Frage.

Die türkische Verlobte Khashoggis, Hatice Cengiz, gab den Medien gegenüber an, dass dieser ihr am 2. Oktober seine Mobiltelefone gegeben habe, bevor er das Konsulat betrat, um die nötigen Papiere für ihre geplante Hochzeit zu besorgen. Falls er in zwei Stunden nicht zurück sei, sollte sie die türkischen Behörden benachrichtigen. Das war das letzte Mal, dass Cengiz ihren Partner sah. Die türkischen Behörden gehen davon aus, dass Khashoggi im Konsulat von einem aus Saudi-Arabien angereisten Sonderkommando getötet und sein Leichnam anschließend zerstückelt wurde.

"Dies macht noch deutlicher, wie notwendig eine unparteiische und unabhängige Untersuchung ist, um die Wahrheit herauszufinden und Jamal Khashoggi Gerechtigkeit widerfahren zu lassen", sagte Christophe Deloire, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen. "Wenn die UN bei Verbrechen gegen Journalisten wirklich gegen die Straflosigkeit vorgehen will, dann ist es das Mindeste, dass sie sich bei der Untersuchung von einem der schockierendsten und extremsten Fälle der letzten Jahre voll einbringt."

Präzedenzfall für UN-Untersuchung

Es gibt bereits einen Präzedenzfall für eine UN-Untersuchung dieser Art: Im Jahr 2008 ersuchte Pakistan den damaligen Generalsekretär Ban Ki-Moon um eine Untersuchung der Ermordung der früheren Premierministerin Benazir Bhutto. Anhand der damaligen Ermittlungen konnte aufgedeckt werden, dass die pakistanischen Behörden damals versucht hatten, die Ereignisse um die Ermordung Bhuttos zu verschleiern.

Eine genaue Untersuchung des Verschwindenlassens und einer möglichen Ermordung von Khashoggi sollte umgehend beginnen sowie unparteiisch und unabhängig sein. Als Teamleitung sollte UN-Generalsekretär Guterres eine ranghohe Ermittlungsperson einsetzen, die über umfassende Erfahrungen im Bereich internationaler Ermittlungen verfügt. Nach deren Abschluss sollte der Generalsekretär einen Bericht veröffentlichen, der sowohl die Ergebnisse als auch Empfehlungen für ein weiteres Vorgehen umfasst.

Aufhebung des diplomatischen Schutzes

"Jamal Khashoggis Familie und auch die restliche Welt verdienen es, die Wahrheit über seinen Verbleib zu erfahren", betonte Louis Charbonneau, zuständig für die UN bei Human Rights Watch. "Unvollständige Erklärungen und einseitige Ermittlungen durch Saudi-Arabien, das der Beteiligung verdächtigt wird, reichen nicht aus. Nur die UN verfügt über die nötige Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit, um die Drahtzieher des Verschwindenlassens von Khashoggi ermitteln und zur Verantwortung ziehen zu können."

Die Türkei, Saudi-Arabien und alle anderen UN-Mitgliedsstaaten sollten eng mit dem UN-Ermittlungsteam zusammenarbeiten und es unterstützen. Sie müssen gewährleisten, dass das Team uneingeschränkt Zugang zu allen Informationen erhält, die für die Aufklärung des Falls relevant sind. Um die Ermittlungen zu erleichtern, sollte Saudi-Arabien sofort sämtliche diplomatischen Schutzbestimmungen aufheben. Dazu zählen auch das Nichtbetretendürfen aller relevanten Räumlichkeiten und die Immunität der Botschaftsangehörigen, wie im Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen von 1963 festgelegt. Auch die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hat in diesem Fall die Aufhebung des diplomatischen Schutzes gefordert.

Die Türkei muss alle Beweismittel aushändigen. Dazu gehört auch das Audio- und Videomaterial, das den Mord an Khashoggi belegen soll, wie türkische Beamte den Medien gegenüber wiederholt behauptet hatten. Die neu gebildete türkisch-saudische Arbeitsgruppe zur Untersuchung des Mordes wird angesichts der massiven Leugnung und Zurückweisung jeder Beteiligung am Verschwindenlassen von Khashoggi durch Saudi-Arabien keine Fortschritte machen.

"Wenn die Regierung von Saudi-Arabien nichts mit dem Verbleib von Jamal Khashoggi zu tun hat, dann würde sie am meisten von den Ergebnissen einer unparteiischen UN-Ermittlung profitieren", sagte Sherine Tadros, Leiterin des New Yorker Büros von Amnesty International. "Ohne eine glaubwürdige UN-Untersuchung würde Saudi-Arabien immer eine Wolke von Misstrauen umgeben, trotz allem, was die dortige Führung sagt, um das Verschwinden von Khashoggi 'wegzuerklären'."

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Quelle:
Pressemitteilung vom 18. Oktober 2018
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2018

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