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AKTION/169: Bündnis 90/Die Grünen - Kurswechsel in der Afghanistan-Politik!


Presseerklärung vom 15. September 2007

Menschenrechte sichern:

Afghanistan-Engagement muss glaubwürdiger werden!


Während einer Mahnwache vor dem Sonderparteitag von Bündnis 90/Die Grünen hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am Samstag in Göttingen eine Kurskorrektur beim Afghanistan-Engagement Deutschlands gefordert. Die Menschenrechtler appellierten in einem offenen Brief, auf Transparenten und Schildern mit Porträts der an der afghanischen Regierung beteiligten Warlords an die anreisenden Delegierten, für eine Fortsetzung des ISAF-Einsatz zu stimmen, um den Wiederaufbau nicht zu gefährden. Es müsse jedoch unbedingt dafür gesorgt werden, dass mutmaßliche Kriegsverbrecher aus ihren Ämtern entfernt, Sicherheitskräfte besser ausgebildet, Korruption und Vetternwirtschaft unterbunden werden und die Zivilbevölkerung vor zunehmender Gewalt geschützt wird. Im Vordergrund des ISAF-Einsatzes müssten der Schutz der Menschenrechte und der Aufbau eines glaubwürdigen Rechtsstaates in Afghanistan stehen.


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Der offene Brief im Wortlaut:

OFFENER BRIEF
an die Delegierten des Sonderparteitages von Bündnis 90/Die Grünen in Göttingen


Liebe Delegierte des Sonderparteitages von Bündnis 90/Die Grünen,

sechs Jahre nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan sind die ISAF-Soldaten soweit von der Erfüllung ihres Auftrages entfernt wie nie zuvor. Ursprünglich sollten sie dabei helfen, während des Aufbaus eines neuen demokratischen Rechtsstaates Sicherheit zu gewährleisten. Doch Afghanistan versinkt heute in Willkür und Gewalt. Auch eine schlagkräftige afghanische Armee, der die ISAF helfen könnte, die junge Demokratie zu schützen, gibt es nicht.

Afghanistans Zivilbevölkerung leidet immer mehr unter der Gewalteskalation. Angriffe der Taliban auf Schulen, Selbstmordattentate und Entführungen lösen nach 30 Jahren Krieg und Verwüstung große Ängste aus. Die hohe Zahl ziviler Opfer der NATO-Luftangriffe verbittert viele Menschen. Auch in Sachen Aufbau eines demokratischen Staates sind noch viele Fragen offen. Denn noch haben in Kabuls Regierung und Verwaltung einige Warlords entscheidenden Einfluss, die u.a. für Massentötungen von Zivilisten verantwortlich sind. Zwar dürfen sich Frauen wieder freier in der Öffentlichkeit bewegen und vielen Mädchen wurde der Schulbesuch ermöglicht, doch Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen sind noch immer alltäglich. Statt die Bevölkerung zu schützen, sind Polizisten oft selbst in Raubüberfälle und Entführungen verwickelt. Korruption, Vetternwirtschaft und mangelnde Kontrolle behindern den Aufbau eines glaubwürdigen Sicherheitsapparates.

Außerhalb Kabuls kommt der Wiederaufbau nur schleppend voran. Zwar gibt es viele neue Schulen, doch die meisten Menschen leben noch immer in tiefer Armut und leiden unter der Willkür von Warlords. Oft fehlt es an Zugang zu frischem Wasser, Land und Arbeit. Hunderttausende abgeschobene Flüchtlinge stehen in Afghanistan nach ihrer Rückkehr nun vor dem Nichts. Ihre Heimkehr schürt Landrechtskonflikte. So wurden zum Beispiel im Juni 2007 mehr als 4.000 Hazara vertrieben, weil Kuchi-Nomaden ihr Land beanspruchten.

Ohne Sicherheit gibt es keinen Wiederaufbau. Ohne Wiederaufbau werden Krieg und Gewalt eskalieren. Daher muss der ISAF-Einsatz fortgeführt werden. Auch der UN-Sondergesandte für Afghanistan, Joschka Fischers Weggefährte Tom Koenigs, warnt vor den unabsehbaren Folgen eines ISAF-Abzugs. Doch eine Kurskorrektur ist notwendig, um dieses Engagement glaubwürdiger zu machen. So kann nicht akzeptiert werden, dass ein Gouverneur in Kundus unter den Augen der Bundeswehr die Entführung eines Mädchens durch einen Warlord deckt. Warlords müssen für ihre Verbrechen vor Gericht zur Rechenschaft gezogen und aus offiziellen Ämtern entfernt werden. Menschenrechte und der Aufbau eines glaubwürdigen Rechtsstaates müssen von der internationalen Gemeinschaft mehr gefördert werden. Der Stärkung der Zivilgesellschaft und einer guten Regierungsführung muss besonderer Vorrang gegeben werden, damit Bürgerrechtler nicht mehr willkürlich eingeschüchtert werden können. Der Schutz der Frauen muss verbessert und ihre in der Verfassung garantierten Rechte müssen endlich durchgesetzt werden. Korruption und Vetternwirtschaft müssen gezielt bekämpft werden. Der Aufbau einer glaubwürdigen Armee und Polizei muss nicht nur vorangetrieben werden. Aufgrund des bisherigen Missbrauchs müssen die Sicherheitskräfte auch besser ausgebildet und überwacht werden. Der Wiederaufbau muss besser koordiniert und in die Hände von Afghanen gelegt werden, um eine wirksamere Verwendung der Gelder sicherzustellen. Auch sollte das Gespräch mit gemäßigten Taliban und Stammesältesten gesucht werden, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern.

Beim Einsatz ausländischer Soldaten wird schon lange nicht mehr zwischen ISAF und dem Antiterror-Einsatz Operation Enduring Freedom (OEF) unterschieden. Daher macht es wenig Sinn, nur das ISAF-Mandat zu verlängern und dem OEF die Zustimmung zu verweigern. Wichtig ist jedoch, dass es auch bei OEF ein Umdenken gibt und Menschenrechte mehr Bedeutung bekommen. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss absoluten Vorrang haben, da ansonsten jeder Militär-Einsatz unglaubwürdig wird. Dies gilt besonders für den Tornado-Einsatz, es darf keine weiteren Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung geben, da sie einen Kreislauf der Gewalt anheizen und das gesamte Afghanistan-Engagement kompromittieren. Das rücksichtslose Bombardement der Zivilbevölkerung gefährdet nicht nur die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft und den Wiederaufbau, sondern letztlich auch die Sicherheit deutscher Soldaten.

Mit freundlichen Grüßen

Tilman Zülch
Generalsekretär


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen vom 15. September 2007
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
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E-Mail: info@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2007