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SÜDAMERIKA/042: Sexuelle Gewalt in Kolumbien (ai journal)


amnesty journal 01/2013 - Das Magazin für die Menschenrechte

Keine gewöhnlichen Verbrechen

Von Jessica Hübschmann und Matthias Schreiber



Sie sind die unsichtbaren Opfer eines nicht enden wollenden Konflikts: Frauen und Mädchen in Kolumbien, bedroht, missbraucht und vergewaltigt von Paramilitärs, Guerrilla-Kämpfern und staatlichen Sicherheitskräften. Ein neuer Bericht von Amnesty International dokumentiert, wie systematisch die Täter dabei vorgehen und wie wenig sie von der Justiz zu befürchten haben.


Die Gemeinde Tumaco liegt im äußersten Südwesten Kolumbiens. Ein tropischer Küstenstrich an der Grenze zu Ecuador. Am 16. März 2012 drangen hier acht Männer, schwer bewaffnet und in Zivil gekleidet, in ein kleines Dorf ein, bewohnt von 24 afrokolumbianischen Familien. Die Angreifer bedrohten Nachbarn, schlugen zu. Bevor die Männer den Tatort verließen, vergewaltigten sie Carla und María(*) und missbrauchten eine 16-Jährige schwer.

Das Department Nariño, in dem auch Tumaco liegt, ist mit am stärksten von dem immer undurchsichtigeren Konflikt im Land zwischen Paramilitärs, Guerrilla, Polizei und Militär betroffen. Dabei gerät die Zivilbevölkerung immer wieder zwischen die Fronten. Massive Übergriffe gegen Frauen und Mädchen sind keine Einzelfälle: Bereits 2008 stellte das kolumbianische Verfassungsgericht fest, dass sexuelle Gewalt als Mittel der Kriegsführung "weitverbreitet" ist und "systematisch" eingesetzt wird - von allen Konfliktparteien.

Wie hoch die Opferzahlen sind, weiß niemand genau. Eine zentrale Datenbank zur Erfassung solcher Verbrechen existiert nicht. Klar ist nur, dass die Anzahl der Übergriffe steigt: Das Nationale Institut für Gerichtsmedizin untersuchte allein 2011 fast 22.600 Verdachtsfälle sexueller Gewalt. Im Jahr 2000 waren es noch rund 12.700. In vier von fünf Fällen waren die Opfer Frauen, etwa 85 Prozent davon unter 18 Jahren. Mehr als 82 Prozent der Opfer erstatteten jedoch gar keine Anzeige.

Carla, María und die übrigen Dorfbewohner wollten Anzeige erstatten: Nachbarn meldeten den Übergriff noch in der Tatnacht bei Polizei und Militär. Hilfe blieb aus. Als ein anderer Dorfbewohner am Morgen die Tat im örtlichen Büro der Generalstaatsanwaltschaft anzeigen wollte, forderte man ihn auf, an einem anderen Tag wiederzukommen. Es sei Samstag, Ruhetag.

Fünf Tage warteten die Dorfbewohner noch auf Behördenvertreter. Aus Angst vor neuen Übergriffen flohen schließlich alle 24 Familien - einige nach Ecuador, andere in die Gemeindehauptstadt San Andrés de Tumaco. Dort versuchte Carla noch am selben Tag ihre Vergewaltigung anzuzeigen. Die Generalstaatsanwaltschaft hörte sie zwar nach Drängen eines Anwalts an. Aber das gerichtsmedizinische Institut weigerte sich, sie oder ihre Kleidung aus der Tatnacht zu untersuchen. Als eine Woche später María Anzeige erstatten wollte, lehnten die Behörden dies ganz ab. Im Mai wurde ihre Klage schließlich doch zugelassen - allerdings ebenfalls ohne gerichtsmedizinische Untersuchung. Und wie Carla erhielt auch sie nie medizinische oder psychosoziale Betreuung. Stattdessen behaupteten die Justizvertreter, nicht Paramilitärs seien für den Übergriff verantwortlich, sondern Zivilisten - "gewöhnliche" Kriminelle.

Behörden in Kolumbien untersuchen bei Sexualverbrechen so gut wie nie, ob sie in Zusammenhang mit dem andauernden Konflikt stehen. Dabei werden bei fast der Hälfte aller von den Konfliktparteien begangenen Sexualdelikte Paramilitärs als Täter vermutet. Ein Fünftel dieser Taten wird den staatlichen Sicherheitskräften zugeschrieben. Offiziell wurde bei nur 72 der 22.600 Verdachtsfälle von 2011 festgestellt, dass die Täter einer Konfliktpartei angehörten. Noch viel seltener aber werden sie verurteilt: Von mehr als 200 Fällen sexueller Gewalt, in denen die Generalstaatsanwaltschaft seit 2008 ermittelt, mündeten bisher nur fünf in Gerichtsverfahren. Vier Täter wurden als Zivilisten und nicht als Kombattanten verurteilt. Ein fünfter, Mitglied einer paramilitärischen Gruppe, kam frei. Und von fast 30.000 offiziell demobilisierten Paramilitärs wurde nur ein einziger für eine Sexualstraftat verurteilt.

Dass auch das Militär die Aufarbeitung solcher Straftaten immer wieder behindert, zeigt der Fall von José Álvaro und seinen drei Kindern Jenni, Jimi und Jefferson. Als der Kleinbauer aus Caño Temblador, einem Dorf in der Gemeinde Tame im Department Arauca, am 14. Oktober 2010 nach Hause kam, fehlte von ihnen jede Spur. Zwei Tage später fanden José Álvaro und Freunde aus dem Dorf ihre Leichen, verscharrt in einem Erdloch, ganz in der Nähe eines Militärlagers. Der Körper der 14-jährigen Jenni zeigte Spuren einer Vergewaltigung. Die Obduktion ergab später, dass an ihrem Leichnam gefundenes Sperma mit DNA-Proben des örtlichen Militärbefehlshabers, Unterleutnant Raúl Muñoz Linares, übereinstimmte. Im anschließenden Prozess versuchten seine Verteidiger die Opferfamilie wiederholt mit Behauptungen zu diskreditieren, diese stehe in Verbindung zur Guerrilla-Gruppe FARC und Jenni habe ein Verhältnis mit einem ihrer Kämpfer unterhalten. Ständige Wechsel der Anwälte des Unterleutnants verzögerten außerdem immer wieder das Verfahren. Als die Vorsitzende Richterin ankündigte, diese untersuchen zu wollen, wurde sie erschossen. Fast zeitgleich erhielten auch José Álvaro und seine älteste Tochter Morddrohungen. Sie flohen schließlich aus Angst um ihr Leben aus Tame.

Viele Überlebende sexueller Gewalt schweigen nicht nur aus Scham, aus Furcht vor Stigmatisierung oder aus Angst vor den Tätern, sondern weil sie Behörden und Justiz misstrauen. Fehlende Mittel, schlechte Ausbildung, mangelnder Aufklärungswille, Bürokratie und Korruption sind nur einige der Gründe, warum die Behörden Sexualstraftäter so oft gewähren lassen. Auch die Gesetze begünstigen das Klima fast totaler Straffreiheit: Das nationale Strafgesetzbuch lässt bisher nur zu, Sexualdelikte als "gewöhnliche" Vergehen zu verfolgen - jedoch nicht als Kriegsverbrechen im Kontext des Konfliktes oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Deshalb werden Streitkräfte, denen Sexualstraftaten vorgeworfen werden, oft an nicht unabhängige Militärgerichte überstellt. Denn diesen ist gestattet, alle "gewöhnlichen", von Militärs begangenen Vergehen zu bearbeiten.

Am 27. August 2012 wurde Raúl Muñoz Linares in einem überraschenden und seltenen Urteil von einem Zivilgericht für schuldig befunden. Er erhielt wegen Vergewaltigung und dreifachen Mordes 60 Jahre Haft. Ebenfalls im August reichten die Abgeordneten Ángela Robledo und Iván Cepeda einen Gesetzentwurf im kolumbianischen Kongress ein, der die Verfolgung sexueller Gewalttaten als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit möglich machen soll. Doch so wichtig dieser Schritt ist: Straffreiheit war in Kolumbien noch nie eine Frage guter Gesetze. Nur deren Umsetzung durch die Behörden und die Gesellschaft kann Gerechtigkeit wirklich ermöglichen.

(*) Namen geändert

Die Autoren sind Mitglieder der Kolumbien-Koordinationsgruppe. Weitere Informationen unter www.amnesty-kolumbien.de

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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2012/Januar 2013, S. 52-53
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2013