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AKTION/215: Offener Brief an Wulff - Geben Sie Flüchtlingskindern eine Chance


Presseerklärung vom 7. Oktober 2010

OFFENER BRIEF der Gesellschaft für bedrohte Völker an
Bundespräsident Christian Wulff

Danke für späte Einsicht! Bitte geben Sie nun auch Flüchtlingskindern eine Chance!


Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

für Ihre in die Zukunft weisende Erklärung zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung möchten wir Ihnen herzlich danken. Sie haben den Slogan der DDR-Bürgerrechtsbewegung "Wir sind ein Volk" aufgenommen und erklärt, dass Sie Präsident von allen jenen werden wollen, "die erst seit kurzem hier leben, und denen, die schon so lange einheimisch sind, dass manche vergessen haben, dass auch ihre Vorfahren von auswärts kamen". Auch viele unserer Mitglieder und Förderer kamen als Flüchtlinge oder Vertriebene aus dem alten Ostdeutschland oder stammen von diesen ab.

Leider kommt Ihre Einsicht aber für viele der langjährig in Deutschland geduldeten Flüchtlinge, meist Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, zu spät. Die niedersächsische Landesregierung des Ministerpräsidenten Christian Wulff hat immer wieder gnadenlos Flüchtlinge mit ihren Kindern, die hier geboren und deren Eltern oder Großeltern seit acht, zehn oder zwanzig Jahren unter uns lebten, abgeschoben. Dabei sprachen diese Flüchtlingskinder und Jugendlichen Deutsch oft mit regionalem Akzent, waren längst ethnisch und kulturell Deutsche geworden. Ihre Eltern flüchteten nach Deutschland meist aus Kriegs-, Vertreibungs-, Genozid- oder anderen Verfolgungssituationen.

Unter den Abgeschobenen waren Roma, Aschkali und Egipcani aus dem Kosovo, verfolgte Kurden, Bahá 'i, Yeziden, christliche Assyrer-Chaldäer-Aramäer und Armenier, Aleviten oder Mandäer aus dem Nahen Osten, Vietnamesen, Tschetschenen aus der Russischen Föderation oder Afghanen, die den Taliban oder zuvor der sowjetischen Armee entkommen sind.

Wir haben uns immer geschämt, dass auch Ihre Landesregierung diese Flüchtlinge zu Ausgestoßenen gemacht hat. Sie wurden von deutschen Gerichten verurteilt, wenn sie die Kreisgrenzen überschritten hatten. Sie durften jahrelang nicht arbeiten und lange Zeit nicht einmal eine berufliche Ausbildung absolvieren, geschweige denn studieren. Viele dieser Kinder und Jugendlichen wurden bereits, meist ohne Kenntnis der Sprache des "Aufnahmelandes, so "ins Nichts" abgeschoben.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie haben diese Abschiebungen auch bei Nacht und Nebel immer gedeckt, fühlten sich für Proteste niedersächsischer Bürger und unserer Menschenrechtsorganisation nie zuständig. Väter wurden von Müttern getrennt, Eltern von ihren Kindern, Kinder von ihren Geschwistern, selbst Schwerstkranke, Schwangere, Alte und traumatisierte Kriegsopfer wurden so "deportiert".

Verehrter Herr Bundespräsident, Ihre Einsicht, dass Sie auch Präsident dieser Flüchtlingskinder und ihrer Angehörigen sein wollen, bewegt uns sehr. Sorgen Sie bitte dafür, dass diese Menschen endlich in ihrer Heimat - Deutschland - bleiben dürfen und dann wie zuvor die Russlanddeutschen und jüdischen Aussiedler schnell eingebürgert werden. Machen Sie bitte Ihren Einfluss geltend. Übrigens braucht unser kinderarmes Land diese Kinder!

Mit herzlichem Gruß

Tilman Zülch
Bundesvorsitzender

Mitunterzeichner:
Prof. Dr. Christian Schwarz-Schilling und
Prof. Dr. Ernst Tugendhat, GfbV-Beiratsmitglieder


PS: Mit getrennter Post übersenden wir Ihnen nur einen dieser traurigen Fälle in Deutschland "verfolgter" Flüchtlinge. Es handelt sich um die beiden Roma -"Kinder" Jetmir (19) und Ramadan (23). Beide sind vor 19 Jahren zu uns gekommen und befinden sich seit drei Monaten im Kirchenasyl. Ramadan könnte in Salzgitter eine Ausbildung als Heizungstechniker antreten. Jetmir möchte im kommenden Jahr seinen Realschulabschluss machen und könnte sofort danach eine Ausbildung beginnen. Wir hoffen, dass Ihr Wort in Hannover so schwer wiegt, dass Sie diesen jungen Menschen eine Chance geben können.


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 7. Oktober 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2010