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RUSSLAND/082: Vier Jahre "Agentengesetz" in Russland - Den Preis zahlt die Gesellschaft


Amnesty International - 18. November 2016

Vier Jahre "Agentengesetz" in Russland: Den Preis zahlt die Gesellschaft


18. November 2016 - Am 21. November 2012 trat in Russland das "Agentengesetz" in Kraft, mit dem kritische Nichtregierungsorganisationen zum Schweigen gebracht werden sollen. Die Bezeichnung "ausländischer Agent" hat in Russland eine ähnliche Bedeutung wie "Spion" oder "Verräter" und beschwört Erinnerungen an stalinistische Zeiten herauf. Ein aktueller Amnesty-Bericht dokumentiert, welche weitreichenden Folgen das Gesetz sowohl für die Organisationen selbst als auch für die Gesellschaft insgesamt hat.

In Russland müssen sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als "ausländische Agenten" registrieren lassen, wenn sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten und "politisch tätig" sind. "Politische Tätigkeit" ist dabei im Gesetz so vage formuliert, dass darunter letztlich jegliche Kommentierung von Politik oder den Handlungen einzelner Staatsbediensteter fällt.

Seit 2014 kann das Justizministerium eine Registrierung auch gegen den Willen der betroffenen NGOs vornehmen und es macht von dieser Befugnis oft Gebrauch. In den vergangenen vier Jahren sind 148 Organisationen auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt worden, 27 von ihnen mussten ihre Arbeit vollständig einstellen. Dies belegt Amnesty im aktuellen Bericht "'Agents of the people': Four years of 'foreign agents' law in Russia".

"Das Gesetz über 'ausländische Agenten' wurde erarbeitet, um kritischen NGOs Ketten anzulegen, sie zu stigmatisieren und sie letztendlich zum Schweigen zu bringen. Viele unterschiedliche NGOs sind betroffen, aber das Gesetz hat auch negative Auswirkungen auf individuelle Rechte und die Qualität der zivilgesellschaftlichen Diskussion. Die Leidtragenden sind letztendlich nicht nur die NGOs, sondern auch die gesamte russische Gesellschaft", sagt Sergei Nikitin, Direktor von Amnesty International in Russland.

Wegen des drakonischen Gesetzes sind die finanziellen Mittel vieler Organisationen immer weiter geschrumpft. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden eingeschüchtert.

Das Ansehen der Organisationen wurde beschädigt.

Vorsätzlichen Angriff auf die Meinungsfreiheit

Der Amnesty-Bericht beleuchtet, welch hohen Preis die russische Gesellschaft zahlt, wenn kritische NGOs gezwungen werden, ihre Arbeit einzustellen, wertvolle Hilfs-und Dienstleistungen eingeschränkt und Kritik an der Regierung so weitreichend zum Schweigen gebracht wird, dass man von einem vorsätzlichen Angriff auf die Meinungsfreiheit sprechen kann.

Denn diese NGOs spielten eine wichtige Rolle beim Schutz der Rechte ganz normaler Bürgerinnen und Bürger. Vielfach leisteten sie Unterstützung auf Gebieten, die von den staatlichen Stellen vernachlässigt werden, zum Beispiel beim Umweltschutz oder bei rechtlichem Beistand oder psychologischer Unterstützung für Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Diese wichtigen Beiträge zum Sozialleben in Russland sind nun untersagt oder gefährdet, weil die betreffenden NGOs entweder schon jetzt auf der Grundlage des Gesetzes von 2012 wegen ihrer "politische Aktivitäten" als "ausländische Agenten" betrachtet werden, oder ihnen eine solche Einordnung droht.

Finanzierungsmöglichkeiten von NGOs drastisch eingeschränkt

Die Möglichkeiten der Finanzierung waren für NGOs in Russland immer begrenzt. Doch angesichts der Dämonisierung von NGOs in den russischen Medien ist die Beschaffung von finanziellen Mitteln jetzt noch schwieriger geworden. Das Gesetz über "ausländische Agenten" hat dafür gesorgt, dass Geldmittel aus dem Ausland - und damit die einzige Alternative für NGOs - eine sehr unsichere Finanzquelle geworden sind: Sie können sowohl erhebliche Risiken für das Ansehen der Organisation als auch strafrechtliche Konsequenzen mit sich bringen.

"Es ist mehr als deutlich, dass es das Hauptziel der russischen Behörden war und ist, das Anwachsen einer kritisch eingestellten Zivilgesellschaft zu unterbinden und sie durch unterwürfige, abhängige Unterstützer der Regierungspolitik zu ersetzen. Diese 'Politik der verbrannten Erde' kann nicht im langfristigen Interesse Russlands sein", so Sergei Nikitin.

Der Angriff auf die Organisation "Vereinigung der Frauen vom Don" steht beispielhaft für die anhaltende Verfolgung einer NGO. Sie war eine der ersten Organisationen, die 2014 unter das repressive Gesetz fiel, als das russische Justizministerium die Befugnis erhielt, Organisationen zwangsweise auf seine Liste "ausländischer Agenten" zu setzen. Daraufhin gründeten die Aktivistinnen und Aktivisten eine neue Organisation ("Stiftung der Frauen vom Don"), um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Im Oktober 2015 kam aber auch diese Organisation auf die Liste "ausländischer Agenten". Am 24. Juni wurde Valentina Cherevatenko, die Gründerin und Vorsitzende der NGO, informiert, dass sie jetzt offiziell zur Verdächtigen gemäß Paragraf 330.1 des Strafgesetzbuchs erklärt worden sei. Nach Paragraf 330.1 ist die "systematische Unterlassung von Verpflichtungen, die das Gesetz über Non-Profit-Organisationen mit der Funktion ausländischer Agenten vorschreibt", eine Straftat. Wenn sie schuldig gesprochen wird, drohen Valentina Cherevatenko bis zu zwei Jahre Haft.

Das Gesetz über "ausländische Agenten" muss aufgehoben werden!

Amnesty International fordert die russischen Behörden auf, das Gesetz über "ausländische Agenten" zurückzuziehen und alle willkürlichen Einschränkungen der Arbeit von NGOs aufzuheben.

"Die russischen Behörden sollten souverän genug sein, konstruktive Kritik zivilgesellschaftlicher Gruppen zu akzeptieren, und lernen, mit ihnen zu arbeiten, und nicht gegen sie. Der erste Schritt in diese Richtung ist die Aufhebung des Gesetzes über 'ausländische Agenten' und aller anderen willkürlichen Einschränkungen der Arbeit von NGOs", betont Sergei Nikitin.


Der Bericht "Agents of the people: Four years of 'foreign agents' law in Russia: Consequences for the society" auf Englisch und Russisch als PDF-Datei kann heruntergeladen werden unter:
https://www.amnesty.org/en/documents/eur46/5147/2016/en/

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Quelle:
Mitteilung vom 18. November 2016
https://www.amnesty.de/2016/11/18/vier-jahre-agentengesetz-russland-den-preis-zahlt-die-gesellschaft?destination=startseite
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2016

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